Zehntes Kapitel
Die Spiegelwächter
Sie verließen den Wasserfall und liefen in den Wald. Ludmilla kannte diesen Teil des Waldes von ihren Erkundungstouren, doch jetzt sah sie die Welt mit anderen Augen. Pixi zeigte ihr Dinge und Wesen, die sie bisher nicht entdeckt hatte. Sie blieb dabei sehr sachlich, als wäre sie eine Lehrerin vor ihrer Klasse. Ludmilla hörte aufmerksam zu und gewann langsam Vertrauen zu der kleinen Fee. Nach einer Weile erreichten sie eine Lichtung, auf der der Waldweg endete. Ludmilla blieb unschlüssig stehen und schielte zu Pixi.
»Oh, nicht stehen bleiben! Immer noch geradeaus!«, brüllte diese übermütig und lachte dabei ihr glockenhelles Lachen.
»Aber geradeaus ist kein Weg«, stellte Ludmilla fest und bewegte sich nicht.
»Das ist richtig, aber da ist eine Tür«, wisperte Pixi plötzlich.
Ludmilla strengte ihre Augen an. »Wo soll denn hier eine Tür sein?«, fragte sie ungläubig.
Pixi schwang sich von ihrer Schulter und flatterte vor ihr Gesicht. »Da-ha …!«, zischte sie ihr ungeduldig zu und deutete genau vor sich auf die Mitte der Lichtung.
Und tatsächlich, dort stand eine durchsichtige Tür. So wie auf den Gemälden von René Magritte. Eine Tür, mitten auf einer Lichtung, die eigentlich gar nicht da war, weil man hindurchschauen konnte und vor ihr und hinter ihr die Lichtung lag. Sie glitzerte im Sonnenlicht .
Gerade als Ludmilla laut »Aah!« sagen wollte, legte Pixi bedeutungsvoll den winzigen Finger auf ihre rosa schimmernden Lippen.
»Scht! Wir müssen leise sein. Schleich dich vorsichtig an, dann können wir sie vielleicht belauschen, wenn sie uns nicht bemerken«, flüsterte sie.
Ludmilla sah sie verständnislos an.
»Na, da drin sind Uri und die anderen Spiegelwächter«, erklärte ihr Pixi ungeduldig.
Ludmilla hob nur verständnislos die Schultern. »Wo drin?«, fragte sie kaum hörbar.
Pixi deutete auf die durchsichtige Tür.
»Hinter der Tür befindet sich ein temporäres Zelt. Wir können es nicht sehen, und sie können uns nicht sehen. Aber sie können uns hören. Das Zelt ist mit einem Schutzzauber versehen, so dass es nicht einfach umgerannt werden kann. Auch kommt keiner rein, der nicht eingeladen oder berechtigt ist. Es ist dein Glück, dass ich berechtigt bin. Ich kann die Tür öffnen, ohne dass sie es hören, und wenn du es schaffst, leise und unhörbar zu sein, dann können wir sie belauschen.« Pixi triumphierte mit einem leisen glucksenden Kichern.
Für Ludmilla hörte sich dies nach einer sensationellen Chance an. Vielleicht redeten die Spiegelwächter gerade über ihre Aufgabe.
Noch einmal zögerte sie kurz. Die Frage lag ihr brennend auf der Zunge: »Warum bist du berechtigt, Pixi?«, flüsterte sie.
Pixi warf ihr einen abfälligen Blick zu. »Ich bin Uris Fee«, erklärte sie nur trocken.
Ludmilla hob die Augenbrauen. »Ach so!«, entfuhr es ihr. »Er hat eine Fee«, murmelte sie bewundernd.
Pixi flog voran. Mit einem zielsicheren Sprung landete sie auf der durchsichtigen Klinke und die Tür sprang einen kleinen Spalt auf. Ludmilla erstarrte in ihrer Bewegung und wartete. Sie hatte die Tür bis auf wenige Meter erreicht. Durch den Türspalt fiel ein seltsames mattes, goldschimmerndes Licht auf die Lichtung. Pixi steckte den Kopf durch den Spalt, so dass ihr Kopf verschwand und ihr Körper mit der unsichtbaren Tür verschmolz. Ludmilla starrte angestrengt hin. Nach ein paar Sekunden erschien Pixis Kopf und sie winkte Ludmilla zu sich. Ludmilla trat auf Zehenspitzen näher heran. Aus dem Raum hinter der Tür konnte sie deutlich Uris Stimme hören.
