Achtes Kapitel
Minas Geschichte
Irgendwann war Minas Ärger verflogen. Anfangs war sie sehr erbost darüber gewesen, dass Ludmilla ihr Versprechen gebrochen hatte. Aber noch mehr hatte sie sich über sich selbst geärgert. Was hatte sie erwartet? Mit einem neugierigen Teenager im Haus! Dass sie das Geheimnis um den Spiegel würde bewahren können? Mina schüttelte den Kopf. Und nun war es so weit. All ihre Bemühungen, den Spiegel geheim zu halten, waren gescheitert. Und es war sogar noch schlimmer gekommen: Ludmilla hatte nicht nur den Spiegel und seine Funktion entdeckt, sondern Uri hatte sie nach Eldrid reisen lassen! Eldrid! Wie sehr sie diese Welt vermisste! Mina wusste zu gut, was es bedeutete, nach Eldrid reisen zu dürfen. Sie war selbst lange regelrecht süchtig danach gewesen. Voller Wehmut dachte sie an ihre Reisen zurück. Nur – jetzt war Eldrid nicht mehr die Welt, die sie kennengelernt hatte. Jetzt war es eine gefährliche Welt. Und Uri erlaubte Ludmilla, in diese Welt zu reisen. Gegen ihren ausdrücklichen Wunsch! Das machte sie sehr ärgerlich und sehr wütend. Was erlaubte er sich? Sie hatte seine Bitte mehr als deutlich abgelehnt, und dennoch ließ er es zu, dass Ludmilla den Spiegel benutzte? Das war ungeheuerlich! Aber es führte kein Weg daran vorbei, sie musste mit Ludmilla reden. Sie musste ihr klarmachen, dass Eldrid eine gefährliche Welt war und dass sie nicht mehr dorthin würde reisen können. Um dies Ludmilla verständlich zu machen, musste sie ihre Geschichte erzählen. Mina seufzte. Sie hatte sich geschworen, nie wieder
darüber zu reden. Es schmerzte sie zu sehr. Aber es musste sein. Ludmilla musste es begreifen, sie musste es verstehen. Es war Zeit!
Mina rief Ludmilla entschlossen zu sich. Sie saß in der Küche und bat Ludmilla, sich zu setzen. »Ich muss dir eine Geschichte erzählen«, begann sie. Ludmilla machte ein genervtes Gesicht. Aber Mina ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. »Sie handelt von mir und von diesem Spiegel, den du eigentlich, wärst du meiner Bitte gefolgt, gar nicht kennen solltest.«
Ludmilla zuckte zusammen. Sofort bildete sich ein dicker Kloß in ihrem Hals.
Über Minas Gesicht huschte ein Lächeln. Ihre Augen blitzten. Sie tätschelte kurz Ludmillas Hand und ignorierte ihre Anspannung. »Die Geschichte wird dir gefallen. Ich war ungefähr in demselben Alter wie du, als ich den Spiegel im Haus meiner Mutter entdeckte. Meine Mutter war ein eher ängstlicher Mensch und wollte nichts von den Spiegeln, den Familien und Eldrid wissen. Ihre Mutter, meine Großmutter, weihte mich in das Geheimnis und in den Pakt ein.«
Ludmilla saß stocksteif auf ihrem Stuhl. Einerseits war sie froh, dass sie dieses Gespräch führten, schließlich hatte Uri dies zur Bedingung gemacht, dass sie den Spiegel weiter benutzen dürfte, andererseits ahnte sie, wie das Gespräch enden würde.
»Sie war diejenige, die meiner Schwester und mir erlaubte, das Spiegelzimmer zu betreten und den Spiegel zu benutzen. Unseren Spiegel. Den Scathan-Spiegel. Er ist schon seit Hunderten von Jahren im Besitz unserer Familie, der Scathan-Familie. Und nun, da ich den Spiegel entdeckt hatte, waren meine Schwester und ich an der Reihe, den Scathan-Spiegel zu benutzen und Eldrid zu bereisen. Habe ich dir jemals von meiner Schwester Ada erzählt?«
Ludmilla schüttelte stumm den Kopf.
