Achtzehntes Kapitel
Die Verabredung
Mina saß immer noch vor der Tür des Spiegelzimmers, in dem sie Ludmillas Spiegelbild eingeschlossen hatte. Nachdem sie ihre Enttäuschung über Ludmillas Verschwinden überwunden hatte, hatte sie sich dem Spiegelbild gewidmet. Sie wagte nicht zu hoffen, dass Ludmilla bald zurückkehrte. Insgeheim hoffte sie, dass sie das Spiegelbild irgendwie zur Vernunft bringen konnte, dass es sich doch beruhigen würde und dann Ludmillas Platz einnehmen könnte, solange Ludmilla in Eldrid war. Aber das wäre zu einfach und zu schön gewesen. Denn es deutete nichts darauf hin, dass sich dieses Spiegelbild beruhigen würde.
Mina hörte einen schrillen, lang anhaltenden Ton. Das Telefon hatte schon drei Mal an diesem Tag geklingelt. Aber sie ging einfach nicht dran. Nun aber war es ihr Handy, das sich meldete. Mina holte es aus ihrer Tasche und schaute auf das Display. Alexa, ihre Tochter, rief an. Und noch etwas stand da: fünf verpasste Anrufe. Alle von ihrer Tochter. Mina seufzte. Was sollte sie ihr nur sagen?
Im Zimmer tobte Ludmillas Spiegelbild. »Siehst du?«, schrie es hämisch. »Du kannst mich hier nicht ewig einsperren, das fällt auf!«
»Ach, halt endlich den Mund!«, herrschte Mina es durch die Tür an.
Dann erhob sie sich langsam vom Boden und drückte die grüne Taste .
»Hallo?«, sagte sie mit fester Stimme.
Sofort fing das Spiegelbild an, an die Tür zu hämmern und zu schreien: »Hilfe! Hilfe! Ich bin hier gefangen, so helft mir doch!«
Mina entfernte sich mit raschen Schritten von der Tür, presste das Handy ans Ohr und hielt die Hand vor die Öffnung, in die sie sprach. »Alexa, Schätzchen, bist du es? Die Verbindung ist ganz schlecht.« Dabei pustete sie sacht ins Telefon.
Am anderen Ende atmete jemand tief ein und aus. »Mama, ist bei euch alles in Ordnung? Und hör auf mit dem Blödsinn, die Verbindung ist hervorragend.«
Mina hob die Augenbrauen und erreichte mit großen Schritten die Treppe. »Jetzt höre ich dich schon viel besser«, antwortete sie unbeirrt. »Wir sind gerade im oberen Stockwerk, da ist die Verbindung manchmal schlecht.«
Aber ihre Tochter ließ sich davon nicht beeindrucken. »Wieso schreit Ludmilla um Hilfe? Was ist bei euch los? Sie ist also zu Hause?«
»Selbstverständlich ist Ludmilla zu Hause«, sagte sie so erstaunt wie möglich.
»So selbstverständlich ist das nicht«, antwortete ihre Tochter. »Ihr Handy ist ausgeschaltet, und du meldest dich auch nicht. Ich habe mit der Schule telefoniert, und die sagten mir, sie sei krank. Wieso meldet ihr euch nicht? Und wieso schreit sie um Hilfe?«
Alexas Stimme wurde schrill. Sie hasste es, wenn sie nicht informiert war. Dabei gehörte es zu Ludmillas Alltag, ihre Mutter nicht zu informieren.
Mina versuchte, sie zu beruhigen. »Ludmilla geht es gut. Sie hat sich nur den Magen verdorben. In ein paar Tagen kann sie wieder in die Schule gehen. Gerade steht sie auf einer Leiter und hilft mir einen alten Schrank auszusortieren, deshalb rief sie um Hilfe.«
»Und da gehst du ans Telefon, während Ludmilla auf der Leiter steht?«, erzürnte sich Alexa weiter.
Mina lächelte in das Handy hinein. »Schätzchen, du hast nun schon so oft angerufen, und ich hatte es nicht gesehen, da dachte ich, es sei wichtig. Ludmilla kann ruhig einen Moment auf der Leiter stehen bleiben. Es gibt also keinen Grund zur Sorge.«
»Sorge?«, keifte Alexa. »Ich mache mir überhaupt keine Sorgen. Ich will nur wissen, wenn meine Tochter krank ist. Pit und ich sind in der Stadt, und falls du es vergessen hast: Wir haben heute Nachmittag eine Verabredung mit euch. Hast du das vergessen? Ich will Ludmilla sehen, insbesondere, wenn sie krank ist!«
»Aber …«, stammelte Mina.
Noch bevor sie ihren Satz beenden konnte, unterbrach ihre Tochter: »Wir hatten uns auf 17 Uhr geeinigt, wir bleiben auch nicht zum Abendessen, aber wir kommen. Keine Widerrede! Bis später, Mama!«
Und schon hatte Alexa aufgelegt.
Minas Herz blieb fast stehen. Nun hatte sie ein Problem. Sie warf einen unsicheren Blick zum Spiegelzimmer, in dem sich Ludmillas Spiegelbild heiser schrie.