Zwanzigstes Kapitel
Die Schneegeister
Ludmilla begriff schnell, warum Uri es bedauerte, im Schneegebirge gelandet zu sein. Das Schneegebirge wurde seinem Namen gerecht – eine Landschaft, die nur aus Schnee und Eis bestand. Es war bitterkalt, und ein eisiger Wind peitschte um sie herum. Sie kamen nur sehr langsam voran. Bei jedem Schritt sank Ludmilla ein, während Uri über dem Schnee zu schweben schien. Der Wind trieb ihr Tränen in die Augen, und sie fror schrecklich. Die Kapuzenjacke, die sie sich gedankenverloren zu Hause um die Hüfte gebunden hatte, wärmte sie nicht annähernd. Die Sicht war so schlecht, dass sie kaum über den nächsten Schneehügel blicken konnten.
Uri lief leichtfüßig in seinen dünnen Schuhen voran. Ihm schien weder die Kälte noch der Wind oder der Schnee etwas anhaben zu können. Immer wieder hielt er an und wartete auf Ludmilla. Die Ungeduld stand ihm ins Gesicht geschrieben.
Als ihn Ludmilla mal wieder eingeholt hatte und er sich gerade zum Weitergehen umdrehen wollte, hielt sie ihn am Ärmel fest. Gegen den Wind schrie sie ihn an: »Ich kann nicht schneller! Ich habe nicht diese Zauberkräfte, so wie du! Du brauchst mich nicht immer so vorwurfsvoll anzuschauen. Davon werde ich nicht schneller. Ich brauche eine Pause.« Ihr Gesicht war vor Zorn rot angelaufen.
»Entschuldige!«, dröhnte er mit seiner lauten Stimme, die den Wind übertönte. Der Schnee fing an zu beben, so dass sich Uri
nervös umdrehte. Er kam ganz nah an sie heran und sprach beruhigend in ihr Ohr: »Ich weiß, dass du dein Bestes tust, voranzukommen. Aber es ist zu langsam.«
»Dafür kann ich nichts!«, schrie Ludmilla. »Es war nicht meine Entscheidung, das Gebirge zu durchqueren und in dieser Schneelandschaft rauszukommen!«, zischte sie nun leise, mehr zu sich selbst, und sah ihn dabei vorwurfsvoll an. »Wenn du so mächtig bist, wieso zauberst du dann nicht einen Schlitten herbei und dazu noch ein paar Rentiere, die ihn ziehen, dann wären wir sicherlich schneller!«
Uri sagte nichts, sondern hob seine Arme, und Ludmilla sah die goldene Seifenblase aufsteigen, die Uri schon im Gebirge produziert hatte. Sie hielt Wind, Schnee und Kälte ab und hüllte Ludmilla in Wärme, als würde sie direkt neben einem Feuer stehen. Außerdem herrschte eine angenehme Stille, die Ludmilla sehr genoss.
Sie verharrten einige Minuten in dieser magischen Seifenblase. Ludmilla hörte auf zu frieren und merkte, wie ihre Kräfte zurückkamen.
»Können wir weitergehen?«, fragte Uri.
Ludmilla zögerte. »Wie lange werden wir für die Durchquerung des Schneegebirges brauchen?« Sie stockte kurz. »Ich weiß, du hast mir vor unserem Aufbruch erklärt, dass es ein langer schwieriger Weg sein würde. Aber damit habe ich nicht gerechnet. Ich bin dafür nicht ausgerüstet. Schau dir meine Turnschuhe und meine dünne Jacke an. Bald habe ich erfrorene Zehen und was sonst noch.« Sie hielt kurz inne und sah ihn verzweifelt an. »Gibt es keine andere Möglichkeit, Uri? So schaffe ich das auf gar keinen Fall!«
»Wir haben noch nicht einmal annähernd die Hälfte des Weges durch den Schnee zurückgelegt. Mir ist bewusst, dass es so nicht lange weitergeht. Aber du musst noch ein wenig durchhalten. Wir werden so viele Pausen machen wie nötig, in denen du dich aufwärmen und ausruhen kannst.
«
»So stellst du dir das vor?«, brach es ungläubig aus Ludmilla heraus.
Sie fühlte sich kraftlos, und jeder Mut verließ sie bei dem Gedanken, den restlichen Tag durch den Schnee wandern zu müssen.
