Fünfundzwanzigstes Kapitel
Zamirs Machtdemonstration
»Woher wusstest du, dass sie nicht weiter kommen?«, fragte Ludmilla den schwer atmenden Uri. Er sah erschöpft aus. Seine Haut war immer noch fahl, und mehr Falten als zuvor zogen sich durch sein Gesicht. Seine Augen leuchteten müde.
»Hier ist die Grenze«, murrte Pixi widerwillig, als Uri nur ein Japsen hervorbrachte. Sie zeigte auf einen Grenzstein, der aus dem Boden ragte. Es war ein grauer unscheinbarer Stein in der Form einer unförmigen Kugel und trug ein Symbol, das Ludmilla an die Zeichen auf dem Spiegel erinnerte.
Ludmilla warf Pixi einen fragenden Blick zu, aber die kleine Fee zog sich wieder in Ludmillas Kapuze zurück. Sie war immer noch sehr verstimmt und sprach kein Wort.
»Grenzsteine in Eldrid? Das passt irgendwie gar nicht zu dieser Welt«, murmelte Ludmilla mehr zu sich selbst.
Uri nickte, hob einen Finger, doch der glühte nur matt, so dass er ihn wieder sinken ließ und schwieg.
Ludmilla setzte sich neben ihn und betrachtete die Landschaft, die vor ihnen lag. Sie blickte in ein kahles Tal, an dessen Ende sie meinte, den Wald erkennen zu können. Auch Felder und Gräser ließen sich nur in weiter Ferne erahnen. Die wunderschöne, farbenprächtige Talebene, Airin, die sie von Bodans Terrasse aus bewundert hatte, war nirgends zu entdecken. Auch nicht am Horizont. Dieser Teil Eldrids war karg und farblos. Das Gras, auf dem
Ludmilla saß und das sich in das Tal hinunterfraß, war grau und sah aus, als wäre es halbtot.
Uri bemerkte Ludmillas Verwunderung. »Wir befinden uns hier am Fuß des Schneegebirges. Das ist ein Teil von Eldrid, der von Tieren und Wesen bewohnt wird, die keinen Wert auf Gesellschaft legen. Das hier ist neutraler Boden, könnte man sagen. Wir nennen diesen Teil unserer Welt Nahil«, erklärte er, wobei er flüstern musste.
»Das heißt, dass jeder diesen Teil von Eldrid bereisen kann. Egal, ob vom dunklen oder hellen Teil?«, fragte sie interessiert.
»Ja, damit hast du recht. Das hier ist sozusagen Niemandsland. Keiner beansprucht es. Es ist so karg und unfruchtbar – und voller Wesen«, er überlegte kurz, »denen man lieber nicht freiwillig begegnet, da sie starke Abwehrmechanismen haben, die gefährlich sind.«
»Das heißt aber auch, dass jeder es für sich beanspruchen kann, oder?«, überlegte Ludmilla weiter.
»So habe ich das noch nicht betrachtet. Dazu ist Nahil zu unbedeutend, und die Wesen, die in Nahil leben, sind nicht sehr beliebt in Eldird. Wie gesagt, sie sind nicht besonders gesellig. Aber ja, damit magst du recht haben.«
Ludmilla lächelte zufrieden. Insgesamt, so bemerkte sie gerade, fühlte sie sich hervorragend. Obwohl der Boden feucht und kalt war, fror sie nicht. Energie durchströmte ihren ganzen Körper, und sie hatte ein Gefühl der Unbesiegbarkeit.
Uri beobachtete sie kritisch. »Du hast dich schnell an deine neue Fähigkeit gewöhnt. Das ist gut.« Er nickte bekräftigend. »So werden wir heute Abend noch vor Anbruch der Dämmerung meine Höhle erreichen. Der Weg ist bei weitem nicht so beschwerlich wie der durch das Schneegebirge. Bleib immer dicht bei mir. Die Wesen, die hier leben, leben zurückgezogen. Solange wir ihnen nicht zu nahe kommen, tun sie uns nichts.«
Langsam erhob er sich. Sein Gesicht war verzerrt, als ob ihn jede Bewegung schmerzte. Ludmilla sah ihn besorgt an, wagte
jedoch nicht, ihm zu helfen. Dann setzten sie sich in Bewegung. Ludmilla hielt sich an Uris Worte und blieb immer dicht bei ihm. So konnten sie unbehelligt und sehr schnell eine weite Strecke zurücklegen.
