Siebenundzwanzigstes Kapitel
Der Sumpf
Irgendwann gab Uri die Suche nach Pixi auf. Sorgenfalten standen auf seiner zerfurchten Stirn.
»Wir müssen weiter, Ludmilla«, sagte er entschlossen. Seine Beine schmerzten ihn, ebenso der Rest seines Körpers. Dennoch streckte er seinen Rücken durch und sah ihr fest in die Augen. Er wollte nicht noch mehr Schwäche zeigen. Es reichte schon, dass sie etwas Unmögliches getan hatte. Etwas, das es in Eldrid noch nie gegeben hatte.
»Aber was ist mit Pixi?«, fragte sie überrascht.
Uri schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, wo sie ist. Sie war nicht damit einverstanden, dass ich dir diese Macht verliehen habe. Das ist aber noch kein Grund, einfach so zu verschwinden.« Er hielt kurz inne und blickte nachdenklich zurück zum Schneegebirge. »Aber sie kann sehr gut auf sich selbst aufpassen, und die Zeit drängt. Wir müssen uns auf den Weg machen. Pixi wird schon wieder auftauchen.«
Er versuchte, unbekümmert zu wirken, aber Ludmilla glaubte ihm nicht. »Ist das denn ihre Art?«, beharrte sie.
»Wie meinst du das?«
»Na, verschwindet sie öfter einfach so?«, wollte Ludmilla wissen.
Uri stutzte, bevor er gereizt antwortete: »Nein, das ist nicht ihre Art, und, um genau zu sein, das hat sie noch nie gemacht. Selbst wenn wir uns nicht einig sind, sie verschwindet nicht einfach sang- und klanglos.« Mit diesen Worten wandte er sich ab und begann, den Hügel weiter hinunterzulaufen.
Ludmilla zögerte noch einen Augenblick und sah sich lange um. Aber sie konnte nichts entdecken, was ihr Gefühl bestätigte. Und dennoch, irgendetwas stimmt nicht. Irgendetwas fühlte sich nicht richtig an. Aber sie konnte nicht erklären, was.
Schließlich, als Uri nur noch ein kleiner Strich vor ihr war, rannte sie los. Sie lachte vor Freude auf, als sie ihre Beine kaum mehr erkennen konnte, so schnell rannte sie. Bald hatte sie Uri überholt, so dass sie ihr Tempo verringerte und die sich immer mehr verändernde Landschaft betrachtete. Und plötzlich sah sie klar: Mit dieser Macht fühlte sie sich unbesiegbar und stark, so stark, dass sie sich dieser Aufgabe stellen wollte. Sie würde sich Godal stellen und versuchen, ihn in ihre Welt mitzunehmen. Auch wenn sie Uri immer noch nicht ganz durchschaute, vertraute sie ihm. Und außer Uri würden noch andere Wesen sie begleiten und beschützen. Sicherlich Bodan und auch Lando. Vielleicht würde auch er sich ihrer Mission anschließen. Das würde ihr gefallen. Ihre Wangen fingen an zu glühen, als sie an ihn dachte. Das war ein Abenteuer, das sie sich nicht entgehen lassen würde. Übermütig fing sie an zu lachen und achtete dadurch nicht auf den Weg.
Als sie Uris warnendes Rufen hörte, war es schon zu spät. Sie stand mitten in einem von Morast bedeckten Sumpf. Darin lebten Laubfrösche. Zumindest sahen sie so aus. Wären da nicht ihre lila Zungen gewesen, und statt zu quaken zwitscherten sie wie Vögel. Auf ihrem Rücken hatten sie lila Verzierungen, die Ludmilla an die Verzierungen auf dem Spiegel erinnerten. Und bevor sie merkte, was geschah, sank sie ein. Sie wollte Uri um Hilfe rufen, doch ihre Stimme war wie blockiert. Und als sie sich gegen das Einsinken wehren wollte, merkte sie, dass sie sich nicht mehr rühren konnte. Alles an ihr war gelähmt. Sie sank immer weiter in den Sumpf ein. Uri rief ihr etwas zu, aber der Gesang der Frösche übertönte seine Stimme. Ludmillas Herz begann zu rasen. Panik überkam sie. Diese Panik mobilisierte ihre neue Macht, und mit einem Mal konnte sie wieder ihre Arme bewegen und schlug um sich.
Urplötzlich wurde es still und die Frösche fixierten sie mit ihren riesigen glupschigen, lilafarbenen Augen. Ludmilla bemerkte es zwar, ließ sich aber nicht beirren und versuchte sich auszugraben.
Uri hatte in der Zwischenzeit einen Stein gefunden, auf den er sich stellte, damit er nicht auch noch einsank, und hielt ihr einen Stock hin, an dem er sie aus dem Sumpf herauszog. Die Frösche wichen zurück und starrten die beiden stumm an. Uri zog Ludmilla zurück auf den Weg. Er schnaufte laut vor Anstrengung und rückte seine Brille zurecht, als sich Ludmilla aufrappelte.
»Was war denn das?«, stieß Ludmilla geschockt hervor.
Uri lachte müde. »Das sind magische Frösche, die lähmendes Gift in ihr Sumpfwasser versprühen. Normalerweise hättest du dich nicht bewegen können. Auch nicht mit deiner Macht.« Er sah sie prüfend an. »Was ist da passiert, Ludmilla?«
Sie zuckte unbekümmert mit den Schultern. »Ich habe keine Ahnung. Ich habe Panik bekommen und habe mich auf meine Macht konzentriert, und dann konnte ich mich plötzlich bewegen«, versuchte sie zu erklären.
»Das ist undenkbar!«, rief Uri aus. »Das Gift wirkt bei jedem Wesen von Eldrid und auch bei Menschen. Egal ob mit Mächten oder ohne. Die Mächte werden genauso gelähmt wie der Rest des Körpers. Wie kam es, dass du dich so schnell wieder bewegen konntest?«
»Das sagte ich doch bereits«, entgegnete Ludmilla gereizt. »Ich habe mich auf meine neue Fähigkeit konzentriert, und plötzlich war ich nicht mehr gelähmt.«
Uri hob die Augenbrauen, als wäre ihm diese Erklärung nicht genug.
»Was wäre denn am Ende passiert? Hätten sie mich ertränkt und dann gefressen?«, fragte Ludmilla trocken.
Uri schüttelte den Kopf. »Das ist eine Art von Fröschen. Sie fressen keine Wesen oder Menschen. Sie wollen nur verhindern, dass jemand durch ihre Behausungen trampelt. Deshalb gibt es diese Sümpfe. Das Gift wirkt nicht lang, und der Sumpf ist nicht tief. Du wärst nicht ertrunken. Irgendwann wärst du auf den Grund gekommen, das Gift hätte aufgehört zu wirken, und dann hättest du dich ganz langsam selbst befreien können. Aber das dauert normalerweise Stunden.«
Uri seufzte ungläubig. Schließlich hob er nur resignierend die Schultern. »Wenigstens haben wir Zeit gespart. Aber eigenartig ist das schon, dass das Gift bei dir nur so kurz gewirkt hat.«