Sie schüttelte heftig den Kopf. »Nein, Uri, nein! Das kann ich nicht, das geht nicht!«
Gleichzeitig zuckte sie innerlich zusammen. Warum wollte sie so schnell aufgeben? Das war nicht ihre Art. Aber sie fühlte sich so verlassen und hilflos. Sie verstand ihre Gefühle nicht. Sie war bei Uri, der sie beschützen würde. Das hatte sie inzwischen begriffen. Sie vertraute ihm. Dennoch hatte sie diese negativen Gefühle, die sie sich nicht erklären konnte.
Uri legte ihr die Hand auf die Schulter und nickte. »Dieses Gefühl der Kraftlosigkeit und Mutlosigkeit erzeugen die Schneegeister in dir. Das ist ihre Art, uns zu vertreiben. Sie akzeptieren nur in Ausnahmefällen die Durchquerung ihres Territoriums. Für alle Eindringlinge haben sie jede Menge Abwehrmechanismen parat. Das ist nur der Anfang. Deshalb müssen wir versuchen, so schnell wie möglich hier rauszukommen. Bitte, Ludmilla, Zähne zusammenbeißen!«
Er sah sie eindringlich an. Ludmilla aber starrte entmutigt zurück. Berggeister – und jetzt auch noch Schneegeister! Was war das für eine Welt? Offenbar wollte Uri den Schneegeistern ebenso wenig begegnen wie den Berggeistern. Sie fragte sich nur, wie sie das meistern sollte. Zähne zusammenbeißen? Das war eigentlich eine ihrer leichtesten Übungen. Aber sicher nicht bei der Durchquerung des Schneegebirges.
Langsam und murrend setzte sie sich in Bewegung. Sie versuchte, ihre Gefühle zu verdrängen. Pixi summte ihr ein wundervolles Lied ins Ohr, und Ludmilla lächelte. Es würde schon gehen. Irgendwie.
Der Nebel nahm zu, und Uri musste oft stehen bleiben, damit er in Ludmillas Sichtweite blieb. Ludmilla sah die meiste Zeit auf den Boden, um beim Einsinken in den Schnee nicht die Balance zu verlieren
.
Plötzlich – Uri hatte sich ihr zugewandt und wartete auf sie – tauchte hinter ihm eine Gestalt auf. Sie entstieg dem Schnee wie ein Wirbelsturm und baute sich hinter Uri auf. Sie war um einiges größer als die Riesen, die Ludmilla in der Stadt gesehen hatte und überragte ihn um mindestens zwei bis drei Meter. Ludmilla schrie auf vor Schreck und stolperte ein paar Schritte zurück. Uri fuhr herum und nahm die Gestalt wahr, die sich schon fast über ihn gebeugt hatte. Eine Gestalt, die vollkommen aus Schnee bestand. Die Beine waren kaum sichtbar, aber die Arme waren sehr lang und stemmten sich in den Schneemassen ab. Der Kopf war langgezogen und hatte nur zwei dunkle Löcher, wohinter Ludmilla die Augen vermutete.
Ein weiteres Loch am Kopf tat sich auf, und daraus dröhnte es: »Was macht ihr hier, ihr Eindringlinge? Wieso wagt ihr es, unsere Ruhe zu stören?«
Die Stimme war so laut, dass der Schnee unter Ludmillas Füßen erzitterte. Der Wind peitschte um den Schneeriesen herum und wirbelte Schnee mit auf.
Uri trat einen Schritt zurück und legte seinen Kopf in den Nacken. »Wir bitten darum, das Schneegebirge passieren zu dürfen!«, rief er mit seiner tiefen, lauten Stimme.
Die Gestalt warf den Kopf in den Nacken und lachte auf. »Wer erlaubt sich eine solche Bitte? Wer seid ihr, dass ihr denkt, dass wir euch einfach so passieren lassen?«
»Ich bin Uri, der Spiegelwächter«, erwiderte Uri unbeirrt und legte seine Hand auf die Brust. Seine Hand leuchtete golden und erleuchtete seinen gesamten Oberkörper. Dann wandte er sich um und zeigte auf Ludmilla. »Das ist ein Menschenmädchen namens Ludmilla, aus der anderen Welt, und in ihren Haaren versteckt sich meine Fee Pixi.«
Unsicher hob Ludmilla die Hand zum Gruß, und Pixi steckte den Kopf aus der Kapuze hervor.