»Bodan!«, hörte sie Uri aufgebracht rufen. »Wir haben auf dich gewartet. Es ist wichtig. Sie ist hier, und wir sind uns immer noch nicht einig, wie wir genau vorgehen.«
»Oh, das tut mir leid, ich wusste nicht, dass es so dringend ist«, erwiderte eine sehr dunkle, warme Stimme, die wohl zu Bodan gehörte.
Dann folgte ein unverständliches Brummen verschiedener Stimmen.
Es war ein merkwürdiges Gefühl, vor einer durchsichtigen Tür zu stehen und in einen Raum hineinzulauschen, der sich unsichtbar mitten auf einer Waldlichtung befand.
Pixi grinste Ludmilla breit an, als wüsste sie, was Ludmilla gerade dachte.
»So geht das nicht! Dafür haben wir jetzt keine Zeit!«, rief Uri aufgebracht dazwischen. »Sie wird bestimmt gleich hier sein. Pixi bringt sie her. Sie wird Fragen haben. Fragen über ihre Aufgabe. Dann müssen wir ihr etwas sagen.«
»Weiß denn Mina Bescheid? Spielt sie mit?«, fragte eine dritte, etwas höhere männliche Stimme.
»Davon gehe ich nicht aus«, erwiderte Uri bestimmt. »Ich habe in den letzten Monaten oft versucht, noch einmal mit Mina zu sprechen. Ohne Erfolg. Sie hat nicht einmal reagiert. Deshalb habe ich angefangen, Ludmilla zu rufen. Wie alle Menschen ist sie ganz verrückt nach Eldrid. Ich habe versucht, Ludmilla dazu zu bewegen, Mina zu überreden, ihr diese Reise zu erlauben. Ich habe ihr gedroht, dass sie sonst nicht mehr nach Eldrid reisen darf.«
Ein Aufschrei der Empörung unterbrach ihn. »Damit hättest du alles ruinieren können! Wir brauchen Ludmilla!«, riefen zwei hohe Stimmen im Chor.
»Und sie ist gekommen«, fuhr Uri unbeirrt fort. Seine Stimme strahlte eine gewisse Überlegenheit aus, die selbst Ludmilla vor der Tür wahrnehmen konnte. »Selbstverständlich habe ich ihr den Weg durch den Spiegel nicht verwehrt. Ich wollte nur nichts unversucht lassen, dass Mina es zulässt. Sollte Ludmilla ihre Aufgabe annehmen und erfolgreich durchführen, brauchen wir Mina am Ende, damit sie bereitsteht. Deshalb wäre es viel einfacher, wenn sie der Sache nicht im Weg stehen würde. Aber so, wie es aussieht, müssen wir dieses kleine Detail am Schluss regeln. Zunächst muss Ludmilla ihre Hilfe zusagen. Sie darf nun auf keinen Fall in ihre Welt zurückkehren, denn Mina hat ihre Wege, Ludmilla den Weg durch den Spiegel zu versperren. Das wollen wir nicht riskieren. Jetzt geht es erst einmal darum, Ludmilla ihre Aufgabe zu erklären.«
»Und was willst du ihr erklären, Uri?«, schrie einer der hohen Stimmen schrill, so dass sie sich fast überschlug. »Wir wissen noch nicht einmal, wo er ist! Wir haben auch noch keinen Magier gefunden, der sich bereit erklärt hat, den Zauber auszusprechen. Wir sind noch nicht so weit. Sie kommt zu früh. Wir brauchen mehr Zeit.«
In diesem Augenblick flog die Tür auf und Pixi flog kichernd hindurch. »Ich grüße die hohe Gesellschaft!«, dröhnte sie äußert vergnügt, und in Ludmillas Ohr flüsterte sie: »Ich liebe es, wenn sie nicht vorbereitet sind!«
Ludmilla folgte ihr zögerlich und betrat das Zelt. Es hatte lichtdurchlässige Wände und Decken, wie aus Pergament. Das Sonnenlicht strömte gedämpft herein. Das Zelt bot einen rechteckigen Raum mit geraden Wänden bis zum Dach. Der Boden war mit einer Art Segeltuch ausgelegt. In der Mitte des Zeltes saßen vier Gestalten auf dem Boden. Ludmilla erkannte Uri sofort. Die anderen drei Wesen glichen Uri sehr. Sie waren ebenfalls zierlich und klein. Alle drei hatten sehr runzlige Haut und sahen, genau wie Uri, uralt aus. Zwei hatten schlohweiße, leicht gelockte Haare. Nur einer von ihnen war etwas rundlicher als die anderen, seine Haare waren kupferfarben und seine Haut sonnengebräunt. Seine Augen waren dunkel, und er hatte eine sehr herzliche Ausstrahlung.