Mina merkte, dass sie kurz davor war, abzuweichen. Sie schüttelte sich etwas, streckte ihren Rücken durch und fixierte Ludmilla. »Wie auch immer. Meine Schwester Ada und ich haben Eldrid viel bereist. Sehr viele Male. Unsere Mutter merkte davon
nichts oder wollte es nicht merken, und unsere Großmutter hatte nichts dagegen. Uri hatte uns glücklicherweise direkt darüber aufgeklärt, dass wir unsere Spiegelbilder einschließen mussten. Das hat er wohl bei dir versäumt.« Mina entfuhr ein amüsiertes Glucksen, obwohl ihr nicht zum Lachen zu Mute war. »Uri wollte nicht, dass wir so oft nach Eldrid kamen. Er meinte, dass wir die Ruhe stören würden. Das Gleichgewicht in Eldrid durcheinanderbringen würden. Aber Ada und ich wollten diese herrliche Welt erkunden, bereisen, und waren regelrecht süchtig, neue Wesen zu entdecken und kennenzulernen. Das war viel besser, als Bücher zu lesen. Endlich erlebten wir mal etwas.«
Wieder hielt Mina inne und musterte Ludmilla kurz. Ja, Ludmillas Leben war genauso langweilig wie ihres, als sie fünfzehn Jahre alt war. Im Grunde konnte sie Ludmilla nur zu gut verstehen.
»Nach einer Weile schafften wir es, dass der Spiegel uns gehorchte, oder zumindest glaubten wir das. Wahrscheinlich ließ es Uri zu, ich weiß es nicht. Auf jeden Fall konnten Ada und ich Eldrid so oft und so lange bereisen, wie wir wollten. Und das nutzten wir aus. Zum Schluss machten wir fast täglich einen Ausflug. Es gab immer etwas Neues zu entdecken. Es war toll!«
Minas Blick schweifte ab, und sie lächelte versonnen. Ludmilla wagte kaum zu atmen.
»Und dann lernten wir Zamir kennen. Zamir war ein Spiegelwächter, so wie Uri. Er bewachte einen anderen Spiegel. Den der Taranee-Familie.«
»Was ist das für eine andere Familie?«, unterbrach Ludmilla sie. Es sprudelte unkontrolliert aus ihr heraus. Sofort biss sie sich auf die Unterlippe und starrte betreten auf die Tischplatte.
Aber Mina lächelte kurz. Dann verhärtete sich ihr Gesicht wieder. Dennoch sprach sie mit milder Stimme: »Du hast recht. Es ist an der Zeit, dich in das Geheimnis einzuweihen und dir von dem Pakt zu erzählen. Auch wenn es für dich am Ende ohne Belang sein wird.
«
Ludmillas Kloß im Hals wurde größer. Ihre schlimmste Befürchtung, dass Mina ihr keine weiteren Reisen nach Eldrid erlauben würde, schien sich zu bewahrheiten.
