Sechstes Kapitel
Uri
Als Ludmilla aufwachte, war es noch früh am Morgen. Es war Sonntag, und eigentlich hätte sie ausschlafen können. Aber sie konnte nicht mehr schlafen. Ihre Gedanken kreisten um den Spiegel und die Erlebnisse der letzten Nacht.
Die Bibliothek hatte am Sonntag geschlossen, und ihre Internetrecherchen auf ihrem Handy ergaben keinen einzigen Treffer. Sie brachte den ganzen Tag damit zu, sich den Kopf zu zerbrechen, wie sie sich das alles am besten erklären könnte. Die Zeichnungen von den Verzierungen auf dem Spiegel, die sie angefertigt hatte, halfen auch nicht weiter. Das, was sie erlebt hatte, und diesen Spiegel gab es schlichtweg nicht.
Eigentlich auch logisch, dachte sich Ludmilla am Ende dieses sehr langen Tages. Sie war zu dem Schluss gekommen, dass sie niemandem davon erzählen konnte. Niemand würde ihr glauben. Jeder würde sie für verrückt halten. Aber Mina auch? Während des Abendessens beobachtete sie sie verstohlen. Wie viel wusste Mina über diesen Spiegel und die Welt, die in dem Spiegel oder hinter dem Spiegel steckte? Hatte sie vielleicht mit jemandem geredet, der aus dieser Welt kam? Der nun auch mit Ludmilla reden wollte? Irgendeinen Zusammenhang mit dem Spiegel musste der Streit zwischen Mina und diesem Uri doch haben.
Als sie ins Bett ging, stand ihr Entschluss fest. Sie konnte das nicht auf sich beruhen lassen. Sie hatte zu viele Fragen. Panik und Angst würde sie hinunterschlucken müssen und der Aufforderung
folgen. Und genauso kam es: Irgendwann nach Mitternacht betrat Ludmilla das Zimmer. Es dauerte keine Minute, und der Spiegel fing an zu leuchten. Sie zögerte kurz, bevor sie vorsichtig das Spiegelglas berührte, und sah ihre Hand verschwinden.
Ludmilla landete auf dem weichen, warmen Höhlenboden. Sie rieb sich die Augen und sprang auf. Dieses Mal war sie besser ausgerüstet. Sie hatte ihre Jeans über ihre Schlafsachen angezogen. Außerdem hatte sie Turnschuhe an. Und dieses Mal war sie nicht allein in dem Raum: An der Feuerstelle saß ein merkwürdig aussehender, uralter Mann.
Er blickte zu ihr hinüber und winkte freundlich. »Ludmilla! Wie schön! Komm her, setz dich zu mir!« Wieso kannte er ihren Namen? Ludmilla schüttelte verständnislos den Kopf und lief mit langsamen Schritten auf die Feuerstelle zu. Nervös sah sie sich um und versuchte gleichzeitig, den Mann nicht aus den Augen zu lassen. Waren sie allein?
Der Mann stand auf. Er war nicht größer als ein Kind, hatte schlohweißes, gewelltes Haar, unendlich viele Falten im Gesicht und gebräunte Haut. Auf seiner kleinen Nase saß eine Nickelbrille mit einem sehr feinen Drahtgestell. Er war sehnig, und seine Bewegungen waren fließend. Sein schmaler Körper steckte in einem Gewand aus hellem Leinenstoff. Es bestand aus einem Hemd mit Stehkragen, das bis zum letzten Knopf zugeknöpft war, und einer schmal geschnittenen Hose, die bis zu den Knöcheln reichte. Seine nackten Füße trugen helle Ledermokassins.
Er kam ein paar Schritte auf Ludmilla zu und breitete seine Arme aus, als wollte er sie umarmen. Dabei machte er eine einladende Bewegung hin zur Feuerstelle.
»Komm, setz dich zu mir.« Er strahlte sie an. »Du musst viele Fragen haben.«
Ludmilla nickte zustimmend. Dennoch zögerte sie.
»Ich steh lieber erst mal«, sagte sie störrisch. »Was ist das alles hier?«
Das Männchen lächelte breit und freundlich
.
»Und wo
bin ich?«, fragte Ludmilla weiter.
Er lächelte weiter. Seine goldschimmernden kleinen Augen blitzten. Offenbar hatte er Spaß an der Situation. Das machte Ludmilla plötzlich wütend.
