Fünfzehntes Kapitel
Lando
Ludmilla blickte fragend in die Runde. »Wer kommt denn?«, fragte sie neugierig.
»Bitte iss«, forderte Bodan sie auf, statt ihr zu antworten. »Du musst dich erholen und stärken. Ich habe die Suppe selbst zubereitet«, fügte er stolz hinzu.
Und noch bevor Ludmilla eine weitere Frage stellen konnte, klopfte es drei Mal sehr kräftig an der Tür.
»Na endlich!«, stieß Uri genervt hervor und riss die Tür auf.
Ein hochgewachsenes schlankes Wesen mit sehr blasser Haut, die blaulila schimmerte, trat ein. Es musste sich etwas bücken, sonst hätte es nicht durch die Tür gepasst. Aber Bodans Haustür war auch eher für die Größe von Spiegelwächtern gemacht. Das Wesen war groß, aber nicht so groß wie ein Riese. Seine Bewegungen waren fließend, so als würde es über den Boden gleiten. Sein hagerer Körper steckte in einem engen Shirt mit Stehkragen aus Leinen, ähnlich wie das der Spiegelwächter, und einer schmalen Leinenhose, die oberhalb der Knöchel endete. Sein Kopf war schmal und lang mit sehr kurzen braunen Haaren. Die Augen leuchteten hell und waren fast durchsichtig. Er schien jung zu sein. Vielleicht nur ein, zwei bis drei Jahre älter als Ludmilla.
Bodan sprang auf und umarmte das Wesen freudig. Dabei musste er sich ziemlich strecken und stellte sich auf die Zehenspitzen, während er ihm auf die Schulter klopfte
.
»Das ist Lando«, erklärte er und strahlte Ludmilla an. »Lando, das ist Ludmilla.«
Ludmilla betrachtete Lando skeptisch. Was für ein Wesen stand hier vor ihr?
In diesem Moment wandte sich Lando ihr zu und seine Augen blitzen auf. Hatte er zwei unterschiedliche Augenfarben? Bevor sie sich darüber noch weitere Gedanken machen konnte, glitt er auf sie zu und musterte sie von oben bis unten. Sein Blick verriet Neugier, dennoch lehnte sich Ludmilla instinktiv zurück und verschränkte ihre Arme. Nach dem Vorfall auf dem Marktplatz war sie sich nicht sicher, ob wirklich so viele Wesen von Eldrid ihr wohlgesinnt waren. Dennoch wollte sie sich keine Blöße geben. Sie nahm ihren gesamten Mut zusammen und schob herausfordernd das Kinn nach vorn. »Ich bin ein Mensch, falls du es noch nicht bemerkt haben solltest«, blaffte sie ihn an. »Und Menschen mögen es in der Regel nicht, so begutachtet zu werden, wie du es gerade tust.«
Lando hob spöttisch eine Augenbraue und fing an zu grinsen. Dabei kam eine Reihe strahlend weißer Zähne zum Vorschein. Er fixierte Ludmilla mit seinen verschiedenfarbigen Augen – tatsächlich war ein Auge blau und das andere grün – und kam immer näher an sie heran.
»Ich weiß«, hauchte er schließlich, während er sich auf den Stuhl neben Ludmilla schob. Er ließ sie dabei nicht aus den Augen. Vielmehr rückte er ganz nah an sie heran. Ludmilla starrte fasziniert in diese Augen.
Bodan räusperte sich und schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. »Lando«, ermahnte er ihn, »Ludmilla hat recht. Hör auf damit!«
Ludmilla warf er einen entschuldigenden Blick zu. »Er ist ein Formwandler. Und sehr neugierig.«
»Ja, das bin ich, danke, Bodan«, murmelte Lando, während er seine Augen nicht von Ludmilla abwandte. Er hatte eine sehr tiefe, angenehme Stimme, die in der Luft zu schwingen schien. »Beides«, fügte er mit einem leisen Lachen hinzu
.
Ludmilla versuchte, von ihm abzurücken, und hob an, etwas zu sagen, da ließ sich Lando nach hinten fallen.
»Und dieses Exemplar hier ist unverkennbar eine Scathan. Sie sieht aus wie die Schwestern«, stellte er sachlich fest.
»Das ist nicht das erste Mal, dass ich das höre«, erwiderte sie frech, aber ihre Stimme klang krächzend. Ganz davon abgesehen, dass Ludmilla keine Ähnlichkeit zwischen Mina und sich feststellen konnte.