»Es gibt fünf Spiegel, also fünf Portale, durch die man nach Eldrid gelangt. Diese fünf Spiegel stehen in fünf Häusern hier in dieser Stadt. Sie sind seit Eldrids Anbeginn im Besitz der fünf Spiegelfamilien: Das ist zunächst unsere Familie, die Scathan-Familie. Unser Spiegel wird, wie du weißt, von Uri bewacht. Der Spiegel, den Zamir bewachte und der in seine Höhle führte, steht im Haus der Taranee-Familie. In Eldrid gibt es noch drei weitere Spiegelwächter: Bodan, Uris engster Vertrauter, sowie Kelby und Arden. Bodan wacht über den Spiegel der Solas-Familie, Kelby über den der Ardis-Familie und Arden über den der Dena-Familie. Die fünf Spiegelfamilien schlossen damals einen Pakt, der seit jeher gilt und noch nie gebrochen wurde: Kein Mensch außerhalb der Spiegelfamilien erfährt von den Spiegeln und von Eldrid. Zudem haben die Spiegel selbst einen ganz besonderen Mechanismus: Nur Mitglieder der Spiegelfamilien können die jeweiligen Spiegel aktivieren, und zwar nur ihre eigenen Spiegel. Ein Mitglied der Taranee-Familie kann nicht den Scathan-Spiegel zum Leuchten bringen. So schützen sich die Spiegel selbst vor ungebetenen Reisenden. Die Spiegelwächter verstärken diese Wirkung durch ihre eigene Macht der Kontrolle, wer durch den Spiegel reisen darf. Der Pakt der fünf Spiegelfamilien sollte dazu dienen, Eldrid vor uns Menschen zu schützen. Dabei müsste es andersherum sein.«
Ludmilla starrte Mina verblüfft an. Warum wusste sie nichts davon? Die Namen der anderen Familien hatte sie noch nie gehört. Wusste ihre Mutter von dem Spiegel und dem Pakt? Das konnte sie sich kaum vorstellen. Ihre Mutter hatte keine Fantasie und war nur auf ihren Beruf fixiert. Sie konnte sich ihre Mutter in Eldrid nicht vorstellen.
Noch bevor Ludmilla ihr Gedankenspiel fortsetzen konnte, seufzte Mina auf, und sie wurde aus ihren Gedanken gerissen
.
»Aber nun zurück zum Wesentlichen: zu meiner Geschichte. Wo war ich?«
»Bei Zamir«, erinnerte Ludmilla sie leise. »Ihr habt Zamir kennen gelernt.«
»Ach ja, genau. Zamir war ganz anders als Uri. Nicht so ernsthaft. Nicht so gewissenhaft. Nicht so streng. Mit Zamir kam uns alles wie ein Spiel vor. Er
machte aus allem ein Spiel. Ada und ich fanden ihn beide toll. Er war umwerfend in seiner Art und hatte schon damals seine Gestalt des Spiegelwächters abgelegt und die eines Menschen angenommen. Seine Eitelkeit konnte er noch nie verstecken.«
Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht, und sie kam kurz ins Schwärmen. »Er sah so gut aus. Groß, schlank, blond und ganz blasse, zarte Haut. Dadurch wirkte er so zerbrechlich. Er war für jeden Unsinn zu haben. Wir hatten das Gefühl, dass er uns verstand, dass wir dieselbe Sprache sprachen. Das war nur leider das Problem. Es war ein Spiel für ihn. Und er spielte mit uns
.« Ihre Stimme klang nun bitter. »Zamir schlich sich in unsere Herzen und in unseren Verstand. Wir vertrauten ihm blind. Auf Uri hörten wir nicht mehr. Er war für uns ein Spielverderber, und Zamir schürte unsere Abneigung noch zusätzlich. Er hatte immer einen Einwand parat, wenn es um Uri ging, und brachte uns dazu, Uri nicht mehr zu vertrauen. Er hetzte uns regelrecht gegen ihn auf. Und selbst das machte uns nicht misstrauisch. Und Uri …« Sie stockte. »Uri, der Inbegriff des Guten, des Gütigen und der Vernunft, war genauso blind wie wir. Uri sah es nicht kommen. Mit ihm spielte Zamir auch. Und als Uri Zamir endlich durchschaute, war es schon zu spät.«
Mina seufzte und senkte den Kopf. »Ich bin nicht stolz darauf, Ludmilla. Ada und ich waren jung, wir waren blauäugig. Wir glaubten nur an das Gute. Und diese Welt war voll des Guten. Dort gab es nichts Böses. Beziehungsweise, das Böse gab es schon, nur wir sahen es nicht. Wir erkannten es nicht. Und das, obwohl es direkt vor uns war und uns benutzte.
