Dreizehntes Kapitel
Minas Problem
Mina saß vor der Tür des Spiegelzimmers und hörte Ludmillas Spiegelbild toben. Sie hatte ihren Kopf an die Tür gelehnt, und Tränen liefen ihr über die Wangen. Sie machte sich große Vorwürfe. Warum hatte sie das Zimmer nicht sofort nach dem Gespräch mit Ludmilla abgeschlossen? Sie hätte wissen müssen, dass sich Ludmilla von dem Verbot nicht abhalten lassen würde. Sie kannte ihre viel zu neugierige und überhebliche Enkelin. Ludmilla war sich noch nie einer Gefahr bewusst gewesen. Schon als kleines Kind war sie auf den höchsten Baum geklettert und hatte sich erst oben überlegt, wie sie da wieder runterkommen würde. So war es heute noch immer. Ludmilla dachte nie über die Konsequenzen ihres Handelns nach.
Während Mina darüber nachdachte, kroch der Zorn wieder in ihr hoch. Sie war zornig auf sich selbst, aber auch voller Zorn auf Ludmilla. Selbst die Androhung des Rausschmisses hatte sie nicht davon abgehalten zu gehen. Mina hasste Drohungen. Noch mehr hasste sie es, die Drohungen wahr zu machen. Und jetzt? Jetzt saß sie hier, musste sich mit diesem miesen Abbild ihrer Enkeltochter abgeben und wusste nicht, wie es weitergehen sollte.
Zum Glück war es ihr gelungen, das Spiegelbild in das Zimmer einzuschließen. Sie hatte relativ schnell gemerkt, dass es nicht Ludmilla war, die sie durch viel Gepolter mitten in der Nacht geweckt hatte. Mina war einiges an Frechheiten von ihrer Enkelin gewohnt, aber das Spiegelbild hatte es übertrieben. Maßlos übertrieben. Das taten Spiegelbilder immer. Mina hatte das Spiegelbild in das Zimmer gelockt mit der Behauptung, dass Ludmilla gleich zurück sei und sie dann ihr Spiegelbild brauche. Außerdem hatte sie ihm versprochen, den Spiegel zum Leuchten zu bringen. Das war das Einzige, was alle Spiegelbilder wollten. Das Leuchten des Spiegels sehen und natürlich nach Eldrid reisen.
Mina hatte den Spiegel nicht zum Leuchten gebracht. Auch hatte sie dem Spiegelbild nicht erzählt, dass es nicht nach Eldrid reisen kann und darf. Stattdessen hatte sie es in das Zimmer gelockt und kurzerhand die Tür abgeschlossen. Und nun saß sie davor und hörte dem Toben und Schreien von Ludmillas Spiegelbild zu.
Selbstverständlich hatte sie sich die genaue Uhrzeit aufgeschrieben. Zumindest die Uhrzeit, als sie gemerkt hatte, dass Ludmilla nach Eldrid gereist war. So konnte sie nachrechnen, wie viele Stunden oder sogar Tage Ludmilla in Eldrid war. Eins zu zehn. Das hatte sie nicht vergessen. Sie hoffte inständig, dass Ludmilla bald wieder nach Hause kommen würde. Und wenn nicht? Was, wenn zu viel Zeit verstrich und Ludmilla vermisst wurde? Von der Schule? Von ihren Eltern?
Und sie hatte noch ein weiteres Problem: Ludmillas Spiegelbild war nun aus Fleisch und Blut. Es würde essen, schlafen, sich waschen müssen wie ein richtiger Mensch. Dazu müsste sie es aus dem Zimmer rauslassen. Und dann? Würde es kooperieren?
Was für ein Albtraum!