Zwölftes Kapitel
Fluar
Ludmilla versuchte, ihre Gedanken zu sortieren. Hatte sie eine Wahl? Wenn sie jetzt nach Hause zurückkehren würde, würde sie nie wieder die Chance bekommen, Eldrid zu sehen und diese wunderbare Welt zu retten oder bei ihrer Rettung zu helfen. Der Plan hörte sich irrsinnig an. Er spiegelte die Verzweiflung der Wesen wider und die Aussichtslosigkeit des Kampfes gegen die Dunkelheit. Konnten sie denn überhaupt etwas gegen die Dunkelheit tun, außer Zamir und Godal zu bekämpfen? Gab es nicht noch einen anderen Weg, als Godal wieder an Mina zu binden? Und wieso konnte Mina das nicht selbst machen? Ach ja, weil sie inzwischen gealtert war und Godal sie nicht als seine Herrin erkennen würde. Oder? So oder so, das, was die Spiegelwächter mit ihr vorhatten, das war WAHNSINN. Selbst ohne Zamir oder Godal zu kennen, hörte es sich nach blankem Irrsinn an. Aber was erwartete sie in ihrer Welt? In keinem Fall bessere Umstände. Denn zurück in das Haus ihrer Eltern wollte sie auf keinen Fall.
Noch während sie das Für und Wider abwägte, erhob sich Uri und sah sie aufmunternd an. »Ich habe einen Vorschlag. Du musst dich nicht sofort entscheiden. Das erwartet keiner von dir, und wir müssen noch einige Details klären, wie du selbst betont hast. Ich werde morgen in den sphärischen Teil von Eldrid reisen, um einen Magier aufzusuchen. Wieso begleitest du mich nicht? Wir kommen auf dem Weg an der Stadt vorbei, und du könntest dir die Stadt anschauen. Morgen früh brechen wir dann in den sphärischen Teil auf, der hinter dem Gebirge liegt. Das ist für die Wesen von Eldrid der schönste Teil unserer Welt. Er wird dir bestimmt gefallen, und vielleicht können wir gemeinsam den Magier überzeugen, uns zu helfen. Was meinst du? Mach dir ein umfassenderes Bild von Eldrid. Ob du nun noch ein paar Stunden länger hierbleibst oder nicht, ändert an der Situation bei dir zu Hause nichts, oder?«
Ludmilla überlegte. Das hörte sich vernünftig an. Nein, jetzt zurückzugehen, bevor sie sich überhaupt entschieden hatte, machte tatsächlich keinen Sinn. Mina musste längst bemerkt haben, dass sie weg war. Da kam es auf ein paar Stunden mehr oder weniger nicht an.
»Also gut.« Sie stand ebenfalls auf. »Zeig mir die Stadt, und ob ich mit in den sphärischen Teil komme, kann ich mir immer noch überlegen«, sagte sie bestimmt.
Uri schlug zufrieden in die Hände, so dass Pixi einen Freudenschrei ausstieß und durch das Zelt brummte. Uri klatschte ein weiteres Mal, und das Zelt verschwand. Sie standen wieder auf der Waldlichtung, und er setzte sich augenblicklich in Bewegung.
»Auf nach Fluar! Wir sehen uns dort, Bodan!«, rief er mit einer winkenden Handbewegung und war im Nu am Rand der Lichtung angekommen.
»Kommst du denn nicht mit?«, fragte Ludmilla Bodan.
Der schüttelte den Kopf. »Wir treffen uns in der Stadt. Ich habe hier noch etwas zu erledigen«, brummte er seufzend und verschwand in der entgegengesetzten Richtung im Wald.
Pixi saß vergnügt auf Ludmillas Schulter und hatte sich mit einer Haarsträhne gesichert. Uri lief ständig voraus und trieb sie zur Eile an. »Es ist nicht weit. Aber wir müssen uns etwas beeilen. Die Sonne geht bald unter, und dann beginnt ein einmaliges Treiben in der Stadt, das solltest du dir nicht entgehen lassen!«
Uri hatte recht. Sie kamen schnell aus dem Wald heraus, liefen an Wiesen und Feldern vorbei, und Ludmilla konnte am Ende des Tals ein gewaltiges golden glänzendes Gebirge erkennen. Zielstrebig liefen sie darauf zu .
