Neuntes Kapitel
Aufbruch
In dieser Nacht schlief Ludmilla schlecht. Sie träumte von Mina, Eldrid, Uri und einer gesichtslosen Gestalt, die Zamir hieß. Drum herum schwirrten Spiegel und Spiegelwächter, die aussahen wie Uri. Immer wieder schreckte sie aus ihren Träumen hoch, bis sie schließlich aufrecht im Bett saß und laut rief: »Taranee! Scathan!«
Verwirrt rieb sie sich die Augen. Sie hatte zu viele Gedanken im Kopf, als dass sie hätte schlafen können. Also ging sie in die Küche, um ein Glas Wasser zu trinken. Sie vermied es, das Licht einzuschalten. Gedankenverloren lehnte sie an den hölzernen Küchentisch und ließ sich alles noch einmal durch den Kopf gehen. Sie hatte noch so viele Fragen. Welche Notsituation gab es in Eldrid, dass Uri sich gezwungen sah, Mina aufzusuchen? Und welche Rolle sollte sie dabei spielen? Hatte sie wirklich eine Aufgabe in Eldrid? Gab es etwa eine Chance, etwas von dem wiedergutzumachen, was ihre Großmutter dieser Welt angetan hatte? Und wenn Uri sie beschützte, warum sollte es so gefährlich sein?
Ludmilla konnte noch immer nicht fassen, was sie erfahren hatte. Ihre Großmutter war eine Kriminelle. Zumindest in Eldrid. Und eine Aussätzige. Das war sie im Grunde auch hier, nur hatte sie gelernt, damit umzugehen und zu leben. Wenn es doch nur einen Weg gäbe, die Taten ihrer Großmutter ungeschehen zu machen. Vielleicht könnte sie ihr sogar ihren Schatten zurückbringen. Mina hatte selbst gesagt, es gebe einen Umkehrzauber. Um das aufzuklären, müsste sie nach Eldrid reisen und mit Uri sprechen. Aber damit riskierte sie alles. Und für sie bedeutete das Leben bei ihrer Großmutter ALLES. Ludmilla war hin- und hergerissen. Unruhig trat sie von einem Fuß auf den anderen.
Sie setzte sich an den Küchentisch und dachte nach. Stunden um Stunden wog sie ab. Sie wälzte die Gedanken in ihrem Kopf und kam doch zu dem einen Schluss: Sie musste es riskieren. Sie brauchte Antworten. So konnte sie die Geschichte nicht auf sich beruhen lassen und einfach damit abschließen. Das konnte sie beim besten Willen nicht. Uri hatte davon gesprochen, dass er ihre Hilfe brauche. Vielleicht konnte sie wirklich helfen. Auch wenn das für sie die Höchststrafe bedeutete, sollte Mina sie dabei erwischen. Selbst dann, entschied sie, war es ihr diese eine Reise nach Eldrid wert. Sie würde sich schon irgendwie durchschlagen, wenn Mina sie tatsächlich erwischen und rauswerfen würde. Inzwischen war sie alt genug. Und ein Fünkchen Hoffnung, dass Mina ihre Drohung doch nicht wahr machen würde, hatte sie auch.
Ludmilla ging entschlossen in ihr Zimmer. Im Vorbeigehen lauschte sie kurz an Minas Schlafzimmertür. Alles ruhig. Sie streifte sich ein T-Shirt und ihre Jeans über, band sich ihren blauen Lieblingskapuzenpullover um die Hüften und nahm ihre Turnschuhe in die Hand. Auf Zehenspitzen erreichte sie den ersten Stock und die Tür. Ihr Herz pochte wie wild, als sie die Klinke hinunterdrückte. Die Tür gab nicht nach. Ludmilla war fassungslos. Das durfte nicht wahr sein!
»Bitte!«, flehte sie die Tür an. Aber die Tür blieb verschlossen. Ludmilla starrte sie hilflos an, als sie plötzlich das Leuchten wahrnahm, das unter der Tür hervorkroch. »Uri!«, rief Ludmilla leise. »Uri, hilf mir, ich komme nicht rein!« Sie legte ihr Ohr an die Tür und wartete. Aber es tat sich nichts. Entschlossen versuchte sie erneut, die Tür zu öffnen. Sie wollte da rein! Sie lehnte sich mit ihrem gesamten Gewicht gegen dagegen, während sie die Klinke drückte. Und tatsächlich: Sie schwang auf. Noch bevor sie sich weitere Gedanken darüber machen konnte, fiel ihr Blick auf den Spiegel, und sie vergaß alles um sich herum .
