Dreiundzwanzigstes Kapitel
Lando als Späher
Lando hatte die Form eines Spähers angenommen und kreiste stumm über Zamirs Höhle. Es war eine lange Reise gewesen, da er den hellen Teil von Eldrid nicht als Späher überfliegen konnte. Es gab zu viele Gefahren. Späher waren verhasst und wurden gejagt. Deshalb hatte er den hellen Teil als Bussard überflogen. Ein sehr schnelles Tier, aber, Lando konnte es nicht leugnen, das Fliegen hatte ihn Kraft gekostet. Zusätzlich zu der Verwandlung. Also hatte er kurz gerastet und seine Gestalt angenommen. Formwandler konnten nicht von einer Gestalt in die andere schlüpfen. Sie mussten zunächst ihre eigene Form annehmen, bevor sie die nächste besitzen konnten. Als er den dunklen Teil des Waldes erreichte – er war einen Teil des Weges gelaufen, um Zeit zu sparen –, hatte er sich in einen Späher verwandelt.
Am Himmel hing die riesige dunkle Schattenwolke und verhüllte die Sonne. Lando hatte den dunklen Teil seiner Welt bisher noch nicht von oben gesehen. Gerade als er beschloss, noch ein wenig das Land zu erkunden, tauchten Zamirs Späher am Horizont auf. Lando hörte ihr Kreischen schon von weitem. Er suchte nach einem geeigneten Platz, von dem aus er unbemerkt den Höhleneingang beobachten konnte, und ließ sich auf einen Ast eines uralten Baumes hinab. Dort verharrte er regungslos und wartete ab.
Zamir erschien am Eingang seiner Höhle. Er hielt Abstand zu der unsichtbaren Barriere, die offenbar noch zu funktionieren
schien. Ungeduldig lief er vor dem Eingang hin und her. Dabei murmelte er ständig etwas vor sich hin.
Lando betrachtete spöttisch Zamirs Äußeres, das so menschlich war. Er hatte fast nichts mehr mit einem Wesen von Eldrid gemein.
Kein Wunder, dass er so bösartig ist! All das Gute, das Eldrid verkörpert, ist in ihm erloschen, dachte Lando abfällig. Noch während er den Gedanken zu Ende dachte, schüttelte er sich kurz. Er durfte diese Gefühle jetzt nicht haben, sonst würde Zamir seine Anwesenheit spüren. Wut und Angst spürte Zamir besonders intensiv. Das wusste Lando.
Die Späher ließen nicht lange auf sich warten. Sie versammelten sich um den Eingang herum und kreischten unablässig, bis Zamir die Hand hob. Es wurde schlagartig still. Sie reckten den Kopf zu ihrem Herrn empor, beäugten ihn mit den rot glühenden Punkten, die aus den schwarzen Höhlen ihrer Köpfe hervorstachen. Ein etwas größerer Vogel hüpfte nach vorn und krächzte. Zamir nickte ihm zu, und der Vogel hüpfte in die Höhle hinein.
Zamir ließ sich auf die Knie nieder und schob sein Gesicht ganz nah an das des Vogels heran. Er stierte dem Vogel genau in die Augen. »Dann lass mal sehen«, herrschte er ihn an.
Das Auge des Spähers schwoll an und fing an zu glühen. Lando konnte kaum glauben, was er sah: Zamirs Augen glühten in der gleichen Farbe wie die des Vogels, während er in seiner Haltung verharrte.
Nach einer Weile richtete sich Zamir wieder auf und schrie triumphierend: »Aha! Sie sind also wirklich im Schneegebirge. Dieser Narr! Das schafft er nie mit diesem Scathan-Mädchen.«
Zamir fixierte noch einmal das Auge des Vogels, erstarrte für einen weiteren Augenblick, bevor er erneut aufkreischte und ein hysterisches Lachen ausstieß. »Ein Schneegeist ist bei ihnen! Er wird sie nie passieren lassen. Niemals!«
Lando zuckte zusammen. Uri war mit Ludmilla im
Schneegebirge von den Schneegeistern gefangen genommen worden? Er konnte es nicht fassen. Wie konnte es dazu kommen?
In diesem Moment hüpfte der Späher aus der Höhle, und wenige Sekunden später erhob sich die Schar kreischend in die Höhe. Zamir stand in selbstgefälliger Haltung am Höhleneingang und blickte seinen Spionen hinterher.
Lando hatte nicht hören können, welchen Auftrag die Späher von ihm erhalten hatten. Er zuckte regelrecht zusammen, als Zamir plötzlich in den Wald schrie: »Es dauert nicht mehr lang! Bald werde ich über ganz Eldrid herrschen! Die Dunkelheit wird überall hereinbrechen und sich in jeden auch noch so hellen Winkel ausbreiten. Es gibt kein Entkommen!«
Er lachte sein martialisches Lachen, das im Wald widerhallte. Der Wald bebte unter dem schrillen Gelächter.
Lando war sich zwar sicher, dass Zamir ihn nicht bemerkt hatte, aber dennoch duckte er sich instinktiv. Sein Herz pochte wie wild. Jetzt war ihm einiges klar: Zamir sah durch seine Späher. Er blickte in die Augen der Späher und konnte sehen, was sie gesehen hatten. So bekam er seine Informationen über seine Opfer. Wie oft hatte er sich gemeinsam mit Uri und Bodan gefragt, wie Zamir seine Opfer visualisieren konnte. Denn Zamir brauchte ein ganz genaues Bild seines Opfers, wenn er es rufen und dann sich dessen Schatten nehmen wollte. Eine Beschreibung allein reichte nicht. Er musste das Wesen dazu gesehen haben. Sie waren bisher davon ausgegangen, dass er das Wesen erst sah, nachdem er oder seine Verbündeten es zur Höhle gelockt hatte. Aber jetzt war Lando klar: Zamir sah seine Opfer durch die Augen der Späher, die ihm ihre Erinnerung und damit auch das Bild des Wesens brachten.