Schon von weitem erkannte sie die Stadt. Fluar! Es war eine riesige Stadt, deren Häuser sich am Fuß des Gebirges und bis in das Gebirge hinauf verteilten. Im Tal standen sie weit auseinander, während sie sich weiter oben dicht an das Gebirge drängten. Ludmilla war sich nicht sicher, ob es die Sonnenstrahlen waren, die die Stadt goldfarben anstrahlten, oder ob es die Farbe der Häuser war, die so leuchtete.
Kurz vor Anbruch der Dunkelheit erreichten sie dann die ersten Häuser der Stadt. Dabei kam es Ludmilla nicht wie Dunkelheit vor. Der Himmel war klar, nur die Sonne hatte sich verzogen, aber am Himmel zogen goldene Fäden auf, wie Nordlichter in den verschiedensten Goldtönen. Es war ein unglaubliches Schauspiel, das die Welt in ein ganz besonderes Licht tauchte. Die Häuser der Stadt waren zusätzlich hell erleuchtet, und warmes Licht floss über die mit Kopfsteinen gepflasterten Straßen. Ludmilla fühlte sich zurückversetzt in eine andere Zeit. Die Häuser waren teilweise aus Lehm, teilweise aus Holz gebaut. Auch waren sie unterschiedlich groß und hoch, eine Aneinanderreihung verschiedenster Bauten. Manche Häuser standen frei, andere wiederum lehnten sich aneinander. Bei manchen konnte Ludmilla einen Blick in die Gärten werfen. Sie waren durchweg sehr gepflegt, strahlten in den schönsten Grüntönen und beherbergten so manches Haustier, auch Hühner und Gänse. Zumindest sahen sie wie Hühner und Gänse aus. Als Ludmilla Pixi fragend ansah, lachte diese nur ihr glockenhelles Lachen.
»Ja, das sind ganz normale Hühner und Gänse, so wie in deiner Menschenwelt. Es gibt hier auch Hunde und Katzen und noch andere Tiere, die es sowohl hier als auch bei euch gibt. Nicht jedes Lebewesen hier ist magisch, aber viele«, erklärte sie fröhlich, als hätte sie Ludmillas Gedanken gelesen.
»Woher weißt du, dass ich dich das fragen wollte?«, fragte Ludmilla erstaunt.
Und wieder lachte Pixi vergnügt und antwortete: »Weil das alle Menschen fragen. In dieser Hinsicht seid ihr alle gleich. «
Ludmilla musste lächeln. Das war wohl so.
Jedes Haus hatte eine hölzerne Tür, die mit Verzierungen versehen war, ähnlich wie der Rahmen des Spiegels. Ludmilla wäre zu gern stehen geblieben und hätte die Türen näher betrachtet, aber Uri zog sie weiter.
Die Straßen waren gefüllt mit den unterschiedlichsten Wesen, die alle in dieselbe Richtung strömten. Es gab Wesen, die waren riesig groß, Riesen, wie Ludmilla vermutete, aber auch große langgestreckte, fast durchsichtige Wesen, außerdem gab es kleine, dünne, dicke, blau schimmernde, lila schimmernde und natürlich auch golden schimmernde Wesen. Einige sahen menschlich aus, auch wenn sie es wahrscheinlich nicht waren. Ludmilla wusste gar nicht, wo sie zuerst hinschauen sollte, und Pixi hatte es längst aufgeben, ihr zu erklären, welches Wesen mit welchen Fähigkeiten sich gerade vor ihnen bewegte. Es waren einfach zu viele.
Uri führte Ludmilla und Pixi in die Richtung, in die alle Wesen strömten: in das Herz der Stadt, zum Marktplatz. Dort versammelten sich die Wesen um ein riesiges Feuer. Ludmilla kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Da standen mehrere Riesen und ebenso viele Gaukler in altertümlichen Kostümen, die mit Kegeln jonglierten. Die Gaukler hatten spitze Ohren und spitze Nasen, ansonsten sahen sie menschlich aus. Außerdem gab es zwei Feuerspucker und einige Zwerge, die auf Stelzen im Kreis um das Feuer herumliefen. Auch sie waren gekleidet wie es Ludmilla nur aus alten Bilderbüchern ihrer Großmutter kannte. Die Gaukler hatten sogar Harlekinmützen mit Glöckchen auf. Es fehlte nur noch einer dieser Leierkästen, der die entsprechende Musik zu diesem Bild geliefert hätte. Stattdessen aber sangen oder summten die Umherstehenden eine bestimmte Melodie. Einer der Gaukler spielte die Melodie auf einer Querflöte und hüpfte um das Feuer herum. Die Wesen schwangen dazu im Takt und bestaunten das lustige Treiben der Schausteller.