Sie lehnte sich weiter zurück und versuchte Lando ebenfalls genau zu betrachten. »Ein Formwandler also?«, wiederholte sie langsam mit skeptischem Unterton.
Zu gern hätte sie diese schimmernde Haut berührt, die so aussah, als wäre sie aus flüssigem Glas.
Lando schaute sie erstaunt an, hob erneut seine blassen Augenbrauen und schmunzelte. »Und frech ist sie auch noch, wie wunderbar!«, dröhnte er amüsiert.
Ludmilla konnte sich ein triumphierendes Lächeln nicht verkneifen.
»Er kann sich in jedes Tier und jedes Wesen verwandeln«, piepste Pixi und flog singend um Lando herum.
Lando grinste verschmitzt. »So ist es, in jedes!« Er zwinkerte ihr selbstgefällig zu. Ludmilla versuchte, ihm einen abschätzigen Blick zu schenken, was ihr offenbar nicht gelang, denn Landos Lächeln wurde immer breiter. Formwandler waren anscheinend sehr von sich überzeugt. Oder vielleicht auch nur dieser? Ein Formwandler. Sie musste ihre Gedanken sortieren. Lando verwirrte sie. Dieses gut aussehende Wesen neben ihr machte sie nervös.
»Also, was braucht ihr?«, fragte er leicht überheblich, während er sich Bodan und Uri zuwandte und mit den Handflächen auf den Tisch trommelte. Er hatte sehr schlanke lange Finger, ähnlich wie die Spiegelwächter, aber seine Fingernägel leuchteten nicht golden.
Uri holte tief Luft. »Du musst ihn für uns ausspionieren«, antwortete er ohne Umschweife. Dann beugte er sich zu Lando nach
vorn, wobei er sich mit den Händen auf den Tisch stützte. »Und ich will, dass du vorsichtig bist. Keine Leichtsinnigkeit, hast du mich verstanden?«, zischte er ihn herrisch an.
»Du schickst ihn in den dunklen Teil?«, piepste Pixi ungläubig dazwischen. »Gerade jetzt? Es wird immer gefährlicher.« Vorwurfsvoll stemmte sie ihre Hände in die Hüften und flatterte vor Uri und Bodan auf und ab.
Aber Lando winkte ab. »Sorge dich nicht um mich, Pixi. Das ist überhaupt kein Problem.« Er ließ sich lässig mit etwas zu viel Schwung nach hinten fallen und wäre fast mit dem Stuhl umgekippt, der offenbar für so große Wesen nicht gemacht war. Ludmilla konnte sich ein Kichern nicht verkneifen, als er umständlich und nicht sehr lässig Halt am Tisch suchte. Er warf ihr einen verärgerten Blick zu, und sie verstummte.
»Darf ich den Grund erfahren?«, fragte er sachlich und fixierte Uri. Bodan wiegte nervös den Kopf hin und her.
Uri fixierte Lando mit seinen glühenden Augen und sagte bestimmt: »Zamir darf nicht wissen, dass Ludmilla hier ist. Vor allem darf es Godal nicht erfahren. Wir brauchen das Überraschungsmoment. Godal interessiert sich nicht für Menschen, das wissen wir. Aber Zamir wird sich für Ludmilla interessieren. Wir sollten versuchen, es so lange wie möglich geheim zu halten. Deshalb müssen wir wissen, was er treibt.«
»Und wir müssen auch wissen, was er weiß
«, fügte Bodan bedacht hinzu.
Pixi lachte spöttisch auf. »Entschuldige bitte, Uri, aber meinst du wirklich, dass er es nach dem Vorfall auf dem Marktplatz nicht schon längst weiß? Ludmilla hat so viel Aufsehen erregt, und du hast es doch hinausposaunt, wer sie ist.« Pixi schnaubte abfällig. »Da war bestimmt auch der eine oder andere seiner Spione dabei, die ihm in dieser Sekunde alles berichten.«
Lando runzelte die Stirn. »Marktplatz? Vorfall? Was ist passiert?«
Uri funkelte Pixi böse an. »Das mag sein«, blaffte er sie an. »Aber
so viele Spione hat er in diesem Teil von Eldrid nicht. Sie wagen sich nicht nach Fluar vor. Das wissen wir. Vielleicht haben wir Glück. Auf jeden Fall sollten wir wissen, ob er es weiß, und wenn ja, was er weiß. Oder siehst du das anders, Pixi?«
Pixi streckte beleidigt die Nase in die Luft, wobei ihr ein schrilles »Pah!« entfuhr, und verzog sich auf den oberen Rand des Küchenschranks.