Noch bevor Ludmilla einen klaren Gedanken fassen konnte, standen alle vier Gestalten vom Boden auf und wandten sich ihr zu.
Uri trat auf sie zu und begrüßte sie freundlich, wobei seine Stimme etwas Verbindliches an sich hatte: »Ludmilla, wie schön! Danke, dass du den Weg auf dich genommen hast, und entschuldige bitte, dass ich dich nicht in der Höhle empfangen konnte. Ich hoffe, Pixi hat dir den Weg hierher ein wenig versüßen können.«
Ludmilla lächelte skeptisch. Was sollten die Höflichkeitsfloskeln? Sie wussten doch alle, warum sie hier war.
Nun kamen die anderen drei ebenfalls auf Ludmilla zu. Der etwas Rundlichere stellte sich als Erster vor, indem er ihr die Hand entgegenstreckte: »Hallo Ludmilla, ich bin Bodan. Schön, dich kennenzulernen!«
Er lächelte sie dabei breit an und entblößte eine Reihe strahlend weißer Zähne. Auch er hatte ein beiges Leinenhemd mit Stehkragen an. Seine Hose war weiter geschnitten als die von Uri, und vor seinem Bauch spannte das Hemd.
Ludmilla ergriff zögerlich seine Hand und sah in die funkelnden Augen. Er hatte goldfarbene Augen wie Uri, seine waren aber dunkler, wie Schokolade mit Kupferstich. Ludmilla mochte seine Ausstrahlung. Das war also der Wächter des Solas-Spiegels. Das hatte sie sich gemerkt: fünf Spiegelfamilien für fünf Spiegel und fünf Spiegelwächter. Scathan, Taranee, Solas, Ardis und Dena. Bodan war der Spiegelwächter der Solas-Familie.
Danach stellten sich die anderen beiden Spiegelwächter vor. Kelby und Arden. Sie sahen sich zum Verwechseln ähnlich, und Ludmilla konnte sie nur schwer auseinanderhalten. Kelby und Arden waren etwas größer und noch hagerer als Uri, ihre weißen Haare waren länger und kräuselten sich auf ihren Schultern. Dafür war ihre Haut so hell wie Papier und ihre Augen so blau wie Eiswasser. Ihre Stimmen waren sehr ähnlich, wenn sie sprachen. Sie hatten genau wie Uri ein Leinenhemd mit einer schmal geschnittenen Leinenhose an. Meist redeten sie im Wechsel und ergänzten gegenseitig ihre Sätze. Das sind auf jeden Fall Brüder, wenn nicht sogar Zwillinge, dachte Ludmilla, als sie die beiden beobachtete. Und sie waren die Wächter des Ardis- und des Dena-Spiegels.
Uri lud Ludmilla ein, Platz zu nehmen. Etwas unschlüssig betrat sie den Kreis und setzte sich auf den Boden. »Das mag dir alles etwas merkwürdig vorkommen, aber wir haben nicht so schnell mit deiner Rückkehr gerechnet. Wir dachten, dass du dich mit deiner Großmutter beraten würdest.«
»Oh, das hat sie«, unterbrach ihn Pixi kichernd.
Uri warf ihr einen strengen Blick zu. Pixi verstummte, und alle fixierten Ludmilla erwartungsvoll. Als Ludmilla nicht sofort antwortete, ergriff Bodan das Wort.
»Kelby, Arden und ich sind genauso wie Uri Spiegelwächter, Ludmilla. Wir sind dafür verantwortlich, wer Eldrid betritt und wer nicht. Wir sind für den Schutz dieser Welt zuständig. Jeder von uns bewacht einen Spiegel. Wir wissen, dass Uri dir erlaubt hat, seinen Spiegel zu benutzen, und wir sind damit einverstanden. Aber wir wollten dich natürlich gerne kennen lernen.«
»Ich verstehe schon, wegen meiner Großmutter«, erwiderte Ludmilla und schaute gelassen in die Runde.
Die gleisend hellen Augen von Kelby und Arden verengten sich. Bodan fing an zu lächeln.