«
Minas Stimme fing an zu zittern. »Zamir benutzte uns für seine Pläne. Zunächst verlieh er uns eine Macht.«
Ludmilla hob fragend die Augenbrauen.
»Spiegelwächter sind mitunter die mächtigsten Wesen in Eldrid. Sie haben, neben vielen anderen Mächten, die Fähigkeit, Menschen Mächte zu verleihen«, erklärte Mina beiläufig. »Mächte zu haben, machte natürlich Spaß, und wir flehten ihn an, dass er uns noch eine Macht verlieh. Und noch eine und noch eine. Wir waren unersättlich. Jedes Mal, wenn er uns eine Macht verlieh, schwächte ihn das. Das sahen wir. Aber er erholte sich schnell davon. Irgendwann erklärte er uns, dass wir uns die Mächte auch von den Wesen von Eldrid leihen
könnten. Zamir machte uns weis, dass wir den Wesen von Eldrid die Mächte nehmen, aber auch wieder zurückgeben könnten. Da wir anfangs skeptisch waren, machte Zamir es uns vor. Bei einer unserer Wanderungen durch die Wälder trafen wir auf einen Zwerg. Zwerge können in Eldrid jedes Werkzeug bedienen, ohne es auch nur anzurühren. Eine faszinierende Fähigkeit. Zamir kannte ihn und hielt ihn an, um ihn uns vorzustellen. Sein Name war Raik. Noch während wir uns mit Raik unterhielten, sprach Zamir einen Zauber, den wir nicht kannten. Die Worte flossen aus seinem Mund wie pures Gold, das sich auf Raiks Schatten setzte. Der Schatten wandte sich von Raik ab und Zamir zu. Ada und ich schrien auf vor Schreck und Verzückung zugleich. Raik war außer sich vor Scham und begann zu jammern. Jammern ist eine Eigenart der Zwerge in Eldrid. Sie jammern und beschweren sich ständig. Als Raik zu jammern begann, nahmen wir das nicht ernst. Wir sahen gespannt dabei zu, wie Zamir in einer uralten Sprache, die nur noch selten in Eldrid gesprochen wird, einen weiteren Zauber aussprach, und Raiks Macht löste sich von seinem Schatten. Da die Spiegelwächter fast alle Mächte, die es in Eldrid gibt, in sich vereinen, übertrug er Raiks Macht Ada. Ada ließ Raiks Sichel schweben. Wir waren begeistert.
Zamir hielt sein Versprechen, indem er Ada die Macht wieder
nahm, sie dem Schatten zurückgab und Raik die Zauberformel vorsagte, die es Raik ermöglichte, seinen Schatten wieder an sich zu binden.«
»Es gibt also einen Umkehrzauber?«, entfuhr es Ludmilla.
Mina runzelte die Stirn. »Ja, den gibt es, und er funktioniert.«
Ludmilla biss sich auf die Unterlippe und schwieg. Mina kratzte sich an der Stirn und überlegte kurz.
»So war es. Raik bekam seinen Schatten zurück, und das überzeugte uns. Es war so leicht und so harmlos. Eine Fähigkeit ausleihen, nur für ein paar Stunden, und sie dann dem Wesen zurückgeben. Wir waren jung, wir wollten nur ein wenig Spaß haben. Und wir sahen nur wenig Unrechtes darin. Es war zu verlockend, Mächte auszuprobieren.«
Mit zittrigen Fingern ergriff Mina Ludmillas Hand. »Und weißt du, Ludmilla, wenn ein junger Mensch wie du, oder wie ich es war, erst einmal auf den Geschmack gekommen ist, wie es ist, Mächte zu haben, dann wird es schwierig, sich davon zu lösen oder einfach nur Nein zu sagen.«
Ludmilla sah sie zweifelnd an.