Ludmilla stellte sich an den Rand der Schaulustigen, die einen Kreis gebildet hatten. Fasziniert starrte sie die verschiedenen Wesen an und bemerkte dabei nicht, dass sich Pixi von ihr löste und in Richtung des Feuers flog. Uri schrie auf und rannte hinter ihr her. Ludmilla fuhr zusammen und blickte Uri verständnislos nach. Erst Sekunden später begriff sie, dass sie hinter ihm herrennen musste, um ihn nicht zu verlieren. Aber zu spät. Uri war in der Masse untergetaucht. Ludmilla blieb stehen, stellte sich auf die Zehenspitzen und versuchte über die Menge hinwegzuschauen, was ihr jedoch nicht gelang. Weder Uri noch Pixi waren zu entdecken.
Dann kam plötzlich Bewegung in die Menge. Ein Riese tauchte in der Nähe des Feuers auf. Er bewegte sich mit sehr schnellen wendigen Bewegungen auf das Feuer zu und nahm etwas sehr Kleines, das gerade im Begriff war, in das Feuer zu fliegen, behutsam in die Hand. Er fing die kleine Fee wie eine Fliege und umschloss sie mit beiden Händen, ohne sie zu zerdrücken. Vom Inneren der gewölbten Hände dröhnte eine tiefe und unglaublich laute Stimme nach außen.
Ludmilla konnte nicht verstehen, was Pixi von sich gab, aber offensichtlich fluchte sie.
Es ertönte Applaus von den umherstehenden Wesen, der Riese lächelte freundlich und verneigte sich. Er war sehr massig, hatte dunkle, mittellange Haare und eine knubbelige Nase im Gesicht. Seine Augen waren klein und hell. Er trug ein kariertes Hemd und eine helle Hose. Er warf einen langen, suchenden Blick in die Menge, bis er Ludmilla entdeckte. Er fixierte sie und steuerte langsam, aber gezielt auf sie zu. Ludmilla war wie erstarrt. Hilfesuchend schaute sie sich nach Uri um. Der Riese bahnte sich einen Weg durch die Menge, so dass eine Gasse entstand, und plötzlich hatte sich ein Kreis um Ludmilla gebildet. Von allen Seiten wurde sie angestarrt, und es wurde schlagartig still. Nur das knackende und zischende Geräusch des Feuers war zu hören.
Dann ertönte ein Flüstern: »Das ist doch die Schattendiebin!«, und von einer anderen Seite hörte sie: »Ja, das ist sie. Sie sieht genauso aus. Sie muss es sein! «
Ludmilla wurde es eiskalt. Als würde sie plötzlich ein sehr kalter Wind umhüllen. Wo war Uri?
Wie aus dem Nichts stand er plötzlich neben ihr. Das Feuer spiegelte sich in seinen Brillengläsern, und er lächelte. Hatte er das Geflüster nicht gehört?
»Es ist alles in Ordnung, Ludmilla. Ich hätte dir sagen sollen, dass Feen wie Pixi vom Feuer magisch angezogen werden. Wie Motten vom Licht. Man muss sie dann daran erinnern, dass sie sich ihre schönen Flügel verbrennen können, wenn sie dem Feuer zu nah kommen.«
Seine Worte hatten die Stille nicht durchschnitten, obwohl Ludmilla das sehr recht gewesen wäre. Das Geflüster war verstummt. Jetzt wurde Ludmilla nur noch von allen Seiten angestarrt, und der Kreis zog sich enger um sie und Uri zusammen. Ludmilla empfand die Stille als gespenstisch und fühlte die Blicke der Umstehenden wie Pfeilspitzen auf ihrem Körper.
Kurz darauf hatte der Riese sie erreicht, ließ sich auf ein Knie hinab und setzte Pixi ganz vorsichtig auf Ludmillas Schulter ab. Er hatte Ludmilla bisher freundlich angeschaut, doch nun versteinerte sich sein Gesicht.
»Dich kenne ich doch!«, dröhnte er plötzlich und richtete sich zu seiner vollen Größe auf. Er beugte sich drohend über sie, als wollte er sie mit seinem eigenen Körper erdrücken. Der Riese schnaufte und bebte vor Wut.
»Ja, das ist sie!«, riefen jetzt mehrere Wesen. »Das ist eine der Schattendiebinnen! Ergreift sie!«
Uri schob sich an Ludmilla vorbei und stellte sich schützend vor sie. »Nein, nein, das ist sie nicht!«, rief er, und seine Stimme wurde sehr laut. »Rühre sie nicht an! Das ist sie nicht! Sie gehört zu mir!«, herrschte er den Riesen an. Der Riese richtete sich wieder auf und machte einen Schritt zurück.