»Das ist ein Schneegeist«, wisperte Pixi in Ludmillas Ohr. »Jetzt gibt es Ärger. Ich bin mal gespannt, wie Uri da wieder rauskommt.
«
Ludmilla wagte es nicht, ihr zu antworten. Wie gebannt fixierte sie den Schneegeist.
»Und weiter?«, schmetterte die Gestalt. »Das reicht mir nicht. Mich interessieren eure Namen nicht und auch nicht eure Herkunft. Ich will nur wissen, warum ihr uns stört. Warum verstoßt ihr gegen das Abkommen?«
»Wir bitten um Entschuldigung für die Störung. Wir waren leider gezwungen, die Durchquerung vorzunehmen, da wir nicht durch das Gebirge reisen konnten. Wir wurden im Gebirge von den Berggeistern verfolgt«, erwiderte Uri ruhig und souverän.
Plötzlich legte sich der Sturm. Der Schneegeist richtete sich zu seiner vollen Größe auf. Seine Stimme klang streng und fordernd. Er verzichtete jetzt allerdings darauf, Uri fast unter sich zu begraben. »Die Berggeister schlafen schon seit vielen Hunderten von Jahren. Wie können sie euch da verfolgen?«, grollte er.
»Sie wurden geweckt«, antwortete Uri knapp.
Der Schneegeist sank in sich zusammen und verschwand bis über die Hälfte seines Oberkörpers im Schnee, so dass er mit Uri auf einer Augenhöhe war. »Was sagst du da? Sie wurden geweckt? Von wem?«
Uri schien erstaunt über so viel Interesse. »Ja, sie wurden geweckt. Sie haben uns durch die Gewölbe des Gebirges verfolgt. Ich konnte sogar eine Hand von einem Berggeist sehen, die nach mir griff. Wir hatten keine andere Wahl, als den Ausgang zum Schneegebirge zu nehmen.« Uri machte eine eindrucksvolle Pause. »Noch wissen wir nicht mit Sicherheit, wer sie geweckt hat, aber wir vermuten, dass es Zamir war.«
Der Schneegeist starrte Uri an. »Wer ist Zamir? Erzähl mir mehr«, befahl er.
Uri nickte respektvoll. »Zamir ist ebenfalls ein Spiegelwächter, so wie ich. Er bringt die Dunkelheit über unsere Welt. Die Dunkelheit regiert schon den einen Teil des Waldes und das Tal dahinter, das ihr von eurem Schneegebirge aus sehen könnt. Vielleicht ist es euch aufgefallen.
«
Der Schneegeist reagierte nicht. Also fuhr Uri fort: »Als uns klar wurde, dass Zamir die Dunkelheit über unsere Welt bringt, hat der Rat beschlossen, Zamir zu verbannen. Er wurde auf die dunkle Seite unserer Welt verbannt. Sein Spiegel wurde ihm genommen. Aber das hat ihn offenbar nur kurzzeitig geschwächt. Er sucht immer noch nach Mitteln, die Dunkelheit über unsere Welt auszubreiten. Er sucht nach weiterer Macht, sucht nach weiteren Schatten, die ihm Macht verleihen. Und ich bin mir sicher, dass er die Berggeister geweckt hat. Eine andere Erklärung für ihr Erwachen gibt es nicht.« Uri schwieg.
Der Schneegeist blickte Uri nachdenklich an. »Hmm«, brummte er schließlich. »Das sind alles sehr interessante Informationen. Ob diese Umstände euch erlauben, das Abkommen zu verletzen und das Schneegebirge zu passieren, kann ich jedoch nicht sagen. Wir müssen uns beraten. So lange könnt ihr nicht weiter passieren. Ich muss euch hier festsetzen.«
Ludmilla zuckte zusammen. Uri hob beschwichtigend seine funkensprühenden Hände, mit denen er goldene Muster in die Luft schrieb. »Dafür bleibt uns keine Zeit! In diesem Augenblick wird eine Ratssitzung einberufen, deren Vorsitz ich innehabe. Es geht um das Fortbestehen von Eldrid. Dies ist eine besondere Situation, die die Sondererlaubnis zum Passieren rechtfertigt. So sieht es das Abkommen vor.« Uri starrte den Schneegeist erwartungsvoll an.