»Also ist das hier eine Versammlung der Spiegelwächter«, stellte Ludmilla fest und blickte die Spiegelwächter der Reihe nach an. »Dann fehlt eigentlich nur noch Zamir, oder?«, fügte sie hinzu.
Bodan gluckste. »Jetzt verstehe ich«, murmelte er vor sich hin, während Kelby und Arden Ludmilla skeptisch fixierten.
»Ganz genau«, bestätigte Uri kurz. Er wandte sich kurz Kelby und Arden zu und machte eine beschwichtigende Geste. »Ich sagte euch doch, ihre Art ist speziell. «
Kelby und Arden schienen wie erstarrt, während Bodan Ludmilla mit funkelnden Augen musterte.
Uri aber wandte sich ihr zu und erklärte sachlich: »Es gibt in Eldrid fünf Spiegel und fünf Spiegelwächter. Vier von ihnen siehst du hier vor dir, und Zamir war der Fünfte von uns. Zamir bewacht seinen Spiegel nicht mehr. Er war nicht mehr würdig, unsere Welt zu bewachen. Er bringt uns die Dunkelheit. Über den Besuch der Menschen darf er seitdem nicht mehr entscheiden.«
»Also habt ihr ihm sein Spielzeug weggenommen?«, entfuhr es ihr spöttisch. Innerlich zuckte sie zusammen. Ihr war klar, dass sie damit zu weit gegangen war.
Alle starrten sie entgeistert an. Kelby – oder war es Arden? – entfuhr ein ungläubiges Stöhnen.
»Entschuldigung. Habe ich was Falsches gesagt?«, fragte Ludmilla so unbedarft wie möglich. Blöße wollte sie sich dennoch nicht geben, auch wenn sie wusste, dass sie sich nicht korrekt verhielt. Uri sah sie streng an. Sie ignorierte seinen Blick und schaute sich stattdessen neugierig im Zelt um. So gewann sie Zeit und konnte das unangenehme Schweigen und Anstarren überbrücken.
»Warum treffen wir uns hier? Gibt es dafür einen bestimmten Grund, Uri?«, fragte sie, nachdem keiner es wagte, die angespannte Stille zu durchbrechen. Dabei merkte sie nicht, wie ihr Ton immer schärfer wurde.
Uris Hände flogen beschwichtigend durch die Luft wie die Flügel eines Vogels. Seine Finger leuchteten in dem goldenen Schimmer des Spiegels. »Eins nach dem anderen, Ludmilla!«
Aber Ludmilla funkelte ihn nur an. Sie mochte es nicht, dass er ständig ihren Namen aussprach. Sie fühlte sich auch so angesprochen. Außerdem konnte sie ihn nicht einschätzen. Er war berechnend und manipulativ. Das hatte sie durch das Belauschen herausgefunden. Und er konnte so überheblich sein, dann aber wieder herzlich und gütig.
Sie verscheuchte ihre kritischen Gedanken und erwiderte schnippisch: »Ja, natürlich. Hier geht ja alles so gemächlich zu, das hatte ich vergessen.«
Uri räusperte sich und sah sie mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Bitte, Ludmilla. Wir werden versuchen, dir alles zu erklären. Es ist kompliziert.«
Ludmilla entfuhr ein verächtliches Schnauben. »Ja, bitte. Dann erklärt es mir. Dafür bin ich nämlich hier. Nur, dass ich keine Zeit habe. Da mir keiner verraten wollte, wie ich mein Spiegelbild einsperren kann, habe ich gar nichts dergleichen getan.« Sie warf Uri einen wütenden Blick zu. »Wahrscheinlich ärgert es jetzt schon Mina. Während ich nämlich darauf gewartet habe, mit dir zu sprechen, lieber Uri«, sie konnte sich den überheblichen spöttischen Unterton nicht verkneifen, »ist wertvolle Zeit verstrichen. Zeit, in der mein Spiegelbild allerhand anstellen kann. Und ja, mir ist das zeitliche Verhältnis von eins zu zehn in dieser und meiner Welt durchaus bewusst. Aber es ist auch hier genug Zeit verstrichen, so dass auch in meiner Welt nicht nur ein paar Minuten vergangen sind. Ich habe viel riskiert dafür, dass ich jetzt hier stehe. Mina hat mir verboten, noch ein einziges Mal den Spiegel zu benutzen. Sie weiß also nicht, dass ich den Spiegel benutzt habe, beziehungsweise jetzt wahrscheinlich dank meines Spiegelbildes schon, und ich habe auch nicht ihre Erlaubnis. Sie meinte, Eldrid sei zu gefährlich.« Ludmilla schaute feindselig in die Runde.
