Vierundzwanzigstes Kapitel
Die Macht
Die Schneegeister beschworen Wind, Nebel und Schneestürme herbei, die ein schnelles Vorankommen unmöglich machten.
Ludmilla versuchte mit bestem Willen, schnell voranzukommen, aber sie sank bei jedem Schritt fast bis zur Hüfte in den Schnee ein. Sie konnte nicht so leichtfüßig über den Schnee laufen wie Uri. Nach kürzester Zeit setzten die demoralisierenden Gedanken und Gefühle wieder ein. Sie fror am ganzen Körper und warf Uri jedes Mal, wenn er sich umwandte, vorwurfsvolle Blicke zu. Die Wirkungen der aufwärmenden Minuten in Uris schützender Seifenblase hielten immer kürzer an, und bald waren Ludmillas Lippen wieder blau vor Kälte und ihre Finger ganz steif.
Ludmilla erklomm gerade einen besonders hohen Schneehügel, als Uri auf sie wartete. Er blickte sie entschlossen an und hielt ihr seine Hände entgegen, als sie ihn erreicht hatte. Seine Hände glühten, und kleine goldene Funken sprangen in den Schnee. Die goldene Seifenblase tat sich auf, und der um sie herum tobende Schneesturm schien wie auf stumm geschaltet. Dankbar legte Ludmilla ihre Hände in die seinen und konzentrierte sich auf ihre Atmung. Ihr Atem ging schnell vor Anstrengung, und ihr Puls pochte in ihrem Kopf.
Und dann hörte sie Uris sanfte Stimme. Er starrte ihr eindringlich in die Augen, während er sprach: »So schaffen wir es nicht, Ludmilla«, hörte sie ihn. »Ich werde dir jetzt eine Macht verleihen, damit wir diesen unsäglichen Ort so schnell wie möglich verlassen können.«
Pixi quietschte auf und flog aus Ludmillas Kapuze heraus. »Das kannst du nicht tun, Uri!«, dröhnte sie, so dass sich Schneebretter über ihnen zu lösen begannen. »Das ist ein großer Fehler. Willst du die gleichen Fehler machen, die du schon bei Ada und Mina gemacht hast?« Pixis Stimme war schrill vor Zorn und Entsetzen.
»Ich habe den Schwestern keine Mächte verliehen!«, polterte Uri zurück.
»Du hast es aber auch nicht verhindert! Es war dein Spiegel, den sie benutzten! Und nur weil die Scathan-Schwestern Mächte hatten, konnte die eine ihren Schatten verlieren«, konterte Pixi aufgebracht.
Uri hielt inne und funkelte Pixi an.
»Es wird dich außerdem sehr schwächen«, fuhr Pixi ihn weiter an.
Uri schwieg. Er presste die Lippen aufeinander. Für den Bruchteil einer Sekunde wirkte er unentschlossen. Er funkelte die kleine Fee herausfordernd an, während sie vor seinem Gesicht hin und her schwebte.
»Hast du einen besseren Vorschlag?«, zischte er sie schließlich unüberhörbar an.
Pixi schlug nervös mit ihren Flügeln. »Nein, habe ich nicht«, presste sie hervor.
»Du siehst doch, dass sie friert und dass sie es so nicht schafft. Sie hat selbst gesagt, dass ihr bald die Zehen und Finger abfrieren werden. Die Schneegeister tun ihr Übriges dazu, damit sie sich kraftlos fühlt. Was sollen wir also deiner Meinung nach tun?«
Pixi flatterte empört herum. »Ich kann nur immer wieder betonen, dass du gegen die Auflagen des Rates handelst und du dich damit selbst gefährdest. Du weißt am besten, wie lange es dauert, bis du dich davon erholst, wenn du eine Macht verleihst. Du bist für Zamir viel angreifbarer. Du gehst ein großes Risiko ein.«
Uri lächelte matt. »Das weiß ich«, flüsterte er. Dann aber verhärtete sich sein Gesichtsausdruck. Er schob sein Kinn herausfordernd nach vorn. »Du kannst mich nicht daran hindern. Ich habe mich entschieden. Ich werde es tun!«
Uri wandte sich Ludmilla zu und ergriff erneut ihre Hände. »Hör mir zu, das ist wichtig!«
Ludmillas Augen funkelten.