»Eine Ratssitzung, hmm«, brummte dieser argwöhnisch. »Und warum muss dieses Menschenmädchen mit? Sie ist nicht Teil des Rates.«
»Das ist richtig. Aber sie kann Zamir schwächen. Sie ist Teil eines Plans, den wir verwirklichen wollen«, antwortete Uri schnell.
Ludmilla hielt die Luft an.
»Aber für die Ratssitzung brauchst du das Menschenmädchen nicht«, erwiderte er langsam. »Dann kann sie hierbleiben, bis wir uns entschieden haben, ob ihr gegen das Abkommen verstoßen habt.« Der Schneegeist erhob sich aus dem Schnee. »Dich lasse ich passieren, aber das Menschenmädchen bleibt hier«, entschied er
.
»Das geht nicht«, dröhnte Uri gebieterisch. »Sie muss mich begleiten. Sie ist ein wichtiger Bestandteil der Ratssitzung.«
»Aber sie ist kein Mitglied des Rates«, grollte der Schneegeist zurück.
»Lasst uns passieren! Das Menschenmädchen ist hier, damit es uns hilft, Eldrid zu retten. Sie kann nicht bei euch bleiben, bis ihr euch eine Strafe für uns ausgedacht habt. Dafür ist keine Zeit. Wir müssen jetzt handeln, und dafür benötigen wir die Hilfe des Mädchens. Eldrid droht in Dunkelheit zu versinken, und die Dunkelheit wird auch nicht vor dem Schneegebirge Halt machen!«
Uris Stimme dröhnte durch die Luft, so dass der Schnee bebte. Ganze Schneehügel fielen zusammen. Der Boden zitterte unter Ludmillas Füßen.
Der Schneegeist schien innezuhalten. Er war wieder auf die Hälfte seiner Größe zusammengesunken und schien zu überlegen. »Unsere Welt ist in Gefahr. Dunkelheit im Schneegebirge«, murmelte er.
Uri blieb regungslos vor ihm stehen. Und plötzlich, wie aus dem Nichts, vernahmen sie die Schreie der Späher, die in einer dunklen Wolke über ihnen kreisten. Ludmilla duckte sich instinktiv. Der Schneegeist erhob sich zu seiner vollen Größe, griff in die dicke Wolkenschicht und teilte sie mit seinen Händen wie einen Vorhang. Dahinter konnte Ludmilla einen strahlend blauen Himmel erkennen. Der Schneegeist schlug wütend nach den Spähern und brüllte dabei aufgebracht. Der Schnee erzitterte, ein Späher fiel lautlos zu Boden, während die restlichen vogelartigen Wesen wütende, schrille Schreie ausstießen und die Flucht ergriffen. Der Schneegeist hob den leblosen Späher von der Schneedecke auf und schleuderte ihn mit einer weit ausholenden Bewegung in die Luft.
Ludmilla zitterte vor Kälte. Entsetzt starrte sie dem Vogel nach, der nach wenigen Metern von einer Nebelwolke verschluckt wurde. »Warum hat er das gemacht?«, flüsterte sie Pixi zu. Aber Pixi antwortete nicht.
Der Schneegeist ließ sich wütend wieder in den Schnee zu Uri
hinabsinken. Er schnaubte verächtlich. »Wir hassen diese Viecher. In letzter Zeit fliegen sie immer öfter über unser Territorium und stören unsere Ruhe.«
Die Verärgerung des Schneegeistes hatte zur Folge, dass der Wind noch stärker blies, so dass selbst Uri Mühe hatte, stehen zu bleiben.
Nach einer Weile legte sich der Sturm etwas, und der Schneegeist erhob sich wieder.
»Also gut, ihr könnt passieren. Wir werden die Angelegenheit besprechen, und sollten wir zu einer anderen Entscheidung kommen, werden wir euch gefangen nehmen. Ihr werdet noch eine ganze Weile für die Durchquerung brauchen. Diese Zeit wird uns ausreichen, um uns zu beraten.« Mit diesen Worten verschmolz der Schneegeist mit einer Schneewolke, die über die Schneelandschaft wirbelte, und war verschwunden.
Uri schnaufte auf und raunte Ludmilla zu: »Schnell, weiter. Es ist gut möglich, dass sie ihre Meinung ändern. Er ist nicht der alleinige Entscheidungsträger.« Mit diesen Worten eilte er voraus durch den Schnee. Ludmilla setzte sich auch in Bewegung. Erst jetzt merkte sie, wie ihre Beine zitterten.