Pixi fing an zu kichern und klatschte vor Begeisterung in die Hände. »So habe ich mir das vorgestellt!«, rief sie. »Und? Was sagt ihr nun? Ihr mächtigen Spiegelwächter!«, brüllte Pixi mit ihrer donnernden Stimme und brach dann in schallendes spöttisches Gelächter aus.
»Pixi!«, herrschte Uri sie an. Nun hatte auch er eine unüberhörbare laute Stimme.
Pixi verstummte sofort und setzte sich auf Ludmillas Schulter.
Kelby und Arden schüttelten missbilligend den Kopf und warfen Uri vorwurfsvolle Blicke zu .
»Feen!«, brachte Bodan unter unterdrücktem Lachen hervor und klopfte sich auf die Knie.
Ludmilla aber sah auffordernd von Uri zu den anderen Spiegelwächtern. »Wann gedenkt ihr denn nun, mir zu sagen, was meine Aufgabe ist?« Als keiner sofort antwortete, fuhr sie unbeirrt fort, indem sie sich nur Uri zuwandte: »Ich brauche Antworten! Mir rennt die Zeit davon. Und wenn wir schon dabei sind: Uri, diese Welt ist wirklich wunderschön und faszinierend und voller Überraschungen, aber auch voller Gefahren und Bösem. Das hast du bereits versucht, mir klarzumachen, und meine Großmutter auch. Ich habe das begriffen, das ist nicht so schwer. Aber eines interessiert mich doch brennend: Was ist in euren Augen meine Aufgabe hier? Gibt es etwas, das ich tun kann, um wiedergutzumachen, was meine Großmutter angerichtet hat und ihr nicht wieder korrigieren konntet?«
Bodan brach in schallendes Gelächter aus, während sich Kelby und Arden kopfschüttelnd erhoben. »Wie kannst du ihr vertrauen, Uri? Sie ist eine Göre. Respektlos. Sie wird die Tragödie vielleicht noch wiederholen.«
Da sprang Bodan auf. Seine Hände schrieben glühende Wogen in die Luft, dass es nur so knisterte. »Na, na, meine lieben Brüder. Das geht doch ein wenig zu weit. Sie ist keine Göre. Sie ist fünfzehn . Und sie will Antworten. Sie will nicht wie ein Kind behandelt werden. Sie will helfen. Seht ihr das nicht? Sie ist fulminant. Genauso, wie Mina fulminant war.«
Ludmilla sah Bodan erstaunt an.
»Ihr habt ihr schließlich auch vertraut«, fuhr Bodan fort. »Mina habt ihr erlaubt, Eldrid zu bereisen, und keine Bedenken gehabt.«
»Und das war ein Fehler«, unterbrach ihn Kelby scharf, oder war es Arden?
Bodan ließ sich nicht beirren.
»Ihr müsst Zugeständnisse machen, wenn ihr wollt, dass sie uns hilft. Wollt ihr euch wirklich davon abschrecken lassen, dass sie ein wenig frech ist? Sie ist nicht auf den Mund gefallen. Und sie sagt euch ihre Meinung. Sehr erfrischend. «
Er fing wieder an zu lachen und dabei lachte er aus tiefstem Herzen, so dass sein Bauch auf und ab wippte.
Uri schmunzelte kurz. Dann wandte er sich ebenfalls Kelby und Arden zu.
»Bodan hat recht.« Uri sprach mit viel Bedacht. »Habt ein wenig Geduld. Sie ist ein Mensch, vergesst das nicht. Wir haben andere Umgangsformen als in der Menschenwelt. Daran muss sich auch Ludmilla erst gewöhnen. Sie wird sich schon anpassen. Nicht wahr, Ludmilla?« Uri sah sie auffordernd an.
Ludmilla wandte sich Kelby und Arden zu und versicherte ernst und aufrichtig: »Ich möchte hier nichts Böses anrichten. Es geht doch gar nicht um mich, sondern um Minas Schatten.«
Als sie dies aussprach, erstarrten alle.
»Volltreffer!«, dröhnte Pixi und flatterte vergnügt um Ludmilla herum. Sie hatte offenbar eine Menge Spaß. Ludmilla grinste zufrieden.
