Sechsundzwanzigstes Kapitel
Fluars Besetzung
Bodan schlich durch die Gassen. Immer wieder musste er sich vor vorüberrollenden Berggeistern verstecken, die die Stadt durchkämmten. Die Berggeister waren außerhalb des Gebirges sehr ungelenk. Überlieferungen besagten, dass sich dies im Gebirge ganz anders verhielt. Berggeister konnten im Gebirge verschiedene Formen annehmen. Sie konnten mit dem Gebirge verschmelzen oder sogar wie der Wind durch die Gänge fegen. Aber hier in der Stadt waren sie nicht in ihrem Element. Sie stapften wie zu große Riesen durch die Straßen, wobei sie des Öfteren die Ecke eines Daches mitnahmen, ohne es zu bemerken. Bodan hatte viele Fährten durch die Stadt gelegt, um die Berggeister in die Irre zu führen und von seinem wahren Ziel abzulenken. So hatte er es bis zu einem der Höhleneingänge des Gebirges geschafft. Er vermutete, dass sich die Bewohner Fluars dort versteckten. Es gab nur zwei Wege aus der Stadt. Der eine führte direkt in das Gebirge Odil, über verschiedene Höhleneingänge und Gewölbe, der andere führte in die Talebene Airin, an deren Ende der Wald Teja lag. Aus dieser Richtung waren Ada und er gekommen, und ihnen war auf ihrem Weg in die Stadt kein einziger Städter begegnet. Also mussten sie im Gebirge sein.
Er versteckte sich hinter einem Schuppen und beobachtete den Gebirgseingang. Es waren keine Berggeister zu sehen. Aus dem Gebirge drang ein eintöniges dumpfes Hämmern. Außerdem war ein Grollen zu hören. Was ging da vor? Bodan überlegte angestrengt. In Eldrid gab es fünf Geisterwelten: die Schneegeister, Flussgeister, Waldgeister, Lichtgeister und die Berggeister. Die Geister waren grundsätzlich unabhängig und neutral. Auch waren sie nicht von dem Licht Eldrids abhängig. Sie beanspruchten ihre Territorien und mischten sich ansonsten nicht in die Belange der Welt ein. Dies galt zumindest für alle Geisterwelten, bis auf die Berggeister. Über die Berggeister war am wenigsten bekannt. Sie hatten seit Jahrhunderten geschlafen. Es gab ein uraltes Abkommen, das den Wesen von Eldrid erlaubte, das Territorium der Berggeister, das Gebirge Odil, zu durchqueren, wenn sie dadurch nicht geweckt würden. Das Gebirge war die einzige Verbindung zu einem ganz besonderen Teil von Eldrid. Dem sphärischen Teil, Ilios. Dort lebten Wesen, die genauso lichtdurchflutet waren wie die gesamte Landschaft. Sie wirkte fast durchsichtig, wie die Flügel der Feen.
Bodan seufzte voller Sehnsucht, als er an diesen Teil von Eldrid dachte. Ilios! Jetzt, da die Berggeister erwacht waren, würden sie eine Durchquerung des Gebirges sicherlich nicht mehr erlauben. Aber wie sollten sie dann jemals wieder nach Ilios reisen können? Zamir hatte alles verändert, indem er die Berggeister geweckt hatte. Einfach alles. Bodan schüttelte verbissen den Kopf.
Aber noch andere Fragen quälten Bodan: Die Berggeister waren Wesen der Dunkelheit. Ihr Element war das dunkle Gebirge Odil. Sie waren sehr mächtige Geister und könnten dem Bündnis der Wesen des hellen Teils von Eldrid gefährlich werden. Bisher hatte sich keine der Geisterwelten dem Kampf gegen die Dunkelheit angeschlossen. Das würde sich ändern, wenn Zamir in den Berggeistern Verbündete im Kampf für die Ausbreitung der Dunkelheit gewinnen würde. Würden sich die Berggeister einmischen und mit Zamir verbünden? Oder waren sie vielmehr verärgert, dass er sie geweckt hatte? Bodan vermochte dies nicht abzuschätzen, und er wusste, dass dies keiner konnte. Auch Zamir nicht.
Und warum waren die Schneegeister so aufgebracht? Schnee lag über der Stadt, die nicht zu ihrem Territorium gehörte. Die Schneegeister hatten sich stets von Allianzen ferngehalten. Da hielten sie es genauso wie die anderen Geisterwesen. Aber zuweilen ließen sie mit sich reden. Das gab Bodan Hoffnung. Vielleicht gab es eine Chance, die Schneegeister für sich zu gewinnen und sich mit ihnen gegen Zamir zu stellen. Eine Allianz mit den Schneegeistern gegen Zamir und die Berggeister, das wäre ein Hoffnungsschimmer.
Plötzlich sah Bodan ganz klar: Es war von höchster Notwendigkeit, so schnell wie möglich die Schneegeister aufzusuchen und mit ihnen in Verhandlung zu treten. Sie mussten überzeugt werden, dass sie sich mit den Kämpfern gegen die Dunkelheit verbündeten. Nur so hatten sie eine reale Chance gegen Zamir und gegen die Berggeister. Unabhängig davon galt es, noch eine Allianz zu verhindern: Die Schneegeister durften sich unter keinen Umständen mit den Berggeistern verbünden. Eine Allianz innerhalb der Geisterwelten hatte es in Eldrid noch nie gegeben und wäre ein unberechenbarer Zustand. Unberechenbarer, als Zamir es jemals sein würde.