Sie schloss die Tür und wollte gerade in den Spiegel treten, als sie ihr Spiegelbild sah. Sie zögerte kurz. Aber ihr fiel einfach nicht ein, wie sie ihr Spiegelbild einsperren könnte. Also zuckte sie nur mit den Schultern, dachte: Jetzt oder nie, und berührte den Spiegel.
Sekunden später landete sie in Uris Höhle. Sie rappelte sich auf und lief zur Feuerstelle. Aber Uri war nicht da. Ludmilla schaute sich um. »Uri?«, rief sie laut und lief zum Ausgang der Höhle. In Eldrid war es helllichter Tag. Der Wasserfall sprühte in allen Regenbogenfarben. Aber Ludmilla schenkte dem keine Beachtung. Unschlüssig tigerte sie vor der Höhle auf und ab und wartete. Immer wieder sah sie nach rechts, zu dem Pfad, der in den hellen Teil des Waldes führte.
»Oh, was haben wir denn hier?«, dröhnte es plötzlich in ihrem Ohr.
Ludmilla zuckte zusammen und fuhr herum. Aber sie konnte niemanden entdecken.
»Du bist zurück. So schnell?« Es war eine tiefe Stimme, die den Wasserfall übertönte und in ihren Ohren klang. Ludmilla drehte sich im Kreis, starrte an sich hinunter, aber sie sah nichts. Alles, was sie hörte, war ein helles Kichern. Ludmilla wedelte mit den Händen in der Luft herum, als wollte sie eine Fliege verjagen, aber sie konnte nichts entdecken.
»Hör auf damit, du siehst komisch aus. Ich bin doch hier!«, erklang nun plötzlich eine glockenhelle Stimme, die im Höhleneingang wiederhallte. »Soll ich Uri für dich rufen?«
Ludmilla reagierte nicht. Woher sollte sie wissen, dass es wirklich ein Freund von Uri war? Aber dann sah sie plötzlich etwas flattern. Etwas sehr Kleines, das nicht größer als ihr Zeigefinger war. Mit durchsichtigen Flügeln. Ludmilla erkannte sie sofort. Es war eine Fee. Eine Fee, so wie Ludmilla sie sich immer vorgestellt hatte. Klein und zierlich, mit prächtigen, bunt schillernden Flügeln. Der winzige Körper steckte in einem Kleid aus Blumen und Blättern, die schlohweißen Haare schimmerten golden, waren kurz geschnitten und klemmten hinter den winzigen Ohren. Bei näherem Betrachten fiel Ludmilla auf, dass der Körper der Fee mit winzigen Federn bedeckt war.
»Buh!«, schrie die Fee, und Ludmilla zuckte zurück. »Hat dir keiner beigebracht, dass man Wesen nicht so anstarren soll?«, blaffte sie Ludmilla mit ihrer tiefen Stimme an.
»Entschuldigung! Ich habe noch nicht so viel Erfahrung mit Wesen «, platzte es aus Ludmilla heraus. Sie trat einige Schritte zurück und stierte die Fee feindselig an. »Wolltest du nicht Uri rufen?«, fragte sie schnippisch.
Die Fee lachte ein glockenhelles Lachen. »Längst geschehen, und nun entspann dich, Ludmilla. Ich tu dir nichts.«
Die Fee kannte also auch ihren Namen. Na toll!, dachte Ludmilla, woher weiß dieses Wesen, wie ich heiße?
Fröhlich flatterte die Fee um Ludmilla herum. »Lass uns Freunde sein, ja? Ich mag dich.«
Ludmillas Miene blieb versteinert. Woher sollte sie wissen, dass diese Fee wirklich Uri gerufen hatte? Sie hatte es eilig und war nicht zu Albernheiten aufgelegt. Aber das winzige Wesen ließ sich nicht beirren. Sie schlug Purzelbäume in der Luft, flog Loopings und lachte dabei unentwegt. Ludmilla sah der Fee zu und konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Dies hielt jedoch nur kurz an, denn dann kam Ludmilla eine Idee.
»Uri hat mir gesagt, dass ich eine Aufgabe hätte. Wenn du zu Uris Freunden zählst, dann kannst du mir sagen, was für eine Aufgabe das ist«, stellte sie fordernd fest. Sie musste dabei laut schreien, um das Tosen des Wasserfalls zu übertönen.