Schon nach ein paar Stunden hatte sich die Landschaft von der kargen, düsteren Umgebung verabschiedet und in eine sonnendurchströmte Welt verwandelt. Nahil war jedoch nicht so farbenfroh wie Airin, die Talebene, die zwischen dem Wald und Fluar lag. Die Farben waren matt und nicht so leuchtend. Auch die Pflanzen schienen andere zu sein. Diese hier hatten Stacheln oder Dornen, wuchsen rankenartig und überzogen den Boden und teilweise auch den Weg, so dass Ludmilla und Uri mehrfach vorsichtig darübersteigen mussten.
Immer wieder begegneten ihnen Tiere, die wie Rehe aussahen. Sie waren nur viel größer und ihre Fellfarbe war eine Mischung zwischen Schneeweiß und Grau. Sie sprangen durch die Felder, so dass Ludmilla immer nur einen kurzen Blick erhaschen konnte. Sie hörte die Vögel zwitschern, um sie herum brummte und summte es, und der Duft der Blumen stieg ihr in die Nase. Es war, als wäre sie wieder in dem Teil von Eldrid angelangt, den sie schon erkundet hatte. Aber die Stimmung war eine andere. Das nahm sie wahr. Auch die Wesen, die sie entdeckte, verhielten sich verhalten und zeigten keinerlei Interesse an ihr und Uri. Manchmal konnte Ludmilla ihrer Neugier nicht widerstehen und blieb stehen, um die Wesen zu beobachten. Uri ließ sie gewähren, ermahnte sie aber, einen gebührenden Abstand einzuhalten. Er nutzte die kleinen Pausen, um sich zu erholen. Er hatte nicht damit gerechnet, dass Ludmilla so schnell war. Sie konnte ihre neue Fähigkeit anwenden, als hätte sie sie schon immer besessen. Das war ungewöhnlich. Und noch etwas war anders als sonst: Die Verleihung der Macht an Ludmilla hatte ihn viel mehr Kraft gekostet als jemals zuvor.
Plötzlich blieb Uri stehen. Sein Gesichtsausdruck erstarrte, und ganz langsam fing er an, sich zu krümmen. Ludmilla beobachtete
gerade Wesen, die wie Libellen aussahen. Es waren klitzekleine menschliche Geschöpfe, die große durchsichtige Libellenflügel hatten und ihre langen Körper in die Luft streckten. Sie hatten einen schmalen Kopf und spitze Nasen, fast durchsichtige Glieder und eine schillernde Haut.
Als Ludmilla sich zu einem der Libellenmenschen hinunterbeugte, um ihn noch genauer betrachten zu können, stöhnte Uri laut auf. »Ludmilla, nicht!« Mehr brachte er nicht hervor. Er sank in die Knie und senkte seinen Kopf.
Ludmilla richtete sich auf und blickte zu ihm, der ein paar Meter weiter auf dem Boden saß. Sie stürzte auf ihn zu. »Uri, was hast du?«
Aber Uri konnte nicht antworten. Er stierte auf den Boden und schien sich zu konzentrieren. Sein ganzer Körper zitterte.
»Pixi, was hat er?«, rief Ludmilla, aber sie erhielt keine Antwort. »Pixi?«
Ludmilla sah sich verzweifelt um. Wo war die Fee? Pixi tauchte nicht auf. Ludmilla kniete sich neben ihn und wusste nicht, was sie tun sollte. Immer wieder rief sie nach Pixi, wobei sich ihre Stimme fast überschlug. Jetzt brauchte sie ihre neue kleine Freundin. Wo war sie nur?
Zeitgleich saß Zamir in seiner Höhle und murmelte unaufhörlich Zauberformeln vor sich hin. Er hatte die Augen geschlossen und wiegte seinen Oberkörper vor und zurück. Es war so weit. Uri war geschwächt. Das war die
Chance, seinen Verbannungszauber zu brechen. Aber er war immer noch sehr stark und wehrte sich. Zamir beschwor all seine Mächte, um Uri noch mehr zu schwächen. Jetzt könnte er Godals Hilfe gut gebrauchen. Wo war Godal? Sein markanter Unterkiefer knackte vor Anspannung.
Uri kniete auf allen vieren auf dem Boden. Er murrte und knurrte, als befände er sich im Kampf. Ludmilla hatte es aufgegeben, ihn anzusprechen. Er war wie in Trance. Zwischendurch stöhnte er auf und krümmte sich kurz zusammen, bevor er sich wieder mühsam aufrichtete. Zamir war stark geworden. Sehr
stark. Warum hatte er es nicht bemerkt? Aber den Zauber würde er nicht brechen können. Es kostete ihn viel Kraft, aber er konnte den Angriff abwehren.