Langsam ließ er sich im Schatten der Höhlenwand in das Gewölbe gleiten. Der Gang war dunkel. Das wenige Tageslicht, das der Nebel durchließ, wurde von der Dunkelheit des Gebirges schnell verschluckt. Er ging dem Geräusch nach, das aus dem Inneren des Gebirges kam. Vorsichtig schlich er den Gang entlang, bis er zu einer Höhle kam, von der mehrere Gänge in verschiedene Richtungen abgingen. Bodan kannte sich in dem Gebirgsinneren gut aus, da er sehr gern und oft nach Ilios reiste.
Bodan wählte einen Weg, der in das Innere des Gebirges führte. Er führte zudem in die Richtung des Schneegebirges. Die Gänge waren so dunkel, dass Bodan mehrmals stolperte. Seine Augen gewöhnten sich nur langsam an die Dunkelheit. Es war, als hätten die Berggeister das Gebirge mit so viel Dunkelheit gefüllt, dass kein Licht sie zu durchdringen vermochte. Bodan fluchte vor sich hin. Uri hatte immer Pixi bei sich, während Bodan lieber allein reiste. Aber jetzt wäre er für ein bisschen brummende Gesellschaft dankbar gewesen .
Bodan tastete sich so schnell vorwärts, wie er nur konnte. Das Hämmern wurde immer lauter. Nun konnte er auch Geräusche von Geröllarbeiten ausmachen. Er erreichte einen Gang, der einem Tunnel glich. Er war sehr steil und führte in das Herz des Gebirges. Kurz vor dem Ende des Tunnels erkannte Bodan einen schwachen Lichtschein. Das Hämmern und Grollen war zu einem ohrenbetäubenden Lärm angeschwollen. Je näher er dem Ende des Ganges kam, desto heller wurde das Licht. Es war kein Tageslicht, aber hell genug, um das Gebirgsinnere zu erleuchten. Bodan trat langsam aus dem Schatten des Tunnels in das Gewölbe hinein, das ihm die Sicht auf den Ursprung des Hämmerns und Dröhnens freigab.
Bodan taumelte vor Schreck zurück und presste sich an die Wand. Vor ihm öffnete sich ein tiefer Krater, der sich spiralförmig wie ein Schneckenhaus bis zum Grund des Gebirgsinneren schlängelte. Auf mehreren Ebenen, die offenbar dafür geschaffen worden waren, schlugen die Städter mit Hämmern, Sicheln und anderen Geräten auf das Gebirge ein. Es gab Wesen, die aufgrund ihrer Fähigkeiten den Fels bearbeiten konnten und dazu kein Werkzeug brauchten. Riesen schafften das Geröll aus dem Weg, wobei sie es wie Schnee zu einem riesigen Ball formten und fortrollten. Hunderte von Feen flogen brummend den Krater hoch und runter und gaben so genug Licht für die Arbeiten. Auf den verschiedenen Ebenen schwebten Berggeister, die dafür sorgten, dass die Städter arbeiteten. Pausen wurden nicht erlaubt. Immer wieder ließen sie ein bedrohliches Grollen von sich hören, das die Städter zum emsigen Weiterarbeiten anhielt. Sie schienen verängstigt und größtenteils völlig erschöpft.
Die Berggeister hatten die Arbeiten sehr effizient aufgeteilt. Sie schienen nur nicht zu berücksichtigen, dass die Städter Zeit zur Regeneration und Schlaf brauchten. Die Berggeister brauchten offenbar keinen Schlaf.
Bodan war entsetzt. Immer wieder entdeckte er ein Wesen, das in Ohnmacht fiel. Der Berggeist, der in der Nähe war, stöhnte vor Unmut auf und trug den Städter fort. Dann brüllte er die anderen an, weiterzumachen. Bodan unterdrückte einen Schrei des Entsetzens, als er sah, dass die Berggeister die ohnmächtigen Wesen auf einen Haufen warfen. Reglose Körper türmten sich aufeinander wie Abfall.
Bodan hatte genug gesehen. Für ihn war die Absicht der Berggeister klar zu erkennen. Mit Hilfe der Städter bauten sie das Gebirge unterirdisch weiter aus und erweiterten so ihr Territorium. Vielleicht hatten sie sogar vor, ganz Eldrid unterirdisch auszuhöhlen. Bodan wägte ab: Sollte er den gefährlichen Weg durch das Gebirge wagen und Gefahr laufen, von den Berggeistern gefangen zu werden? Wäre es nicht geschickter, mit einer Delegation von Ratsmitgliedern die Schneegeister aufzusuchen? Aber vielleicht war es dann schon zu spät. Fest stand, dass sie um jeden Preis vor einem Aufeinandertreffen der Berggeister und Schneegeister in Verhandlung mit den Schneegeistern treten mussten. Der Rat musste so schnell wie möglich die Schneegeister überzeugen, sich mit ihm zu verbünden und nicht mit den Berggeistern oder gar mit Zamir.
Bodan trat wieder an den Rand der Schlucht und suchte in den höheren Ebenen, die für ihn am ehesten zu erreichen waren, nach einer Fee oder einem Vogel. Im Inneren des Gebirges war es ihm nicht möglich, mit Uri telepathisch zu kommunizieren. Deshalb benötigte er einen Boten. Irgendetwas, das flog und klein war, so dass es sich leicht den Augen der Berggeister entziehen konnte. Vielleicht hatte er die Möglichkeit, ein kleines fliegendes Wesen zu Uris Höhle zu schicken, das seinen Bericht übermitteln konnte, und er würde versuchen, durch das Gebirge zum Schneegebirge zu gelangen. Dann könnten sie sich im Schneegebirge treffen und mit den Schneegeistern in Verhandlung treten. Bodan war bereit, sich von den Schneegeistern gefangen nehmen zu lassen, bis sie zu einer Verhandlung bereit wären.