Die Fee erstarrte in ihrer Bewegung und blickte sie mit ihren großen grünen Augen an. Sie flatterte vor Ludmillas Gesicht hin und her, und ihr Gesichtsausdruck wurde ernst.
»Wenn Uri es nicht gesagt hat, dann darf ich es dir auch nicht sagen«, wisperte sie in ihr Ohr.
Und bevor Ludmilla noch etwas sagen konnte, dröhnte sie mit ihrer tiefen, lauten Stimme: »Aber lass uns doch noch ein bisschen Spaß haben, bis er kommt! «
Sie schwang sich in die Höhe und drehte Kreise über Ludmillas Kopf. Ludmilla wurde es vom Hinsehen schwindelig. Da lachte die Fee wieder und ließ sich auf ihrer Schulter nieder. »Ich bin übrigens Pixi. Und wie du sicherlich schon richtig vermutet hast, bin ich eine Fee.«
Ludmilla schielte zu dem kleinen Wesen hinüber, das wie selbstverständlich auf ihrer Schulter saß und die Beine baumeln ließ. Pixi war niedlich anzusehen. Nur an die tiefe laute Stimme der Fee konnte sie sich nicht gewöhnen. Und einen gewissen Argwohn konnte sie nicht verdrängen. Sie kannte nun Minas Geschichte und war sich bewusst, wozu Zamir fähig war. Sie wollte nicht in seine Falle laufen. Noch war ihr Schatten bedeutungslos, aber Uri hatte irgendetwas mit ihr vor. Vielleicht wusste Zamir davon und könnte ihr gefährlich werden. Sie bekam ein beklemmendes Gefühl und griff instinktiv an den Kettenanhänger, den sie stets um den Hals trug. Es war ein kleines rotes Herz aus Karneol an einer feinen silbernen Kette, das Mina ihr zum Einzug in ihr Haus geschenkt hatte. Ludmilla trug diese Kette immer, legte sie nie ab. Sie nahm das Herz gern in die Hand, da der Stein weich war und sich nie kalt anfühlte. Ludmilla lächelte gedankenverloren, während sie das Herz durch ihre Finger gleiten ließ.
Plötzlich wurde Pixi von etwas aufgescheucht. Sie flatterte aufgeregt in die Richtung des hellen Teils des Waldes, den Ludmilla schon so oft erkundet hatte. Als Ludmilla ihr nicht folgte, drehte sie sich um und dröhnte: »Kleine Planänderung, Ludmilla! Du musst mit mir kommen! Uri kann nicht kommen, aber er möchte dich unbedingt sprechen.«
Ludmilla sah sie skeptisch an. »Und woher soll ich wissen, dass du die Wahrheit sagst?«, blaffte sie die Fee an.
Pixi riss die Augen auf und stemmte ihre kleinen Hände in die Hüften. »Das ist ja wohl eine Frechheit. Natürlich sage ich die Wahrheit!«
Ihr Gesichtchen lief rot an und ihre Wangen blähten sich auf, als hielte sie die Luft an. »Ich bringe dich zu Uri. Er befindet sich im Wald, und zwar im hellen Teil«, stellte sie schnippisch fest. »Wenn ich dich in eine Falle locken wollte, dann würde ich dich in den dunklen Teil führen!«, tobte sie weiter.
Ludmilla hob besänftigend die Hände. Der Kopf der Fee war inzwischen knallrot angelaufen, so dass selbst ihre kurzen Haare rot waren, und hatte eine ballonartige Form angenommen. Es wirkte fast so, als würde der kleine Kopf gleich platzen, wenn sie sich nicht bald wieder beruhigte.
»Okay, okay. Ist ja gut, ich glaube dir. Beruhige dich«, beeilte sich Ludmilla, ihr zu versichern.
Pixi schnaufte und blies rote Luft aus ihren Wangen. Sie setzte sich auf Ludmillas Schulter, schnappte sich eine von Ludmillas Haarsträhnen, hielt sich daran fest und dröhnte mit ihrer tiefen Stimme: »Dann mal los, Scathan-Mädchen! Auf in den hellen Teil des Waldes! Immer geradeaus!« Dabei ahmte sie einen Schlachtruf nach, und ihr Gesicht nahm langsam wieder seine ursprüngliche goldene Farbe an.