»Es ist ein unglaubliches Gefühl, wenn man Gedanken lesen kann. Oder sich unsichtbar machen. Oder, wie Raik, Dinge bewegen. Stell dir vor, du könntest mit einem Fingerzeig dein Zimmer aufräumen.« Mina lächelte verkrampft. »Ich bin nicht stolz darauf, Ludmilla, das kannst du mir glauben«, versuchte sie sich zu erklären.
Ludmilla nickte zögerlich. »Und dann?«, fragte sie leise.
»Verurteile mich nicht, Ludmilla. Ich werfe mir das schon mein ganzes Leben lang vor«, flehte Mina sie an.
Ludmilla erkannte ihre Mina nicht wieder. Wo war die stolze, strenge, selbstbewusste Frau geblieben, die ihre Großmutter war? Sie zögerte, denn sie war sich nicht sicher, ob sie die Geschichte wirklich bis zum Ende hören wollte. Mina offenbarte eine Seite von sich, die Ludmilla überhaupt nicht gefiel. Sie befürchtete, dass sie sie mit anderen Augen sehen würde, wenn sie alles hörte. Aber
für solche Überlegungen war es schon zu spät. Also ergriff sie Minas Hand und drückte sie kurz.
»Und dann?«, wiederholte sie sanft. »Was passierte dann?«
Mina schluckte. Ihre Stimme war heiser, und sie sprach sehr leise: »Ada und ich fingen an, uns die Schatten von erst einem und dann von immer mehr Wesen auszuleihen und uns ihre Mächte anzueignen. Anfangs half uns Zamir noch dabei. Er war sehr geschickt. Er ermahnte uns, die Mächte nicht zu lange zu behalten, und besänftigte die Wesen, deren Mächte wir ausliehen. Irgendwann konnten wir die Zaubersprüche selbst sprechen und wandten sie auf eigene Faust und ohne Zamir an. Da aber Zamir dann nicht mehr auf die Wesen aufpasste, deren Mächte wir ausliehen, verschwanden diese Wesen. Wir konnten sie nicht finden, als wir ihre Mächte zurückgeben wollten. Da wir aber davon überzeugt waren, nichts Unrechtes zu tun, behielten wir die Mächte und wollten sie zurückgeben, wenn wir das Wesen wiederfanden. Wir wussten nichts von dem Ort, an den sich die schattenlosen Wesen verbannen. Wir wussten noch nicht einmal, dass es schattenlose Wesen in Eldrid überhaupt gab. Wir waren so wahnsinnig naiv.«
»Allerdings!«, entfuhr es Ludmilla.
Mina zuckte zusammen und sah Ludmilla mit schmerzerfülltem Gesicht an. »Ich weiß, Ludmilla, ich weiß. Es kommt aber noch schlimmer. Wir wunderten uns auch nicht darüber, dass nicht nur die Wesen verschwanden, deren Mächte wir ausliehen, sondern auch die Schatten der Wesen. Im Grunde machten wir uns über gar nichts Gedanken, sondern genossen unsere Fähigkeiten. Im Unterbewusstsein war uns klar, dass wir Unrechtes taten. Aber wir wollten es nicht wahrhaben und unterdrückten Anflüge von schlechtem Gewissen. Macht zu haben kann berauschen, benebeln und zur Sucht werden.«
»Aber es war falsch. Das war niederträchtig, was ihr getan habt!«, stellte Ludmilla leise aber bestimmt fest.