»Ich finde das überhaupt nicht komisch!«, zischte sie ihn an und schob ihren Kopf nach vorn. »Ich werde durch dieses Ding«, sie zeigte mit dem Finger auf den Spiegel, »durch das … das halbe Universum geschleudert …« Sie stammelte. Das Männchen brachte sie aus dem Konzept. »… und lande in einer völlig anderen Welt. Dabei bin ich noch nicht einmal gefragt worden. Und dieses Fratzen-Engelsgesicht ist auch nicht gerade vertrauenerweckend. Und mit eurem Singsang im Haus weckt ihr zum einen meine Großmutter auf, und zum anderen ist das wie in einem schlechten Film.« Sie schnaubte.
Das Männchen wiederholte seine einladende Bewegung. »Ich beantworte dir gern alle Fragen, Ludmilla. Ich kann verstehen, dass du verärgert und verwirrt bist. Dass das alles nicht sehr vertrauenerweckend ist, das gebe ich zu. Aber willst du dich nicht setzen? Deine Fragen zu beantworten kann ein bisschen dauern.«
Ludmilla blieb mit versteinerter Miene stehen. »Das kann ich mir denken«, erwiderte sie verbissen. »Aber was ich als Erstes wissen möchte«, sie holte tief Luft, »und dazu brauche ich nicht zu sitzen, ist: Warum war keiner hier, als ich letzte Nacht hier gelandet bin? Ich wurde gerufen und eingeladen, den Spiegel zu benutzen. Und dann lande ich in dieser völlig irrsinnigen Welt hinter diesem Spiegel und bin komplett allein«, sprudelte es aus ihr heraus. »Das war ziemlich beängstigend für mich und alles andere als einladend. Eigentlich ist gar nichts«, sie spuckte die letzten Worte buchstäblich vor die Füße des Männchens, »von all dem hier vertrauenerweckend. Warum werde ich gerufen? Warum bin ich hier? Und wo bin ich hier? Und, fangen wir doch mal von vorn an: Wer oder was bist du? Denn meinen Namen kennst du ja offenbar schon.«
Das Männchen lächelte sie geduldig an. »Ich kann deine
Aufregung verstehen, und bitte verzeih, dass ich letzte Nacht nicht hier war. Ich war leider«, er stockte kurz, als suchte er nach dem richtigen Wort, »verhindert.«
Ludmilla sah ihn skeptisch an. Eine freche Antwort lag ihr schon auf den Lippen, als das Männchen fortfuhr: »Ich bin Uri, und ich freue mich sehr, dich kennenzulernen.«
Uri streckte Ludmilla die Hand entgegen. Er hatte lange dünne Finger, und seine Fingernägel leuchteten leicht golden. Bei näherem Hinsehen schien fast alles an ihm golden zu leuchten. Seine Augen, seine Haut und selbst seine Haare hatten einen goldenen Schimmer.
Ludmilla wich einen Schritt zurück. »Du bist also Uri!«, brach es aus ihr heraus. »Du hast dich mit meiner Großmutter gestritten.« Sie schnaubte. »Ich wusste es. Du bist durch dieses Ding gereist und hast dich mit meiner Mina gestritten. Und wegen dir hat sie so schlecht über mich geredet!«, herrschte sie ihn an.
Uri aber blieb ruhig und lächelte weiter. »Genauso war es. Und du hast uns belauscht.« Er blickte in Ludmillas erstauntes Gesicht.
»Natürlich habe ich das. Das war jetzt auch nicht schwer zu erraten!«, blaffte sie ihn weiter an. Gleichzeitig biss sie sich auf die Unterlippe, da sie merkte, dass sie mit ihrer Reaktion zu weit gegangen war. Sie wollte Antworten auf ihre Fragen, und die bekam sie nicht, wenn sie ihn so anfuhr.
»Mina hat nicht übertrieben. Du bist frech und auch ein wenig respektlos.« Uri wiegte seinen kleinen Kopf hin und her und grinste sie breit an. »Ich kann dich gut verstehen. Ich kann nachvollziehen, dass du aufgebracht bist. Das alles«, er deutete mit seiner ausgestreckten Hand in den Raum hinein, »ist sicherlich sehr beängstigend für dich. Aber gib mir eine Chance, dir alles zu erklären. Was meinst du? Wollen wir uns jetzt in Ruhe unterhalten?«
Ludmilla funkelte ihn verbissen an. Sie war hin- und hergerissen. Diese Welt faszinierte sie. Aber so, wie Mina sich aufgeregt hatte, führte dieser Uri nichts Gutes im Schilde. Sie presste die Lippen aufeinander
.