Lando durchschauderte es. Das bedeutete, dass jedes Mal, wenn ein Späher etwas beobachtete, Zamir es auch sehen konnte.
Lando durchfuhr ein Stich. Uri und Ludmilla! Zamir wusste jetzt ganz genau, wie Ludmilla aussah. Die Späher hatten von ihnen berichtet. Und die beiden saßen fest, fest im Schneegebirge.
Er würde Hilfe holen müssen. Er konnte nicht länger vor Zamirs Höhle hocken und hoffen, dass noch etwas passierte. Das Wesentliche hatte er erfahren: Zamir wusste, dass Ludmilla in Eldrid war, und er wusste, wie sie aussah. Er brauchte nur noch ihren Namen herauszufinden, dann konnte er sie endgültig rufen. Aber wollte er sie überhaupt rufen? War sie für ihn interessant? Oder besser: Wusste Zamir, wie besonders Ludmilla war?
Lando zögerte. Er fixierte Zamir, der vor dem Höhleneingang hin und her tigerte. Er murmelte unaufhörlich etwas und machte zwischendurch eigenartige Hüpfer. Immer wieder entfuhr ihm ein schriller euphorischer Schrei. Lando war überzeugt: Hier würde gleich noch etwas passieren. Er konnte jetzt noch nicht gehen. Noch nicht.
Er musste nicht lange warten. Plötzlich wurde es im Wald noch dunkler. Alle Geräusche verstummten. Es wurde so still, dass jedes Knacken eines noch so kleinen Ästchens im gesamten Wald widergehallt hätte. Lando hielt den Atem an und starrte gebannt auf den Höhleneingang. Und dann nahm er sie wahr: Fünf Gestalten glitten lautlos auf den Höhleneingang zu.
Fünf Gestalten mit langen schwarzen Mänteln und Kapuzen. Die Mäntel schleiften über den Boden, und dennoch konnte Lando kein Geräusch hören. Die verhüllten Wesen waren nicht zu erkennen. Tief hingen die Kapuzen im Gesicht; die Mäntel waren weit, so dass sie Arme, Hände, Beine und Füße überdeckten. Lando strengte seine Augen an, die in der Dunkelheit rot zu leuchten begannen. Unruhig versuchte er, ein Wippen seines Hinterteils zu verhindern. Der Späher in ihm erwachte und wollte zu seinem Herrn. Was geschah hier?
Zamir breitete die Arme aus und stellte sich ganz nah an die Grenze des Höhleneingangs. Er wippte vor Aufregung auf seinen Zehenspitzen hin und her.
»Meine Schatten! Meine mächtigen Schatten! Welch eine Wohltat, euch alle zu sehen. Wir haben etwas zu feiern. Godal! Du bist gekommen!« Dann klatschte er in die Hände, und schrill ertönte
sein Vorwurf: »Ihr verlasst viel zu selten euer Schattendorf, um mir einen Besuch abzustatten!«
Lando erstarrte innerlich. Er wagte es nicht mehr zu schlucken. Direkt vor ihm stand Godal. Der gefürchtete Schattenkönig. Der personifizierte Schatten, der kein Leben in sich trug.
Das scharfe Zischen der Fünf durchschnitt die atemlose Stille des Waldes. Die schwerelosen Wesen glitten in Zamirs Höhle. Zamir schritt stolz voran.
»Kommt, kommt, tretet ein! Es gibt viel zu besprechen!«, hallte seine sich überschlagende Stimme im Höhleneingang wider.
Lando saß wie versteinert auf seinem Ast. Godal war bei Zamir, aber wer waren die anderen Gestalten? Zamir hatte sie seine „mächtigen Schatten“ genannt. Gab es neben Godal noch mehr mächtige Schatten? Wie hatten sie das nicht merken können? Wie hatte Uri das übersehen können? Seine Aufgabe war es, diese Welt zu beschützen und vor der Dunkelheit zu bewahren. Aber er wusste nicht einmal, was in dieser Welt vor sich ging. Und was war das für ein Schattendorf? Davon hatte Lando noch nie zuvor gehört. Hielten sich die Schatten dort für gewöhnlich auf? So hatte er Zamir verstanden. Und auch Godal? Würden sie Godal dort finden, wenn sie ihn an Ludmilla binden wollten? Das Schattendorf. Das musste er sich anschauen, wo auch immer es lag.
Lando entfuhr ein Krächzen, als er sich von dem Ast erhob. Er mochte leichtsinnig und überheblich sein, aber dumm war er nicht. Er würde sich nicht länger unnötig gefährden. Wenn Godal in der Nähe war, galt es, klug vorzugehen und ihn nicht auf sich aufmerksam zu machen. Geriet er erst mal in Godals Visier, wäre auch er nicht in der Lage, seinen Schatten zu retten. Und in eine solche Situation wollte er sich zumindest sehenden Auges nicht bringen. Nun galt es, so schnell wie möglich diesen Ort zu verlassen und in Erfahrung zu bringen, ob Uri und Ludmilla noch im Schneegebirge feststeckten.