Uri fühlte noch, wie Ludmilla von ihm weggerissen wurde. Mehrere Wesen hatten sie gepackt und in die Luft gehoben. Viele Hände stützten ihren Körper und trugen sie weg .
»Schattendiebin! Schattendiebin!«, raunten die Wesen unentwegt und trugen sie zum Feuer. Ludmilla fühlte die vielen Hände an ihrem Körper, die sie trugen. Sie hatten sie fest gepackt, so dass sie sich nicht wehren konnte.
»Uri!«, schrie Ludmilla panisch. »Uri, hilf mir!«
Uris Stimme hallte über den gesamten Platz. »Stopp!«, donnerte er. Der Boden erzitterte. Er saß auf der Schulter des Riesens, der Pixi gerettet hatte. Der Riese bahnte sich grob einen Weg durch die Menge, indem er die Wesen mit seinen riesigen Händen einfach wegschob. Ludmilla war dem Feuer schon gefährlich nahe, als die Hände zum Stillstand kamen.
Ein Raunen erhob sich. »Das ist Uri!«, und: »Er ist tatsächlich hier!«, und: »Warum beschützt er die Schattendiebin?«
»Lasst sie runter!«, befahl Uri.
Der Riese hatte Ludmilla erreicht und streckte seine Hände nach ihr aus. Vorsichtig löste er ihren Körper aus der Umklammerung. Ludmilla spürte, wie eine Hand nach der anderen von ihr abließ. Gerade als sie ihren Arm befreit hatte und sich um die Hand des Riesen schlang, traf sie ein Schwall aus Feuer. Ludmilla sah das Feuer auf sich zuschießen und nahm schützend ihren Arm vor ihr Gesicht. Das Feuer traf ihren Unterarm und fraß sich in die Haut. Ludmilla schrie auf und versuchte, die Flamme von ihrem Arm zu schlagen. Einer der Feuerspucker lachte triumphierend auf.
Pixi kam ihr zur Hilfe. Sie atmete tief ein, ihre Wangen füllten sich mit so viel Luft, dass sie ballonartig anschwollen, und blies das Feuer mit einem Atemzug aus. Ludmillas Gesicht war schmerzverzerrt, und sie hielt sich ihren zischenden Unterarm, während der Riese sie zusammen mit Uri aus der Menge trug.
Am Rand des Marktplatzes setzte er die beiden behutsam auf den Boden. Uri nickte ihm zu, während der Riese unwillig brummte und mit versteinerter Miene vor ihnen stehen blieb. Er hatte einen dumpfen Ausdruck in den Augen und wandte seinen Blick nicht von Uri ab.
Sekunden später hatte sich ein enger Kreis um sie gebildet. Nervös schaute Ludmilla um sich. Sie kamen von allen Seiten und starrten Ludmilla mit hasserfüllten Augen an. Pixi piepste auf und versteckte sich in Ludmillas Haaren. Ludmillas Herz raste, sie hatte Angst, und der Schmerz breitete sich in ihr aus. Sie bekam ein dumpfes Gefühl.
»Wieso beschützt du sie?«, fragte einer der Gaukler herausfordernd.
Uri hob den Kopf, sein ganzer Körper streckte und spannte sich.
»Wer bist du, dass du es wagst?«, polterte er los, seine Augen sprühten Funken hinter den Brillengläsern.
Der Gaukler wich zurück. Der Kreis wurde etwas gelockert, und alle umstehenden Wesen neigten den Kopf.
»Wie ich bereits sagte: Das ist sie nicht. Sie ist weder die eine noch die andere. Es ist ihre Enkeltochter und ICH habe ihr Einlass gewährt. Stellt ihr meine Entscheidungen etwa in Frage?«
Keiner wagte zu widersprechen.
Uri nickte zufrieden. »Weitermachen!« Seine Stimme war streng und befehlend.