Bodan aber nickte zustimmend. »Wir müssen in jedem Fall wissen, was er gerade im Schilde führt, und wenn möglich auch, wie viel er weiß.«
»Was ist auf dem Marktplatz passiert?«, fragte Lando hartnäckig. Als niemand ihm antworten wollte, wandte er sich Ludmilla zu. Er rückte wieder etwas näher und sah ihr tief in die Augen. Ludmilla war so perplex, dass sie seinen Blick erwiderte. Lando sah sie verschwörerisch an und flüsterte: »Die Spiegelwächter tun mal wieder geheimniskrämerisch. Aber du erzählst mir doch, was passiert ist, oder?«
Ludmilla hörte zwar seine Worte, konnte aber ihren Blick nicht von seinen Augen lösen. Seine tiefe schwingende Stimme tat ihr Übriges. Erst als er auffordernd die Augenbrauen hob, erwachte sie aus ihrer Erstarrung. Sie schüttelte sich innerlich und rückte von Lando ab. Was machte dieser Formwandler mit ihr? Er musste irgendwelche hypnotischen Fähigkeiten haben. Aber dann hatte sie sich wieder im Griff.
»Selbstverständlich«, flüsterte sie genauso verschwörerisch zurück. Dann räusperte sie sich und sagte mit fester Stimme: »Aber so, wie ich das mitbekommen habe, gibt es auch in dieser Welt das Wort ›bitte‹.«
Lando legte den Kopf in den Nacken und lachte schallend auf. Sein Lachen klang wie eine tiefe alte Glocke, hatte etwas Brummendes an sich und wirkte genauso ansteckend wie das von Pixi. Uri und Bodan tauschten verständnislose Blicke aus.
»Bitte!«, flehte Lando und deutete eine Verbeugung vor Ludmilla an
.
Ludmilla konnte sich ein breites Grinsen nicht verkneifen. Doch dann fiel ihr Blick auf ihren Arm, und das Lachen blieb ihr im Halse stecken. Sie schluckte kurz, und dann erzählte sie leise, was geschehen war: »Auf dem Marktplatz haben mich alle für meine Großmutter gehalten. Sie haben uns eingekreist. Irgendwie schafften sie es, uns zu trennen, und trugen mich zum Feuer. Was wollten sie da eigentlich mit mir? Wollten sie mich etwa verbrennen?« Ihre Stimme war bei der Frage laut geworden, und sie sah Uri fragend mit aufgerissenen Augen an.
Uri hob die Augenbrauen und Schultern gleichzeitig.
Ehe er antworten konnte, fuhr Pixi dazwischen: »Mach dir darüber keine Gedanken, Ludmilla. Wichtig ist, dass Uri die Situation retten konnte. Aber es war beängstigend, Lando. Uri musste seine Macht demonstrieren und hat den Wesen erklärt, dass Ludmilla nicht eine der Schwestern ist. Die Städter waren dennoch sehr aufgebracht, und dann traf ein Feuerspucker Ludmilla am Arm und brandmarkte sie. Wir mussten Amira rufen, um den Arm zu heilen.«
Lando sprang aufgebracht auf. »Eine Markierung von einem Feuerspucker?« Rote Funken sprangen von seinen Wangen. Zornig ergriff er Ludmillas Arm. »Welcher Arm ist es?«, herrschte er sie an.
Ludmilla nickte nur erstaunt, er hatte den richtigen Arm bereits in der Hand.
Seine Augen zogen sich zusammen. »Lass mal sehen!«, forderte er.
Ludmilla zeigte ihm die geheilte Stelle und das verbliebene Zeichen. Minutenlang inspizierte er die Stelle, drehte den Arm hin und her und ging mit dem Auge so nah heran, als hätte er eine Lupe in der Hand.
Im Raum war es mucksmäuschenstill, während Ludmilla nervös den Anhänger ihrer Kette durch die Finger gleiten ließ. Keiner wagte zu sprechen.
»Schlampige Arbeit von Amira. Sie müsste es besser wissen«, kommentierte er schließlich leise
.