»Du hast recht. Ja, es war niederträchtig und boshaft. Sehr boshaft sogar. Aber, wie gesagt, das wollten wir nicht wahrhaben. Wir
sahen nur, dass wir immer mächtiger wurden. Und das machte Spaß. Wir behielten immer mehr von den geliehenen Mächten, da wir die Wesen nicht fanden, denen wir sie genommen hatten. Wir fühlten uns durch die Mächte unbesiegbar. Bald waren wir die beiden mächtigsten Menschen in Eldrid. Eigentlich waren wir überhaupt sehr, sehr mächtige Wesen in Eldrid. Es war überwältigend. Es fühlte sich herrlich an. Hier in unserer Welt waren wir Langweiler, Außenseiter. Aber in Eldrid, da waren wir wer
. Viele hatten Angst vor uns. Aber wir fanden das nur lustig. Wir empfanden uns nicht als bedrohlich. In unseren Augen taten wir niemandem beziehungsweise keinem Wesen ein Leid an.« Minas alte Augen wirkten wässrig. Sie flüsterte nur noch. »Zamir benutzte uns. Er benutzte uns dazu, den Wesen die Schatten für immer zu stehlen und sie damit zu schattenlosen Wesen zu machen. Die Wesen von Eldrid können ohne Licht nicht existieren. Es ist ihr Lebenselixier«, flüsterte Mina so leise, dass es Ludmilla kaum hören konnte. »Der Ort, an den sie sich als schattenlose Wesen verbannen, ist der dunkelste Ort, den es in Eldrid gibt. Es ist grausam!«
Es entstand eine Pause, in der beide nicht zu sprechen wagten.
Dann fuhr Mina hoch, holte tief Luft und ergriff so plötzlich nach Ludmillas Hand, dass diese zusammenzuckte.
»Zamir ist böse, Ludmilla. Er ist das Böse
in Person. Der Teufel! Während wir damit beschäftigt waren, Mächte zu sammeln wie andere Zinnsoldaten, schickte Zamir die entmachteten Schatten an den Himmel von Eldrid. So schuf er den dunklen Teil von Eldrid. Den gibt es nämlich noch nicht so lange. Das ist Zamirs
Werk.« Mina schnaubte verächtlich. »Und Ada und ich tragen eine Mitschuld daran, dass Dunkelheit über Eldrid eingebrochen ist. Wir sind schuld!«
Mina presste ihre Zähne so stark aufeinander, dass sie knirschten. »Das Ende kam plötzlich und mit dem absoluten Höhepunkt meiner Macht«, presste sie hervor. »Ich hatte einem Wesen eine ganz besondere Macht genommen. Eine Macht, die in Eldrid sehr
selten ist und auf die Zamir ganz versessen war, weil selbst Spiegelwächter sie nicht besitzen. Vielleicht hatte es auch nichts mit dieser Macht zu tun, ich weiß es nicht. Wie auch immer. Nachdem ich diese Macht besaß, raubte Zamir mir meinen Schatten. Ich konnte gar nicht so schnell reagieren, wie sich mein Schatten von mir löste und zu Zamir trat. Seine Augen glühten mich an, und er gehorchte mir nicht mehr. Ich versuchte noch den Umkehrzauber zu sprechen, aber Zamir blockierte mich, und ich schaffte es nicht, mir meinen Schatten zurückzuholen. Zamir machte mich selbst zu einem schattenlosen Wesen.«
Mina sank in sich zusammen. Sie atmete schwer, wie nach einem langen schnellen Lauf.
Ludmillas Mund klappte nach unten. Das konnte nicht wahr sein. Sie blickte an Mina hinunter und versuchte, einen Schatten zu erkennen. Der Stuhl, auf dem sie saß, warf einen langen Schatten auf den Küchenboden. Aber es sah so aus, als ob niemand darauf säße. Ludmilla unterdrückte einen Aufschrei und sprang auf. Wieso hatte sie das nicht schon viel früher bemerkt? Ihre Großmutter besaß tatsächlich keinen Schatten!