Zamir schrie vor Zorn. Wie konnte das sein? Er konnte Uris Schwäche spüren. Er konnte sie förmlich riechen. Es war der süße Duft des Untergangs. Zamir lächelte selbstgefällig. Es war nur noch eine Frage der Zeit, von Minuten. Geduld, Zamir, Geduld, gleich hast du ihn. Sein Gesicht verzog sich zu der Fratze, die er trug, wenn er an seinen Machtplan dachte. Erneut sprach er die Zauberformel aus.
Uri hob den Kopf und atmete auf. Zamir war nahe dran gewesen. Sehr nahe. Er hatte es deutlich gespürt. Ludmilla saß neben ihm. Sie hatte ihm die Hand auf die Schulter gelegt. Er starrte entsetzt darauf, und da entdeckte Ludmilla es auch. Ihre Hand glühte. Sie glühte genauso, wie Uris Hände glühten. Nur dass Ludmilla ein Mensch war und diese Fähigkeit gar nicht besitzen konnte. Voller Erstaunen spürte Uri plötzlich, wie eine fremde neue Kraft ihn durchströmte. Ungläubig blickte er sie an. Ludmilla starrte auf ihre glühende Hand und wagte nicht, sich zu bewegen.
In diesem Augenblick kam die nächste Attacke. Uri krümmte sich vor Schmerz und schrie auf. Seine Brille fiel zu Boden, und Schweißperlen standen auf seiner faltigen Stirn. »Was immer du gerade getan hast, Ludmilla. Hör auf damit«, presste er hervor.
Ludmilla sah ihn fassungslos an. Warum sollte sie damit aufhören? Es schien ihm zu helfen. Sie starrte auf ihre Hand, die auf Uris Schulter ruhte und glühte. Etwas Seltsames, Wärmendes durchströmte ihren Körper. Sie hatte das Gefühl, dass diese Wärme, diese Energie durch ihre Hand in Uris Körper floss. Sie konzentrierte sich darauf und schloss die Augen. Uri schüttelte sich und versuchte, Ludmillas Hand abzustreifen, aber sie krallte sich an ihm fest.
»Du gefährdest dich damit!«, zischte er zwischen zusammengepressten Zähnen hervor
.
»Ja, und?«, fuhr sie ihn an. »Ich kann dir helfen, also ist es das wert.« Ihre Augen funkelten wild.
In diesem Moment schrie Zamir in wildem Zorn auf. »Nein!«, tobte er. »Nein, das ist nicht möglich!«
Er griff sich mit beiden Händen an den Kopf und krallte sich an seinen Haaren fest. Und dann geschah etwas, mit dem er nicht gerechnet hatte. Ihn durchfuhr ein Schmerz, der ihn schwanken ließ. Er krümmte sich und stöhnte auf. »Nein, nein, nein!«, raste er. Dunkle Funken sprühten aus seinen Augen und aus seinen feinen Poren im Gesicht. Er hielt sich den Magen und beugte sich nach vorn.
»Uri!«, schrie er schäumend. »Uri, wer hilft dir? Das bist du nicht allein!« Er ächzte vor Schmerz. Falten und Adern traten in seinem Gesicht hervor.
»Oh nein, das nicht! Nicht mein Gesicht!«, kreischte er hysterisch. Seine Hand fuhr zitternd über seine Stirn. »Keine Falten!«, presste er zwischen den Zähnen hervor. »Keine Falten!«
Er fiel in sich zusammen, als der Schmerz abrupt endete. »Wer bist du?«, schrie Zamir los. Seine Worte hallten in der Höhle wieder. »Wer wagt es? Wer ist so mächtig?«
Er raste vor Wut. Seine Fußabdrücke hinterließen tiefe Spuren im Höhlenboden, der sanft in dunklen Farben funkelte.
»Das muss sie sein. Es gibt keine andere Erklärung. Sie muss ihm helfen. Sie ist ganz außergewöhnlich, diese
Scathan!«, schnaubte er. »Doch das war ein Fehler. Denn jetzt habe ich sie gespürt. Ich weiß, wie sie sich anfühlt. Das ist besser, als sie zu sehen. Jetzt kann ich in ihren Kopf eindringen und sie rufen!«
Er brach in ein grausames Gelächter aus. »Ich weiß jetzt, welchen Schatten ich brauche. Den EINEN Schatten. Das Mädchen hat ihn. Aber nicht mehr lange. Und dann werde ich den Bann brechen!«
Er lachte. Schrill und laut. Dabei drehte er sich im Kreis, breitete seine Arme aus und flog wie ein Propeller durch seine Höhle. Immer schneller drehte er sich, immer höher bis unter die Decke flog er, bis seine Gestalt kaum mehr zu erkennen war
.