»Also gut!«, zischte sie dann.
Uri hob die Augenbrauen, so dass seine Stirn noch mehr Falten bekam. Die Brille rutschte die Nase hinunter, und seine goldschimmernden Augen blitzten.
Er zögerte, bevor er fortfuhr: »Gut.« Seine Stimme klang immer noch freundlich und warm. Aber sein Gesichtsausdruck hatte sich verändert. Er wirkte angestrengt und beherrscht. Er baute sich vor Ludmilla auf. Das sah etwas merkwürdig aus, denn er war sehr zierlich und mindestens zwei Köpfe kleiner als Ludmilla. Seine weißen Haare fielen in leichten Wellen in seinen Nacken, während er zu ihr hinaufschaute. »Fangen wir mal mit der Frage an, wo du hier bist.«
Ludmilla hob an, ihn erneut zu unterbrechen, beherrschte sich dann aber und schwieg. Sie blitzte ihn böse an, so dass Uri ihr einen irritierten Blick zuwarf, bevor er feierlich erklärte: »Du bist hier in einer Welt, die Eldrid heißt. Eldrid, die Welt des Lichts.« Er machte eine Pause, so als wollte er dieser Aussage noch mehr Nachdruck verleihen. »Das hier ist eine Welt, die sich von deiner Menschenwelt unterscheidet. Hier leben nur sehr wenige Menschen. Vielmehr leben hier Wesen mit Mächten.« Uri wartete kurz auf eine Reaktion.
Ludmilla setzte ihr Pokerface auf und regte sich nicht.
»Mit Mächten
meine ich Zauberkräfte und Fähigkeiten, Ludmilla«, erklärte er weiter und sah sie erwartungsvoll an. Aber sie zeigte keinerlei Verwunderung.
Uri schnaufte enerviert, hob leicht die Schultern und zwang sich zu einem Lächeln. »Hier leben Wesen, die du wahrscheinlich aus Märchen und Fabeln kennst. Wesen wie Feen und Elfen und Hexen und Zauberer. Und Wesen, von denen du wahrscheinlich noch nie gelesen oder gehört hast.«
Ludmilla hob spöttisch die Augenbrauen.
Uri konnte ihre Zweifel kaum übersehen und fügte schnell hinzu: »Wenn du möchtest, kannst du bald einige dieser Wesen kennenlernen. Dann wirst du es glauben.
«
Warum gab er sich solche Mühe? Und warum konnte sie es nicht lassen, so herablassend zu sein? Sie war hier in einer Welt, die sie nicht kannte, von der sie nicht wusste, was es für eine Welt und wo sie überhaupt war. Sie hatte so viele Fragen, die ihr Uri bestimmt beantworten könnte. Doch sie konnte nicht anders. Das war unklug von ihr, das wusste sie, und dennoch verzog sie ihren Mund zu einem höhnischen Grinsen.
»Sicher doch«, erwiderte sie unverschämt. Gleichzeitig verkrampfte sie sich, weil sie sich am liebsten auf den Mund geschlagen hätte. Jetzt war sie eindeutig zu weit gegangen. Was war nur los mit ihr?
Uri blickte sie irritiert an und rang einen Moment um Fassung. Er zitterte leicht, als er fortfuhr: »Eldrid ist mit deiner Menschenwelt durch Spiegel verbunden. Die Spiegel dienen als Portal zwischen den beiden Welten. Menschen können nach Eldrid reisen, und die Wesen von Eldrid können in die Menschenwelt reisen. Einer dieser Spiegel steht bei deiner Großmutter im Haus. Ich bin ein Spiegelwächter und bewache diesen Spiegel oder, wie du sagst, dieses Ding
.«
Ludmilla musste unwillkürlich schmunzeln.