»Du wirst nun sehr schnell laufen können, du wirst nicht mehr im Schnee einsinken, und wir werden das Schneegebirge in Windeseile verlassen können. Du hast diese Fähigkeit nur in Eldrid. Und«, er hielt kurz inne und sah Ludmilla eindringlich in die Augen, »dein Schatten bekommt jetzt eine besondere Bedeutung. Gib auf ihn Acht! Er kann sich von nun an von dir lösen. Verstanden?«
Ludmilla nickte entschlossen. Uri schloss die Augen. Ludmillas Hände begannen zu glühen, ihr wurde warm, und sie hatte das Gefühl, durch den Spiegel zu reisen. Es wurde ihr ein wenig übel, und dann fühlte sie sich ganz leicht.
Als sie die Augen öffnete, ließ Uri ihre Hände los, taumelte ein paar Schritte zurück und stöhnte kurz auf. Er krümmte sich und stützte die Hände auf die Oberschenkel. Erschrocken starrte sie ihn an. Sein Gesicht war fahl, und der goldene Glanz darin war verschwunden. Seine Augen hatten sich verdunkelt. Ludmilla hatte den Eindruck, sie hätten ihren Schimmer verloren. Er zitterte und keuchte, so dass Ludmilla ihn stützend am Arm packen wollte.
Aber Uri machte eine abwehrende Bewegung. »Es geht gleich wieder«, versicherte er angestrengt und richtete sich langsam auf. »Gib mir ein paar Minuten. Du kannst deine neue Macht erproben, indem du einen großen Kreis um mich herumläufst«, keuchte er mühsam.
Mit seinen Worten zerplatzte die schützende Seifenblase, so dass Ludmilla sich frei bewegen konnte. Ludmilla sah ihn zweifelnd an. Dennoch tat sie ihm den Gefallen. Sie rannte los und fühlte sich, als ob sie über den Schnee schweben würde. Außerdem hatte sie den Eindruck, dass sie schneller als der Wind lief, der ihr plötzlich nicht mehr ins Gesicht peitschte. Sie lachte auf vor Überraschung, und bald kreischte sie vor Übermut, als sie immer größere Kreise um Uri herumdrehte.
Uri lächelte ihr zu. »Es kann losgehen«, forderte er sie schließlich auf. »Lass uns das Schneegebirge verlassen.« Seine Gesichtsfarbe war zwar noch etwas blässlich, aber er schien sich stark genug zu fühlen.
Ludmilla rannte los. Sie schien eine Schneise in den Schneesturm zu schneiden, und selbst Uri konnte kaum Schritt halten.
Plötzlich hörte Ludmilla etwas hinter sich. Es war ein Getöse wie von einer Lawine. Sie wollte sich umdrehen, aber Uri packte sie am Arm und zog sie weiter.
»Nicht umdrehen! Lauf, Ludmilla, lauf, so schnell du kannst, wir haben gleich die Grenze erreicht!«
Ludmilla lief noch schneller als vorher, und dennoch konnte sie nicht anders, als kurz einen Blick hinter sich zu werfen. Hinter ihnen hatten sich vier Schneegeister aufgebaut, die in ihrer vollen Größe, größer als ein Hochhaus, durch den Schnee glitten. Sie verfolgten sie und schrien etwas, das Ludmilla nicht verstand. Immer wieder versuchten die Schneegeister nach ihnen zu greifen. Aber die beiden waren schnell. Dennoch kamen die Schneegeister bedrohlich nahe, und Ludmilla konnte nun ihre Befehle hören: »Stehen bleiben! Ihr seid unsere Gefangenen!«
Ludmilla konzentrierte sich auf ihre Schritte, und plötzlich bemerkte sie, wie der Schnee auf dem Boden weniger wurde und der Nebel sich lichtete. Sie liefen auf eine nur leicht schneebedeckte Landschaft zu. Als Ludmilla sich erneut umschaute, sah sie eine Schneehand, die wenige Zentimeter hinter ihr war. Sie stolperte vor Schreck und wäre fast hingefallen. Doch Uri fing sie auf und zog sie die letzten Meter bis zur Grenze mit. Dort ließ er sich schwer atmend auf den Boden fallen.
Die Schneegeister standen wie vor einer Barriere aus zu wenig Schnee und stießen wütende Schreie aus. Ludmilla hielt sich die Ohren zu .
Uri aber hob entschuldigend die Hände. »Es ging nicht anders! Ich brauche das Mädchen!«, rief er den Schneegeistern zu. Ein überlegenes Lächeln konnte er sich dabei nicht verkneifen.
Die Schneegeister versuchten noch einige Male, sie zu ergreifen, aber der Schnee reichte nicht aus. Tosend, Uri wütende Blicke zuwerfend, zogen sie sich zurück.