Die Gaukler warfen sich missmutige Blicke zu. Dennoch fingen sie an, sich wieder unter die Menge zu mischen. Die Melodie ertönte, und langsam fingen die Umherstehenden an zu summen oder zu singen. Der Kreis löste sich zwar auf, jedoch konnten viele ihre Augen nicht von Ludmilla abwenden und tuschelten. Das Treiben der Gaukler war uninteressant geworden. Ludmilla wurde argwöhnisch beäugt und jede ihrer Bewegungen beobachtet. »Ist sie es wirklich nicht?« »Sie sieht ihr so ähnlich!« »Könnt ihr ihren Schatten sehen?« »Hat sie Mächte so wie die anderen beiden?« Solche Sätze und noch viele andere konnte Ludmilla aufschnappen. Ihr lief es eiskalt den Rücken hinunter. Sie stand immer noch hinter Uri und konzentrierte sich auf den Schmerz in ihrem Unterarm.
Uri drehte sich zu ihr um. »Es tut mir leid. Damit hatte ich nicht gerechnet. Und erst recht nicht in dieser Form. Lass uns hier verschwinden«, murmelte er ihr zu. Er sah ihr dabei eindringlich in die Augen .
»Zeige keine Angst!«, hörte sie seine Stimme in ihrem Kopf. »Sei so stolz und stark, wie du sonst auch bist. Neige nicht den Kopf!«, hallte es.
Sie erstarrte. Wie kam seine Stimme in ihren Kopf? Ihr Arm brannte und pochte wie wild. Tränen standen ihr in den Augen. Sie musste jetzt auf ihn hören. Also nickte sie nur und hob den Kopf. Sie blickte den umherstehenden Wesen herausfordernd in die Augen.
Sanft, aber bestimmt schob Uri sie aus der Menge heraus. Er gab dem Riesen einen Wink mit dem Finger, ein goldener Strahl fuhr heraus und blieb im Gesicht des Riesen hängen. »Sorge dafür, dass uns keiner folgt, dann gebe ich dich frei!«
Der Riese brummte erneut und trottete hinter ihnen her. Sehr widerwillig bildete sich eine Gasse, so dass sie den Marktplatz verlassen konnten. Pixi thronte auf Ludmillas Schulter und schnitt Grimassen.
Gerade als sie in eine Straße einbiegen wollten, ertönte hinter ihnen eine Stimme. Ein Gaukler war ihnen gefolgt, aber er kam nicht an dem Riesen vorbei. Also schrie er ihnen hinterher: »Wolltest du nicht unser Schauspiel betrachten? Geziemt es sich nicht für den mächtigen Spiegelwächter Uri, einen Moment zu verweilen und den Schaustellern seinen Respekt zu erweisen?«
Der Spott, der in der Stimme mitschwang, war nicht zu überhören. Er schob seinen Kopf an dem Bein des Riesen vorbei und starrte Uri provozierend an. Hinter ihm standen mehrere Gaukler und auch der Feuerspucker, der Ludmilla verletzt hatte.
Ludmilla hielt sich den Unterarm und biss die Zähne zusammen. Sie hatte Mühe, nicht den Kopf zu neigen, so viel Hass strömte ihr entgegen. Sie schob herausfordernd das Kinn nach vorn und schielte zu Uri.
Uri bebte vor Zorn. Goldene Funken sprühten von seinem ganzen Körper, wie von einer Wunderkerze. Langsam drehte er sich um. Seine Funken fielen zischend zu Boden. Er zog seine Brille von der Nase und fixierte den Gaukler. »Willst du dich mit mir messen? «
Der Gaukler wich zurück. Uris Stimme hatte ihn taumeln lassen, wie von einer starken Windböe. Er schüttelte den Kopf und verneigte sich. »Verzeih, ich weiß nicht, warum ich das sagte oder tat. Es ist nur …«, stammelte er.
Uris Hand wedelte durch die Luft wie ein Fächer, erneut fiel ein Funkenregen zu Boden. Die Wesen wichen zurück.
»Genug!«, bebte Uri. Wie ein Echo wiederholte die Stadt seine Worte: »Die Schattendiebinnen gibt es nicht mehr. Das ist lange her! Wir haben jetzt andere Feinde, die wir bekämpfen müssen. Bekämpft nicht die, die uns helfen wollen. Wir«, er machte eine eindrucksvolle Pause, »müssen gemeinsam gegen die verdunkelnde Macht kämpfen. Unser Licht soll weiterhin in Eldrid strahlen.«
Mit diesen Worten fing er an, die Melodie zu summen, die Ludmilla schon so oft in Eldrid gehört hatte. Wenig später erfüllte die ganze Stadt, sämtliche Straßen und Häuser diese Musik. Jedes Wesen, jedes Tier schien diese Melodie zu summen. Uri aber nahm Ludmillas Hand und zog sie in eine Gasse hinein.