Neunzehntes Kapitel
Ada
Bodan durchquerte gerade den Wald, als Uris Worte ihn erreichten. Er wäre fast gestolpert, als er von dem Erwachen der Berggeister hörte. Wie angewurzelt blieb er stehen. »Die Berggeister, Uri? Bist du dir da ganz sicher?«, fragte er skeptisch.
»Ganz sicher, einer hat nach mir gegriffen, im Gebirge. Es gibt keinen Zweifel«, ertönte Uris Stimme in seinem Kopf.
Bodan schüttelte sich. »Das kann nicht sein …«, stöhnte er.
»Geh und berufe den Rat ein!«, bat Uri ihn eindringlich. »Es muss schnell gehen. Ich komme mit Ludmilla dazu, so schnell ich kann.«
Bodan überlegte kurz: »Was heißt das, Uri? Du willst mit ihr doch nicht etwa das Schneegebirge durchqueren?«
Aber Uri antwortete nicht mehr. Bodan setzte sich langsam wieder in Bewegung. In seinem Kopf überschlugen sich die Gedanken. Uri und Ludmilla im Schneegebirge. Die Berggeister erwacht. Ja, er musste das Feuer in Uris Höhle entfachen und den Rat einberufen. Den Rat! Der Rat von Eldrid bestand aus den Oberhäuptern und Repräsentanten der einzelnen Wesen von Eldrid. Jedes Volk in Eldrid hatte seine eigene Ordnung und Hierarchie. Aber sie akzeptierten den übergeordneten Rat von Eldrid, der Entscheidungen traf, die ganz Eldrid betrafen. Jedoch gab es in Eldrid weit über 150 verschiedene Wesensarten und Völker. Nicht alle Völker sandten Abgesandte oder Repräsentanten zum Rat, und bei so vielen verschiedenen Wesen gab es nicht nur
unterschiedliche Interessen und Prioritäten, sondern auch andersgeartete Wesenszüge und Mentalitäten. Außerdem verfolgte jedes Volk die eigenen Belange und befürchtete stets, dass es gegenüber anderen zurückstehen müsste. Und zuletzt beherrschte die Wesen die Angst, dass sie aus Eldrid vertrieben werden könnten. Das machte die Ratsversammlungen sehr schwierig.
Meist dauerte es allein Tage, bis genug Repräsentanten anwesend waren, damit eine Versammlung beschlussfähig war. Dies bedachte Bodan, als er immer schneller wurde und zur Höhle eilte. Er würde Kelby und Arden bei der Einberufung um Hilfe bitten. Und dann würde er in die Stadt zurückkehren. Er schnaufte vor Anstrengung, und sein Bauch wippte im Takt seiner Schritte.
Als Bodan in Uris Höhle trat, saß eine alte Frau an der Feuerstelle und wartete. Sie sprang auf und rief: »Bodan!« Sofort stutzte sie. »Aber wieso bist du
hier? Wo ist Uri?«
Sie zog besorgt die Stirn in Falten. Ihr langes Leinengewand hing an ihr hinunter, das sie mit einer Kordel als Gürtel um die Hüfte zusammengebunden hatte. Die Frau war groß, hatte weißes langes glattes Haar, das zu einem Zopf geflochten war. Ihre Haut war von der Sonne gebräunt, ihr Gang war leichtfüßig und beweglich, trotz ihres fortgeschrittenen Alters. Sie hatte ein schmales Gesicht und graue Augen.
Bodan lächelte erfreut und breitete die Arme aus. »Ada, meine Liebe, wie schön, dich zu sehen!«
Ada erwiderte die Umarmung. »Finde ich auch, Bodan, finde ich auch!«, erwiderte sie stürmisch, während sie ihm kräftig auf den Rücken klopfte. Doch dann schob sie ihn von sich und schaute ihm in die Augen. »Bodan, wo ist sie? Ich habe gehört, sie ist hier?«
Bodan zuckte zusammen. »Woher weißt du das? Von wem hast du das gehört?«, fragte er besorgt. Seine Stirn zeigte unendlich viele Falten.
Ada zuckte unbedarft mit den Schultern. »Die Waldvölker erzählen von einem Menschenmädchen, das durch den Wald läuft und sich Eldrid anschaut. Und dann hörte ich, dass die Bewohner
von Fluar ganz aufgebracht sind, weil Uri ein Menschenmädchen in die Stadt gebracht hat, das aussieht wie meine Schwester, wie eine Scathan. Also stimmt es? Ist sie hier? Wo ist sie?«
Bodan lächelte sie voller Warmherzigkeit an und klopfte ihr beruhigend auf die Schulter. »Du scheinst ja schon alles zu wissen. Ja, Ludmilla ist hier. Hier in Eldrid. Sie ist mit Uri unterwegs, und es geht ihr gut. Ich habe gerade mit Uri gesprochen.« Dann verdüsterte sich sein Blick. »Ada, kannst du mir sagen, woher du von dem Vorfall in Fluar weißt? Wer hat dir das erzählt?«
Ada sah ihn unverwandt an. »Wieso ist das so wichtig, Bodan?«, fragte sie kritisch. Sie kniff die Augen zusammen. »Was ist los?«
»Bitte beantworte erst einmal meine Frage, Ada, das ist wichtig.«
Aber Ada schüttelte störrisch den Kopf. »Ich habe meine Quellen, das weißt du. Erst erzählst du mir, was du weißt, dann sage ich es dir.« Sie presste die schmalen rosa Lippen zusammen und fügte ein »Vielleicht« hinzu.
Bodan seufzte. »Also gut, Ada, ganz wie du willst. Aber zuerst muss ich den Rat einberufen und Kelby und Arden bitten, mir dabei zu helfen. Dann muss ich so schnell wie möglich zurück nach Fluar. Wenn du mich ein Stück begleiten möchtest, dann erzähle ich dir alles. Die Zeit drängt.«
Er sah sie besorgt an. »Sie drängt wirklich«, bekräftigte er. Bodans Stimme klang ungewöhnlich hart und ungeduldig.
Sie entfachten das Feuer. Bodan murmelte unentwegt die Worte des Rufes. Das Feuer zischte und loderte in strahlenden Goldtönen, bis sich schließlich Funken lösten und zum Ausgang der Höhle jagten.
Ada beobachtete Bodan mit einigen Schritten Abstand. Stumm stand sie da und wartete, während er in eine meditative Haltung verfiel und mit den anderen Spiegelwächtern sprach.
Schließlich stand er auf. »Es ist alles getan, Kelby und Arden sammeln die wichtigsten Ratsvertreter ein. Nun muss ich nach Fluar.«
Ada sah ihn skeptisch an. »Wieso bleibst du nicht hier und
wartest auf die Ratsversammlung? Wieso drängt die Zeit, Bodan? Wofür brauchen wir eine Ratsversammlung? Und wo sind Uri und Ludmilla?«
Forschend blickte sie in sein verrunzeltes Gesicht. Bodans Augen wirkten traurig und erschöpft. Eine kupferne Träne löste sich, während er sprach: »Ada, bitte. Ich muss nach Fluar und hoffe, bis zum Beginn der Ratsversammlung wieder hier zu sein. Es geschehen gerade schreckliche Dinge. Lass mir dir alles erklären, wenn wir auf dem Weg sind. Du begleitest mich?«
Ada nickte stumm. Sie kniff die Augen zusammen, aber widersprach nicht mehr.