Als Ludmilla ihn fragend ansah, rang er sich ein Lächeln ab. »Amira hat ihr Werk leider nicht perfekt vollendet, um es wohlwollend auszudrücken«, erklärte er geschwollen. Als sie die Stirn runzelte, seufzte er tief und studierte noch einmal das Mal. »Dieses Mal muss auch noch entfernt werden. Du darfst kein Mal tragen, schon gar nicht, wenn du in deine Welt zurückkehrst. Ihr müsst das einem Magier zeigen. Hexen haben mit den Markierungen von Feuerspuckern nicht so viel Erfahrung.« Er warf einen letzten Blick auf Ludmillas Arm, und ihm entfuhr ein verächtliches »Offensichtlich«, bevor er sie losließ.
»Kommen wir jetzt zum Wesentlichen zurück, Lando«, forderte Uri ungeduldig. »Kundschaftest du ihn für uns aus?«
Lando zuckte mit den Schultern. »Das ist kein Problem«, erklärte er überheblich. »Ich werde ihn ausspionieren. Wollen wir doch mal sehen, was Zamir so treibt. Wir haben schon zu lange nicht mehr nach ihm gesehen. Es wird Zeit, dass jemand nach dem Rechten schaut. Mir macht die dunkle Seite keine Angst. Ich kann mich in einen seiner Späher verwandeln. Bis Zamir realisiert, dass ich da war, bin ich auch schon wieder weg. Unser Vorteil ist, dass er seine Höhle nicht verlassen kann. So weit reicht doch noch der Verbannungszauber, oder, Uri?«
Lando sah Uri erwartungsvoll an, und auch Bodan blickte ihn fragend an.
»Was heißt denn hier ›noch‹?«, rief Uri empört. »Natürlich wirkt der Verbannungszauber! Zamir kann die Höhle nur verlassen, wenn er den Zauber bricht, was er nicht kann, solange ich lebe und mächtig bin.«
Bodan brummte bestätigend.
Lando klopfte sich mit beiden Händen auf die Oberschenkel. »Also gut, dann ist das beschlossen. Ich gehe. Aber vorher bekomme ich etwas von deiner köstlichen Suppe, Bodan.« Er lächelte Bodan breit an und zeigte auf die letzte Schale, die auf dem Tisch stand und noch nicht gefüllt war
.
Dann wandte er sich noch einmal Ludmilla zu. »Du scheinst Abenteuer zu mögen, sonst wärst du nicht hier, oder?«
Als Ludmilla stumm nickte – sie bekam plötzlich keinen Ton heraus –, fügte er hinzu: »Das gefällt mir.«
Ludmilla bekam einen heißen Kopf und wandte sich schnell zu Uri: »Was soll das heißen, Zamir kann seine Höhle nicht verlassen?«, krächzte sie mit belegter Stimme. »Was ist das für ein Verbannungszauber?«
»Neugierig bist du also auch noch. Wunderbar!« Lando lachte laut auf. Dabei funkelten seine Augen in den unterschiedlichsten hellen Blau- und Grüntönen.
Uri seufzte tief. Seine Brille beschlug von dem Atem, den er ausstieß. »Als wir herausfanden, was Zamir vorhat und dass er sich vom Licht in unserer Welt abgewandt hatte, haben wir beschlossen, ihn zu verbannen. Das war das erste Mal in Eldrids Geschichte, dass eine solche Maßnahme gegen einen Spiegelwächter ergriffen wurde. Aber Zamir bedrohte unsere Welt.«
»Unser Licht«, piepste Pixi aufgeregt und flatterte über den Tisch.
Lando fing sie vorsichtig mit einer Hand ein und setzte sie sich auf den Arm.
»Wir nahmen ihm seine Verbindung zu seinem Spiegel und verbannten ihn in eine andere Höhle. Das heißt, dass Zamir diese Höhle nicht verlassen kann«, schloss Uri knapp.
»Heißt das, dass Zamir seit seiner Verbannung nichts mehr unternehmen kann, um seinen Plan weiter zu verfolgen?«, fragte sie skeptisch.