Uri sah sie verhalten an, seine Stimme wurde milder. »Dieser Spiegel hat sehr viel Macht und muss mit Bedacht benutzt werden. Er ist kein Spielzeug! Für die Wesen, die hier in Eldrid leben, ist eure Menschenwelt nicht sehr interessant«, fuhr er fort. »Aber für euch Menschen ist unsere Welt dafür umso spannender. Und gerade deshalb muss dafür gesorgt werden, dass nicht zu viele Menschen in unsere Welt kommen. Ihr Menschen bringt unsere Welt aus dem Gleichgewicht. Ihr habt Eigenschaften, die uns fremd sind. Und wir haben Fähigkeiten, die ihr gern hättet oder von denen ihr träumt, sie zu haben. Das ist auch ein Grund, warum die Wesen von Eldrid sich nicht zu eurer Menschenwelt hingezogen fühlen. Sie haben hier ihr Zuhause gefunden und leben seit mehreren Hunderten von Jahren in Ruhe und Frieden in Eldrid.«
Uri wandte sich von Ludmilla ab und ging auf die Feuerstelle
zu, wo er sich hinsetzte. Er starrte in das Feuer, und als er wieder zu sprechen begann, hallte seine Stimme in der Höhle wider: »Es gibt ein paar Dinge, die für dich essenziell sind, wenn du dich hier in Eldrid bewegst. Hier gelten andere Regeln als in deiner Menschenwelt. Und das nicht nur, weil es hier Wesen gibt, die es in deiner Welt nicht gibt. Alle Wesen, die in Eldrid leben, haben eine Macht oder, um es anders auszudrücken, eine Zauberkraft. Das macht Eldrid so besonders und für euch Menschen so fabelhaft. Eldrid ist eine wunderschöne Welt mit einzigartigen Wesen, die wiederum einzigartige Fähigkeiten haben. Ihre Fähigkeiten sind mit ihren Schatten verbunden. Das heißt, dass auch der Schatten diese Macht hat. Die Wesen von Eldrid müssen daher gut auf ihren Schatten aufpassen, da er ihnen auch …« Uri zögerte, als suchte er nach dem richtigen Wort. »… abhandenkommen kann.«
»Wie bitte?«, fragte Ludmilla kritisch. Sie war langsam näher gekommen und setzte sich neben Uri. Uris goldschimmernde Augen blitzten. Gleichzeitig hatte Ludmilla den Eindruck, als wäre die Farbe seiner Augen dunkler geworden.
»Schatten können gestohlen werden«, sagte Uri bitter.
Ludmilla sah ihn verständnislos an. »Du meinst wohl, dass diese Mächte gestohlen werden können«, sagte sie belehrend, und ohne Uri zu Wort kommen zu lassen, sprudelte es aus ihr heraus: »Ein Schatten kann nicht gestohlen werden. Das hat etwas mit Licht zu tun. Wo kein Licht, da kein Schatten. Aber wo Licht, da auch immer ein Schatten. Das ist ein ganz einfaches physikalisches Gesetz.«
Uri nickte und schüttelte gleichzeitig den Kopf. »Aber nicht hier in Eldrid.«
Ludmilla runzelte die Stirn. »Wie?!«
Uris Miene verdüsterte sich weiter. »Eldrid ist eine Welt des Lichts. Das Licht hier ist ein ganz besonderes. Es ist unser Lebenselixier. Hinzu kommt, dass wir Mächte haben und diese Mächte mit dem verbunden sind, was uns am wichtigsten ist: dem Licht und damit auch mit unserem Schatten. Wie du richtig sagst: Wo
es Licht gibt, gibt es Schatten. Wir sind hier aber in einer Welt, in der eure physikalischen Gesetze nicht gelten. Dazu gehört, dass unsere Schatten mit unseren Mächten verbunden sind. Jedes Wesen hat mindestens eine Macht und einen Schatten. Der Schatten des Wesens besitzt die Macht genauso wie das Wesen selbst. Es ist also kein Schatten, wie er in eurer Welt existiert. Und wenn hier in Eldrid etwas Bösartiges passiert, dann genau dann, wenn ein Schatten gestohlen wird. Und ich meine: der Schatten
, nicht die Macht. Denn mit dem Schatten wird auch die Macht gestohlen. Das Wesen ist dann machtlos und schattenlos. Eine Schmach in Eldrid!«
Uri machte eine kleine Pause und starrte ins Feuer. Dann sah er Ludmilla an und setzte ein müdes, gequältes Lächeln auf. Ludmilla schwieg betroffen.