In Ludmillas Kopf überschlugen sich die Gedanken. Wie hatte sie sich so in ihrer Großmutter irren können? Sie hatte sie immer für einen guten Menschen gehalten. Einen Menschen, der Werte vertrat und für sie einstand. Ludmilla hatte bisher kaum schlechte Eigenschaften an ihr entdecken können. Sie hatte ihre Eigenarten, war etwas schrullig, aber so sehr sie versucht hatte, sich von ihr abzugrenzen, Mina war immer geduldig und voller Verständnis für sie gewesen. Ludmilla hatte sie immer bewundert und zu ihr aufgeschaut. Und sie war ihr für alles, was sie für sie getan hatte, dankbar gewesen. Sehr dankbar!
Denn ihre Großmutter hatte sich für sie eingesetzt. Sie hatte sie sozusagen gerettet. Gerettet aus einem lieblosen Elternhaus, in dem sie sich nie geborgen und zu Hause gefühlt hatte. Ihre Eltern waren sehr beschäftigt und reisten sehr viel. Sie waren deshalb selten zu Hause. Sowohl Ludmillas Vater als auch ihre Mutter
waren sehr erfolgreich in ihrem Beruf und hatten diesen nach der Geburt von Ludmilla nicht aufgeben wollen. Deshalb hatten sie Kinderfrauen und Au-Pairs engagiert, die sich um Ludmilla hatten kümmern sollen. Aber auch darüber hinaus hatten sie es nicht geschafft, sich richtig mit ihrer Tochter zu befassen.
Bei ihrer Großmutter war das anders. Mina war immer da. Sie sorgte für Ludmilla, interessierte sich für sie, hörte ihr zu und war für sie da. All das gab Ludmilla Geborgenheit. Eine Geborgenheit, die sie von ihren Eltern nie erfahren hatte. Irgendwann hatte sich Mina eingemischt. Sie hatte dafür gekämpft, dass Ludmilla bei ihr wohnen konnte. Dafür hatte sie sogar für einige Zeit jeglichen Kontakt zu ihrer Tochter, Ludmillas Mutter, abgebrochen. Ludmillas Eltern hatten große Bedenken gehabt, da Mina schon alt war und allein in diesem großen Haus lebte. Aber Mina hatte sich nicht beirren lassen. Sie wollte sich um Ludmilla kümmern. Sie hatte die ständig wechselnden fremden Menschen, die Ludmilla betreuen sollten, satt gehabt.
Irgendwann hatte sie Ludmillas Eltern überzeugen können, die völlig verzweifelt waren, da Ludmilla alle Au-Pairs und ebenso viele Kinderfrauen durch ihr schlechtes Benehmen verjagt hatte. Sie waren erleichtert gewesen, als Ludmilla zu ihrer Großmutter zog, da sie davon überzeugt waren, dass dies das Beste für Ludmilla war. Ludmilla war Mina dafür sehr dankbar. Mina hatte ihr gezeigt, dass sie ihr nicht egal war. Und Ludmilla lebte, trotz all der Langeweile, sehr gern bei ihrer Großmutter. Das Leben bei ihrer Großmutter war um vieles besser, als in einem Elternhaus ohne Eltern zu wohnen.
Irgendwann brach Mina das Schweigen. »Uri hat mich vor meiner Verbannung bewahrt, indem er mich zurückschickte. Ich darf Eldrid nicht betreten, ansonsten muss ich in die Verbannung gehen. Der Spiegel bringt Unheil über unsere Familie. Deshalb habe ich mit Uri die Abmachung getroffen, dass kein Mitglied der Scathan-Familie mehr den Spiegel zum Leuchten bringt. Der Scathan-Spiegel dient nicht mehr als Portal nach Eldrid. Und du«,
Minas Stimme wurde hart, »wirst diese Welt auch nicht mehr betreten! Zamir ist gefährlich und sehr, sehr mächtig. Er hat sich die Mächte von meinem Schatten angeeignet, und damit ist er eines der mächtigsten Wesen in Eldrid. Wenn nicht sogar das
mächtigste Wesen. Dagegen kann auch Uri nichts machen. Uri kann dich vor ihm nicht beschützen. Du musst diese Welt vergessen. Sieh mich an! Ich habe keinen Schatten. Ich kann mich im Sonnenlicht eigentlich nicht bewegen. Ständig muss ich mich darum sorgen, dass jemandem das auffällt. Im Grunde lebe ich trotzdem in der Verbannung, und zwar hier in unserer Welt, in diesem Haus.« Minas Stimme zitterte vor Zorn. »Ich verbiete dir, dich noch einmal diesem Spiegel auch nur zu nähern. Ich verbiete es dir, Ludmilla. Ich will nicht, dass dir dasselbe widerfährt wie mir!«
Mit diesen Worten schob sie ruckartig den Stuhl nach hinten und stand auf. »Hast du mich verstanden?«, fuhr sie Ludmilla mit einer Härte an, dass Ludmilla zusammenzuckte.