Bodan lächelte müde. »Nein, so einfach ist es leider nicht«, antwortete er, als Uri keine Anstalten machte, die Frage zu beantworten. »Zamir hat trotz seiner Verbannung viele Mittel und Wege gefunden, um sich Mächte und Schatten anzueignen. Die Wolke wächst stetig.«
Als Ludmilla ihn verständnislos ansah, fuhr er geduldig fort: »Zamir hat die Fähigkeit, Wesen zu rufen. Dafür benötigt er ein
Bild von dem Wesen. Er muss wissen, wie es aussieht, um welche Art von Wesen es sich handelt und wie es heißt. Je mehr er weiß, desto besser. Eigentlich muss er das Wesen vor seinem geistigen Auge visualisieren können. Aber das kann er nicht, da er das Wesen nicht zu Gesicht bekommt. Dennoch schafft es Zamir, genug Informationen über das Wesen zu sammeln, so dass er es rufen kann. Wie er diese Informationen bekommt, wissen wir nicht genau. Wir vermuten, dass seine Späher, Komplizen oder Godal selbst ihm diese Informationen liefern. Sobald Zamir von der Existenz des Wesens weiß, versucht er, in den Kopf des Wesens einzudringen. Mental. Wir Spiegelwächter können mit allen Wesen in Eldrid auf diese Weise kommunizieren. Das ist eine unserer Fähigkeiten.«
»Bei seinem Ruf geht er unterschiedlich vor. Manchmal bittet er nur um einen Besuch und schmeichelt dem Wesen, manchmal befielt er dem Wesen auch, zu ihm zu kommen. Dann ist es ein Mächtemessen, ob das Wesen dem Ruf Zamirs widerstehen kann oder sich gezwungen fühlt, dem Ruf zu folgen. Sobald das Wesen seine Höhle betritt, ist es um seine Macht und seinen Schatten geschehen. Wir konnten Zamir zwar verbannen und ihn damit schwächen, aber wir konnten ihm nicht seine Fähigkeiten nehmen.«
»Und was für eine Rolle spielt dabei Godal?«, fragte Ludmilla leise.
Pixi riss die Augen auf und flatterte nervös an die Decke.
Lando grinste. »Du scheinst noch nicht bemerkt zu haben, dass hier alle Angst vor Godal haben und schon bei der Erwähnung seines Namens zusammenzucken.« Er sah ihr kurz in die Augen. »Godal braucht kein Wesen zu rufen, um sich um dessen Macht zu bereichern.« Seine Stimme wurde rau, und sein Ausdruck verdüsterte sich. »Er kann sich frei bewegen und nimmt sich die Mächte, die ihm gefallen. Er macht sich nicht die Mühe, die Wesen zu Zamir zu bringen. Es sei denn, Zamir fordert es ausdrücklich. Die Schatten schickt Godal an den Himmel. Auch
dafür braucht er Zamir nicht. Er ist vollkommen unabhängig von Zamir und agiert selbstständig. Keiner weiß, wo er sich aufhält. Er kommt und geht, wie es ihm gefällt und wohin er will. Überall, wo er auftaucht, verbreitet er Angst und Schrecken. Das liegt nicht zuletzt auch daran, dass er der erste und einzige personifizierte Schatten ist, den wir hier in Eldrid haben.«
Als Ludmilla anhob, eine weitere Frage zu stellen, herrschte Uri sie an: »Es reicht jetzt! Das ist genug für heute! Nun lasst uns essen.«
Ludmilla blickte ihn misstrauisch an. Was hatte er nur?
Lando gluckste vergnügt und fing an, seine Suppe zu löffeln. Bodan und Uri beugten sich ebenfalls über ihre Schüsseln. Ludmilla schaute ihnen dabei zu, bis sie begriff, dass sie heute nichts mehr erfahren würde. Verstohlen beobachtete sie Lando aus den Augenwinkeln. Er machte einen sehr unbedarften Eindruck. Für ein schimmerndes blaulila Wesen sah er irgendwie gut aus. Seine überhebliche Art gefiel ihr zwar nicht, wohl aber sein Humor und seine Leichtigkeit, Dinge zu nehmen und zu begreifen, wie sie waren. Gedankenverloren spielte sie mit einer Haarsträhne, während sie sich dabei ertappte, dass sie ihn immer wieder ansah.
Zu Ludmillas Enttäuschung verabschiedete sich Lando nach dem Essen. Uri drängte ihn, so schnell wie möglich aufzubrechen, damit sie nicht noch mehr Zeit verlieren würden. Lando ließ sich nicht zweimal bitten. Ein Abenteuer rief ihn. Fast bewegungslos glitt er zur Tür. Ludmilla folgte ihm mit ihrem Blick und zuckte zusammen, als er sich zu ihr umdrehte. Er schenkte ihr ein breites Lächeln. »Wir sehen uns bestimmt bald wieder, Scathan-Mädchen Ludmilla«, scherzte er, und Ludmilla musste lachen. Sie konnte ihm gerade noch zunicken, bevor sich die Tür schloss.