»Sterben die Wesen, wenn sie ihre Schatten und damit auch ihre Mächte verlieren?«, fragte sie nach einer Weile leise. »Und was passiert mit den Schatten, die dann die Macht für sich haben?«
»Das ist eine gute Frage, die alles auf den Punkt bringt«, entgegnete Uri überrascht. »Zunächst einmal: Nein, die Wesen, die ihre Schatten und ihre Mächte verlieren, sterben nicht. Aber sie werden zu sogenannten schattenlosen Wesen und verbannen sich selbst an einen sehr dunklen Ort von Eldrid. Es ist grausam. Aber sie tun es aus Schmach vor den Wesen, die ihren Schatten nicht verloren haben.«
Uri atmete schwer ein und aus. Sein Gesicht verdunkelte sich, während er weitersprach: »Der Schatten, der dann keinen Herrn mehr hat, aber eine Macht, der wird zu seinem neuen Herrn gerufen. Zu seinem Dieb! Denn das Wesen, das einen Schatten stiehlt, stiehlt diesen nur, um sich die Macht anzueignen.«
»Das geht?«, unterbrach ihn Ludmilla erstaunt. »Die Macht kann von dem Schatten getrennt werden?«
Uri warf ihr einen irritierten Blick zu. »Auch dies ist eine gute Frage, die genau den Kern trifft. Ja, genauso ist es. Der Dieb des Schattens spricht einen Zauber, der den Schatten von seiner Macht
trennt. Der Dieb kann sich die Macht aneignen, und der Schatten ist für ihn nutzlos.«
»Und was passiert mit dem Schatten? Der scheint doch auch in irgendeiner Form lebendig zu sein, oder ist er ohne die Macht nur noch eine Hülle?«, fragte Ludmilla übereifrig. Sie hatte begriffen, dass dieses Thema heikel war, aber Uri hatte ihr klargemacht, dass sie diese Welt verstehen musste, und sie wollte sichergehen, dass sie alles richtig verstand.
Stirnrunzelnd funkelte er sie an. »Hat Mina mit dir bereits über Eldrid und Zamir gesprochen?«, fragte er streng.
»Nein«, erwiderte sie verwundert. Sie schüttelte entschieden den Kopf. »Was hat Mina damit zu tun, und wer ist Zamir?«
Uri durchbohrte sie regelrecht mit seinen dunkelgold schimmernden Augen und schwieg. Ludmilla wurde unruhig und wandte den Blick ab.
Schließlich sagte sie: »So, wie du reagierst, ist Zamir der Bösewicht, der die Schatten stiehlt und sich die Mächte aneignet.« Sie schielte vorsichtig zu Uri.
»Woher …«, stotterte Uri fassungslos. »Wie kannst du das alles wissen, wenn du davon noch nie gehört hast?«
Sie hob die Schultern. »Dann habe ich recht?«
Uri nickte, immer noch sichtlich irritiert. »Ja, aber, Ludmilla«, er sah sie eindringlich an, und kleine goldene Funken sprangen aus seinen Augen, »das ist kein Spiel! Wir sind hier in Eldrid, und das ist eine magische Welt, in der es auch gefährliche Wesen gibt. Was Zamir, den Dieb der Schatten, anbelangt, so ist er ein ehemaliger Spiegelwächter und damit eines der mächtigsten Wesen in Eldrid. Er hat früher einen Spiegel bewacht, so wie ich. Doch dann hat er sich vom Licht unserer Welt abgewandt. Er hat sich der Dunkelheit verschrieben und versucht, unsere Welt in Dunkelheit zu hüllen. Dazu stiehlt er Schatten, eignet sich ihre Mächte an und schickt dann die Schatten an den Himmel. Die gestohlenen Schatten bilden eine mächtige Wolke, die einen Teil von Eldrid bereits verdunkelt hat. Und sein Werk ist noch nicht
vollendet. Er hat Verbündete gesammelt und wird erst ruhen, wenn Eldrid im Dunkeln versinkt. Die Wesen von Eldrid können aber ohne ihr Licht nicht existieren. Wir benötigen unser Licht, und deshalb befinden wir uns seit einigen Jahren im Kampf gegen die Dunkelheit.«
Uri atmete schwer auf, als trüge er eine schwere Last. »Kampf ist jedoch etwas, was es hier in Eldrid noch nie zuvor gab. Das war immer eine friedfertige Welt. In Eldrid lebten die Wesen gemeinsam in Respekt und Verständnis füreinander. Wir bekämpften uns nicht, wir töteten uns nicht gegenseitig. Das gab
es in Eldrid nicht. Jetzt«, er zog die Stirn in Falten, als hätte er Schmerzen, »versuchen wir, Schadensbegrenzung zu betreiben, aber es gelingt uns nicht so, wie wir uns das vorstellen.«
Er sog die Luft ein und schlug sich mit beiden Händen auf die Oberschenkel, so dass kleine goldene Funken von seinen Händen sprühten. Ein verkrampftes Lächeln umspielte seinen Mund, während er Ludmilla prüfend ansah.