Mina erhob drohend den Zeigefinger. Ihre Hand zitterte. »Wenn du es wagst, dieses Verbot zu brechen, auch nur für eine einzige Reise, dann ziehst du hier aus! Du ziehst zurück in das Haus deiner Eltern mit irgendwelchen Kinderfrauen oder Au-Pairs. Dann ist unsere Beziehung beendet. Verstehst du mich?«
Minas Zeigefinger bohrte sich in Ludmillas Brust, so dass Ludmilla zurückwich. Sie blickte ihrer Großmutter in die Augen und schluckte hart. Ihre größte Angst war es tatsächlich, wieder zurück zu ihren Eltern ziehen zu müssen. Das war so ziemlich das Einzige, was ihr nicht egal war.
»Ich will es von dir hören, Ludmilla!«, presste Mina durch ihre Zähne hindurch. »Sag es!«, befahl sie.
Ludmilla hatte verstanden, wie ernst es ihr damit war. »Ja, ich habe es verstanden. Ich werde mich dem Spiegel nicht mehr nähern und ihn benutzen.«
Mina seufzte erleichtert auf und ließ sich erschöpft auf den Küchenstuhl fallen
.
»Und was ist mit Ada passiert?«, fragte Ludmilla leise.
Mina fuhr hoch, als hätte Ludmilla sie aus einem tiefen Schlaf geweckt. Ihre Augen glitzerten. »Sie ist dortgeblieben. Ich habe sie nie wiedergesehen«, antwortete sie bitter und stand auf.
Ludmilla machte den Mund auf, wollte etwas sagen und schloss ihn dann wieder. Ihre Großmutter schien zu entschlossen, nicht weiterreden zu wollen.
Mina hatte die Küchentür schon fast erreicht, als sie sich erneut zu Ludmilla umdrehte. Ihre Augen funkelten.
»Damit wir uns hier nicht missverstehen. Dieses Gespräch bleibt selbstverständlich unter uns. Du bist intelligent genug, um zu verstehen, dass niemand von der Funktion des Spiegels erfahren darf. Du bist verpflichtet, dich an den Pakt der Spiegelfamilien zu halten.«
Mina schnaufte, während Ludmilla heftig nickte. Sie würde sowieso von jedem für verrückt erklärt werden, dem sie davon erzählte.
Aber Mina war noch nicht fertig: »Und damit das ganz klar ist: Ich werde NIE WIEDER mit dir über Eldrid oder den Spiegel sprechen. Das war heute das einzige Mal, dass ich davon erzählt habe. Und dabei wird es bleiben.«
Ludmilla hob an, etwas zu sagen, aber Mina erhob den Zeigefinger in die Luft.
»Nein! Dieses Mal, Ludmilla, nur dieses eine Mal: Hier und jetzt ist Schluss. Mehr wirst du nicht erfahren, finde dich lieber damit ab, wenn du hier wohnen bleiben willst.«
Mit diesen Worten drehte sie sich um und verließ das Zimmer. Ludmilla blieb wie versteinert sitzen.