Bodan begleitete Ludmilla in den ersten Stock des kleinen Hauses. »Du musst dich ausruhen und schlafen. Amiras Heilung hat deinen Körper mehr beansprucht, als du vielleicht gemerkt hast. Du brauchst jetzt Ruhe und Schlaf«, sprach er, während sie die knarrenden Stufen hinaufstiegen
.
Fast wie zu Hause, dachte Ludmilla ein wenig wehmütig.
Bodan zeigte ihr ein Zimmer direkt unter dem Dach. Es war klein, aber ein Bett, ein Nachttisch und ein Stuhl fanden darin Platz. Bodan hatte Ludmilla das Bett gerichtet und ihr Schlafsachen hingelegt. Außerdem standen auf dem Nachttisch eine Schüssel mit Wasser und ein Handtuch. Eine Kerze brannte und verbreitete einen angenehmen Geruch. Ludmilla lächelte dankbar und ließ sich auf das Bett fallen. Bodan stand etwas verlegen an der Tür und räusperte sich. Ludmilla blickte ihn fragend an.
»Es ist so«, begann er etwas umständlich. »Uri muss sich erst an dich gewöhnen. Er hat Mühe, Vertrauen zu fassen. Auch wenn du anders bist«, er stockte kurz, »als Mina und ihre Schwester. Mina war ihm gegenüber am Ende sehr feindselig, und auch nachdem er sie vor ihrer Verdammnis gerettet hatte, haben die beiden keine Gelegenheit gehabt, sich auszusöhnen. Er hat es ihr nie richtig verziehen, dass sie sich derartig gegen ihn hat aufhetzen lassen. Dass sie nicht an ihn glaubte. Weißt du, als Mina und ihre Schwester anfangs nach Eldrid kamen, hat er ihnen bereitwillig Einlass gewährt. Er vertraute ihnen. Er mochte die beiden wirklich gern. Es hat ihn verletzt, als sie sich von ihm abwandten und sich mit Zamir gegen ihn verbündeten.«
»Aber das war Mina, meine Großmutter, nicht ich«, stellte sie störrisch fest. Bodan nickte. Aber Ludmilla ließ ihn nicht zu Wort kommen. »Er ist doch so weise und so allmächtig und so gütig«, sprudelte es höhnisch aus ihr heraus. »Und dann kann er nicht differenzieren, dass ich nicht sie
bin? Das glaube ich dir nicht. Und ihm
auch nicht.«
Bodan lächelte. »Sei nicht so überheblich, Ludmilla. Uri ist nicht vollkommen. Auch er hat Fehler. Er hat sich in deiner Großmutter und deiner Großtante geirrt. Er hat zu schnell Vertrauen gefasst und sie gewähren lassen. Für diesen Fehler haben er und ganz Eldrid einen hohen Preis gezahlt. So leicht ist es für ihn nicht. Seit Mina ihren Schatten verlor und den Scathan-Spiegel als Portal schloss, hat er kaum noch Kontakt zu Menschen gehabt.
«
Ludmilla funkelte ihn an. So schlimm? Sie konnte es kaum glauben.
Bodan beobachtete sie still. »So oder so, Ludmilla. Es ist nicht leicht für ihn. Er gibt sich Mühe. Wirklich. Aber dann stellst du ihn auch noch ständig in Frage. Das ist natürlich nicht sehr förderlich.«
Als Ludmilla anhob zu protestieren, hob Bodan die Hand. »Versuche doch mal, ihn ein wenig mehr zu respektieren. Du bist ihm gegenüber sehr kritisch. Das ist er nicht gewöhnt. Er wird dir alles erklären, wenn er denkt, dass die Zeit dafür gekommen ist.« Bodan lachte leise. »Er ist hier in Eldrid so was wie unser Oberhaupt. Vielleicht hilft dir das.« Ludmilla funkelte ihn an. »Nur so ein Gedanke, Ludmilla, nur so ein Gedanke.« Und mit einem »Schlaf gut«, schloss er vorsichtig und langsam die Tür.
Ludmilla ging noch so vieles durch den Kopf, doch als sie sich in die wohlduftenden Kissen kuschelte, war sie im Nu eingeschlafen.