Ludmilla nutzte die Atempause, um die Frage zu stellen, die sie am meisten beschäftigte: »Und was hat das alles mit meiner Großmutter zu tun? Warum habt ihr euch gestritten? Worum ging es dabei? Und wieso hast du mich jetzt gerufen?«
Uri lächelte müde. »Ich wollte mich nicht mit deiner Großmutter streiten, Ludmilla. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass sie sich so aufregt«, erklärte er leise. Verzweiflung lag in seiner Stimme. »Es tut mir leid, dass es überhaupt so weit gekommen ist. Leider befinden wir uns in einer Notsituation, und wir benötigen dringend deine Hilfe.«
»Was hat das mit mir zu tun? Was kann ich schon tun?«, fragte sie ihn verständnislos.
Uri schüttelte den Kopf. »Die Zeit drängt. Mehr kann ich dir heute leider nicht erklären. Dafür musst du wiederkommen. Ich zeige dir gern Eldrid, aber den Teil, der mit Licht durchflutet ist.«
Bevor Ludmilla ihn unterbrechen konnte, sah er sie eindringlich an. »Einen Teil des dunklen Teils von Eldrid hast du bereits
gesehen. Fenris. Von diesem Teil musst du dich fernhalten. Er ist sehr gefährlich. Vor allem für Menschen wie dich, die keine Mächte haben. Aber auch der helle Teil von Eldrid birgt Gefahren. Deshalb solltest du nicht allein auf Erkundungstour gehen. Dein letzter Ausflug war grenzwertig. Ich habe leider so viel zu tun, die Wesen davor zu bewahren, ihre Schatten zu verlieren, dass ich nicht ständig beim Spiegel und in meiner Höhle sein kann. Du darfst den Spiegel benutzen, nur erkunde Eldrid nicht allein. Warte auf mein Rufen, und ich werde dir Begleitung schicken. Nur für den Fall, dass ich verhindert bin. Du wirst sehen, es wird dir gefallen.« Uri lächelte Ludmilla breit an. Aber sie meinte darin etwas Künstliches zu erkennen.
»Und nun«, er stand auf, »ist es Zeit, dass du wieder nach Hause gehst.« Mit seiner rechten Hand machte er eine kleine Bewegung, seine Fingernägel fingen an, golden zu leuchten, und Ludmilla wurde auf ihre Füße gehoben. Uri ließ sie rückwärts knapp über dem Boden in Richtung des Spiegels schweben. Ludmilla unterdrückte einen Aufschrei. Uris Augen blickten sie freundlich an, aber seine Stimme war kalt und befehlend: »Lass uns bald wieder treffen, und ich werde dir noch mehr über Eldrid erzählen. Es gibt so vieles, was du noch wissen musst.«
Sie waren am Spiegel angekommen, und Ludmilla drehte sich um. Er leuchtete. Sie fühlte Uris Hand auf ihrem Rücken, wie er sie sanft in den Spiegel schob. Sie wollte noch etwas sagen, aber sie brachte aus ihr nicht erklärlichen Gründen keinen Ton heraus. Wie gelähmt starrte sie auf das blinde Spiegelglas. Sie konnte noch nicht mal mehr den Kopf drehen, um Uri anzuschauen. Sie wehrte sich verzweifelt, ohne auch nur eine Bewegung machen zu können. Hilflos schwebte sie in der Luft vor dem Spiegel. Dabei wollte sie noch unbedingt wissen, worüber genau sich Uri mit Mina gestritten hatte. Und was hatte Mina mit diesem Zamir zu tun? Aber ihre Zunge war gelähmt.
»Bis bald, Ludmilla. War schön, dich kennenzulernen. Aber denke daran: Dies ist kein Spiel! Und diese Welt ist kein Spielplatz
für kleine Mädchen, und du solltest deine Besuche ernst nehmen. Und behalte immer die Zeit im Auge!« Seine Stimme klang streng und befehlend.
Im nächsten Augenblick landete Ludmilla sehr unsanft auf dem Boden vor dem Spiegel im Haus ihrer Großmutter.