Zweiundzwanzigstes Kapitel
Minas Idee
Mina rieb sich verzweifelt die Stirn. Ludmillas Eltern kamen von einer ihrer Geschäftsreisen zurück und wollten ihre Tochter sehen. Sie hatte die Verabredung tatsächlich vollkommen vergessen. Und nun? Sie konnte ihnen nicht die Wahrheit sagen. Sie würden ihr nicht glauben und sie für unzurechnungsfähig halten. Minas Tochter, Alexa, hatte die Funktion des Spiegels nie entdeckt. Sie kannte weder den Pakt noch Mitglieder der anderen Spiegelfamilien. Bei Alexa war es Mina nicht schwergefallen, den Spiegel zu verheimlichen. Anders als bei Ludmilla. Mina seufzte. Was sollte sie ihrer Tochter sagen? Dass Ludmilla in eine magische Welt gereist war und Mina nicht wusste, wann sie wiederkam? Sie stöhnte auf, als hätte sie Schmerzen, und rieb sich erneut die Stirn.
Denk nach, Mina, denk nach! Aber sie konnte es drehen und wenden, wie sie wollte, sie kam immer zum selben Ergebnis: Sie musste das Spiegelbild dazu bringen, Ludmillas Eltern ein Theater vorzuspielen. Da sich Ludmilla bei den Besuchen ihrer Eltern meist nicht sehr anständig benahm, würde es nicht auffallen, wenn das Spiegelbild frech war. Minas einzige Sorge war, dass das Spiegelbild mit seinen Aktionen übertreiben oder gar von dem Spiegel und von Ludmillas Reise erzählen könnte.
Wie sollte sie das Spiegelbild dazu bringen, Ludmillas Eltern etwas vorzuspielen? Sie musste dem Spiegelbild eine Gegenleistung für den Auftritt vor Ludmillas Eltern anbieten. Nur, das Einzige, was das Spiegelbild wollte und was es interessierte, war der Spiegel. Es wollte durch den Spiegel reisen. Ludmilla hinterher. Und das war das Problem: Ein Spiegelbild konnte nicht durch den Spiegel reisen. In Eldrid gab es keine Spiegelbilder. Und schon gar keine quicklebendigen. Sollte sie Ludmillas Spiegelbild nach Eldrid bringen, würde sie Ludmilla gefährden und vielleicht sogar ganz Eldrid aus dem Gleichgewicht bringen. Also, was tun?
Minas letzter Ausweg war, ein Wesen aus Eldrid zu Hilfe zu rufen. Sie selbst war nicht mehr Herr der Lage.
Mina versuchte es mit einer List: Sie würde versuchen, ein Wesen durch den Spiegel zu rufen, ohne dass das Spiegelbild es merkte. Als Erstes überzeugte Mina Ludmillas Spiegelbild davon, dass sie zu ihm in den Raum kam, um mit ihm zu reden. Sie wolle nur reden, beteuerte sie. Und sie bringe etwas zu essen und zu trinken. Das Spiegelbild hatte Hunger und Durst. Das hatte es immer wieder deutlich gemacht. Mina ließ sich vom Spiegelbild versprechen, dass es nicht aus dem Zimmer rennen würde, wenn Mina die Tür öffnete. Das Spiegelbild versprach es, und Mina schloss das Zimmer auf.
Natürlich schoss das Spiegelbild auf sie zu und wäre ihr beinahe entwischt, aber Mina hatte damit gerechnet und die Tür mit einem gekonnten Fußtritt hinter sich geschlossen. Blitzschnell sperrte sie die Tür zu.
Daraufhin schmollte das Spiegelbild zunächst. Aber Mina ließ sich davon nicht beeindrucken. Sie redete so lange auf es ein, bis es sich ablenken ließ. Während das Spiegelbild hungrig die Brote verschlang, die Mina zubereitet hatte, konnte sie ganz beiläufig den Spiegel berühren, ohne dass es das Spiegelbild bemerkte. Der Spiegel reagierte mit einem matten, kurz aufblitzenden Glühen. Auch das nahm das Spiegelbild nicht wahr. Mina war überzeugt, dass dies ausreichte. Für einen Ruf.
Und nun wartete sie. Sie wartete auf eine Antwort. Oder auf ein Zeichen. Dabei ließ sie allerlei Unverschämtheiten über sich ergehen. Ludmillas Spiegelbild war unermüdlich, wenn es darum ging, Mina zu beschimpfen. Es verspottete Mina in einer Tour .
»So wird das nichts, meine Liebe! Du wolltest reden. Dann rede.« Böse Augen funkelten Mina an. »Du willst meine Hilfe? Dann musst du mir schon was anbieten. Etwas, was mir auch was bringt!«, zischte das Spiegelbild sie an.
Mina verdrehte nur genervt die Augen. »Ich werde dir etwas bieten. Warte nur ab. Zuerst musst du mir beweisen, dass du dich benehmen kannst. Kannst du dich benehmen? Kannst du das überhaupt?«, konterte sie energisch. Dabei schielte sie immer wieder zum Spiegel und dann auf die Uhr. Um 17 Uhr kamen Ludmillas Eltern. 17 Uhr, das waren keine drei Stunden mehr. Irgendein Wesen musste doch Minas Ruf gehört haben. Ihr Herz raste, und sie wurde langsam nervös.