Uri richtete sich langsam auf. Zorn stand in seinem angestrengten Gesicht. »Das war töricht!«, polterte er los. »Jetzt kennt er dich. Jetzt braucht er nicht einmal mehr ein paar alberne Informationen, wie deinen Namen, dein Aussehen. Er hat dich gespürt. Jetzt kann er dich jederzeit rufen.«
Sein Gesicht war fahl vor Anstrengung, und dennoch sprühte ein ganzer Funkenregen aus seinen Augen, so sehr erregte er sich.
»Weißt du eigentlich, wie gefährlich das ist?«, presste er beherrscht hervor. »Er hat deine Macht gespürt. Du bist jetzt interessant für ihn. Er wird dich rufen. Früher oder später, und ich bin mir nicht sicher, ob du seinem Ruf widerstehen kannst.«
Ludmilla stand betroffen da. »Ich wollte nur helfen«, versuchte sie zu erklären.
»Ich brauchte deine Hilfe nicht! Ich wäre auch allein mit ihm fertig geworden«, behauptete er empört. »Und woher wusstest du eigentlich, dass du mir helfen kannst?«
Ludmilla hob die Schultern. »Es war so ein Gefühl«, erwiderte sie kleinlaut. Gleichzeitig ärgerte sie sich über ihre Antwort. Sollte er doch dankbar sein, dass sie ihm geholfen hatte! Stattdessen schrie er sie an. Herausfordernd schob sie ihr Kinn nach vorn. »Und das bezweifle ich, dass du ohne meine Unterstützung mit ihm fertig geworden wärst«, fuhr sie ihn an. Und noch bevor Uri wutentbrannt antworten konnte, setzte sie hinzu: »Ich habe deine Schwäche und seine Stärke gespürt. Ohne mich hätte er deinen Bann gebrochen!«
Uri sprang auf, schnaubte so stark, wie ein aufgebrachtes Rhinozeros, dass dabei Funken aus seinen Nasenflügeln sprühten. »Wie kannst du es wagen …!«, presste er hervor.
»Ich habe es gewagt, und ich habe dir geholfen. Sieh es ein!«, fauchte sie.
Für ein paar weitere Sekunden sprühten Uris Funken durch die Luft, dann setzte er sich schwer atmend auf den Boden und starrte vor sich hin.
Ludmilla beobachtete ihn aus den Augenwinkeln. Wie alt und klein er wirkte. Er tat ihr fast ein wenig leid
.
Als Uri ihren Blick wahrnahm, zwang er sich zu einem Lächeln. »Es tut mir leid, Ludmilla. Ich weiß, dass du denkst, dass ich dir danken sollte. Ohne genau zu wissen, was da eben passiert ist und wie du dazu überhaupt fähig bist, muss dir eines klar sein: Das, was du getan hast, so edel deine Absichten auch waren, hat vor allem eines bewirkt, und da bin ich mir absolut sicher: Du bist jetzt Zamirs nächstes Ziel.«
Ludmilla sah ihn nachdenklich an.
»Ja, und?«, fragte sie fordernd. »Dann hat er mich eben gespürt. Aber ich habe nur die eine Macht, die du mir verliehen hast. Das kann für ihn nicht interessant sein.«
Sie wusste selbst, dass das so nicht ganz den Tatsachen entsprach. Sie hatte eine unbekannte Macht in sich gespürt. Eine Macht, die sie befähigt hatte, Uri zu helfen. Sie hatte Uris Macht gespürt und Zamirs Macht gespürt, und ihre Macht war die stärkste gewesen. Aber konnte das überhaupt sein? Sie schüttelte sich unmerklich. Dieser Gedanke war ihr zu fremd.
Stattdessen fuhr sie so unbedarft wie möglich fort: »Fürs Erste kann er immer noch nicht seine Höhle verlassen, und auch er ist geschwächt nach eurem Duell. Das verschafft uns doch auch Zeit, oder etwa nicht?«
Uri lächelte schwach. »Das ist wohl wahr«, murmelte er. »Nur wissen wir nicht, was als Nächstes kommt, und davor fürchte ich mich.«
Uri fürchtete sich?, wunderte sie sich. Das war kaum zu glauben, nach allem, was sie über ihn gehört hatte und wie er sich gab. Sie dachte an Bodans Worte: Auch Uri trägt viele menschliche Eigenschaften in sich. Furcht gehörte offenbar dazu.
Plötzlich sah sich Uri suchend um. »Wo ist Pixi?«, fragte er verwundert.
Ludmilla zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht«, erwiderte sie niedergeschlagen. »Hast du nicht gehört, wie ich nach ihr gerufen habe?«
Uri schüttelte den Kopf
.
»Ich habe sie immer wieder gerufen, aber sie hat nicht geantwortet. Ich glaube, sie ist weg.«
Uri wiegte den Kopf ungläubig hin und her und fing an, die kleine Fee zu rufen.