»Gut kombiniert!«, trällerte Pixi ihr leise ins Ohr.
»Ich wusste ja gar nicht, dass sie schon im Bilde ist, Uri«, sagte Bodan verwundert.
Uri schüttelte langsam den Kopf. »Das ist sie nicht. Aber«, er nickte anerkennend, »du kapierst schnell, Ludmilla. Es ist nur nicht so einfach, wie du denkst. Was hat dir deine Großmutter erzählt?«
Ludmilla zuckte kurz mit den Schultern. »Alles«, erwiderte sie frech, so dass Kelby und Arden erneut aufstöhnten.
Bodan sah Ludmilla amüsiert an. »Und was ist alles?«, fragte er ernst und schaute ihr in die Augen.
Ludmilla besann sich auf die Geschichte ihrer Großmutter und wie viel sie angerichtet hatte. An diesem Punkt sollte sie keine Späße machen. Auch wenn sie diese Männchen, wie sie so da standen und äußerst wichtig taten, nicht richtig ernst nehmen konnte.
Aber sie riss sich zusammen und sagte schließlich: »Dass sie und ihre Schwester Ada von Zamir gelernt haben, den Wesen von Eldrid ihre Schatten zu nehmen und sich die Mächte anzueignen. Als sie schon sehr mächtig war und viele Mächte gesammelt hatte, stahl sie eine seltene Macht, die Zamir auch unbedingt haben wollte. Nachdem Mina sich diese Macht angeeignet hatte, stahl er ihr ihren Schatten und machte sie zu einem schattenlosen Wesen, wenn sie hiergeblieben wäre. So ist sie ein Mensch ohne Schatten in unserer Welt.« Ludmillas Stimme wurde bitter.
Es entstand eine Pause. Alle mieden Ludmillas Blicke.
»Welche Macht wollte Zamir unbedingt haben, dass dies ausschlaggebend dafür war, um Mina den Schatten zu stehlen?«, fragte Kelby plötzlich interessiert.
Ludmilla zuckte mit den Schultern. »Das weiß ich nicht. Sie vermutet auch nur, dass diese Macht ausschlaggebend für den Raub ihres Schattens war. Welche Macht das war, hat sie mir nicht gesagt, und ich habe es nicht gewagt nachzufragen.«
Arden schnaubte verächtlich. »In diesem Moment hättest du ruhig ein wenig respektloser sein können, so wie du es hier bist. Diese Information wäre wichtig für uns.«
Ludmilla sah ihn verständnislos an. »Ich dachte, ihr kennt die Geschichte. Ich konnte ja nicht wissen, dass ich sie für euch auch noch aushorchen sollte«, erwiderte sie empört.
Arden und Kelby warfen sich vielsagende Blicke zu.
Uri hob die Hände. »Genug, meine Brüder, genug!« Und zu Ludmilla gewandt flüsterte er: »Es tut mir leid. Dein Empfang sollte herzlicher ausfallen. Kelby und Arden sind etwas aufgebracht. Nimm es nicht persönlich.«
Kelby wollte gerade widersprechen, als ihn Bodan am Arm packte und ihn damit zum Schweigen brachte.
»Kelby und Arden lassen nicht viele Menschen durch ihre Spiegel«, brach es kichernd aus Pixi heraus.
Uri warf ihr einen strafenden Blick zu, und sie verstummte.
Ludmilla musste dennoch schmunzeln. Das hatte sie längst bemerkt, dass Kelby und Arden nicht viel Kontakt mit Menschen hatten.
Uri erhob sich. »Kelby und Arden müssen uns nun verlassen«, sagte er entschuldigend .
Die beiden sahen ihn erstaunt an. »Das ist sicherlich besser so. Ich kläre alles Weitere mit Ludmilla und unterrichte euch dann. Ich habe nicht den Eindruck, dass wir hier«, er machte eine Handbewegung in die Runde, »und in dieser Konstellation zu einem Ergebnis kommen werden.«
Kelbys Gesichtsausdruck veränderte sich. Zornesröte schoss ihm vom Hals bis zur Stirn, aber Arden zog ihn Richtung Ausgang.
»Uri hat recht!«, zischte Arden ihm zu. »Lass uns gehen. Wir können uns auch untereinander beraten.« Ohne ein weiteres Wort verließen sie das Zelt.
Ludmilla starrte ihnen mit zusammengekniffenen Augen nach.