Achtundzwanzigstes Kapitel
Der Rat
Der Wald verschluckte schon die letzten Sonnenstrahlen, als Ludmilla und Uri endlich an seiner Höhle ankamen. Trotz des Getöses des Wasserfalls konnten sie schon vor der Höhle laute Stimmen vernehmen, die aufgeregt durcheinanderredeten. In Uris Höhle hatten sich viele verschiedene Wesen versammelt. Feen brummten durch die Luft, zwei Riesen standen in gebückter Haltung in der Mitte, die Gaukler und Feuerspucker, die Ludmilla bereits in Fluar gesehen hatte, waren ebenfalls zugegen. Eine Gruppe Elfen, vermutete Ludmilla, stand am Rand der Höhle. Sie hatten große spitze Ohren und waren in grüne Gewänder gehüllt. Ihre Haut schimmerte in verschiedenen Grüntönen, und als Ludmilla zufällig einen Blick erhaschen konnte, stellte sie fest, dass auch ihre Augen so grün wie Moos waren.
Vorsichtig bahnte sie sich einen Weg durch die Menge. Sie schob sich an Arden und Kelby vorbei, die ihr ein gequältes Lächeln zuwarfen. Suchend sah sie sich um, ob sie Bodan entdecken konnte. Aber stattdessen entdeckte sie eine Frau, die ihrer Großmutter sehr ähnlich sah. Ludmilla erstarrte. War das vielleicht Minas Schwester? Mina hatte gesagt, dass sie nie zurückgekehrt war. Also musste sie hier in Eldrid sein. Aber war sie es wirklich?
Ada drehte sich Ludmilla zu und lächelte herzlich. Sie ging auf Ludmilla zu und breitete ihre Arme aus. »Ich kann es kaum glauben!«, rief sie voller Freude. »Die Enkeltochter meiner Schwester!«
Ludmilla lächelte unsicher. Die sonst so Selbstbewusste wusste nicht, wie sie sich verhalten sollte. Sie wusste, dass Mina ihre Schwester ihr Leben lang schmerzlich vermisst hatte. Und nun stand sie vor ihr. Ada. Sollte sie sich freuen? Wieso war Ada nicht in ihrer Welt geblieben? Warum hatte sie das ihrer Schwester angetan, die ihren Schatten verloren hatte? Eine gewisse Mitschuld hatte Ada daran sicherlich auch.
Ludmillas Augen verengten sich, als ihr diese Gedanken durch den Kopf schossen. Aber Ada ignorierte Ludmillas Gesichtsausdruck und schloss sie herzlich in die Arme.
Sekunden später ließ sie sie auch schon wieder los. »Entschuldige bitte! Ich weiß gar nicht, ob ich das darf. Darf ich dich umarmen?«
»Na ja, jetzt hast du es ja schon getan«, murmelte Ludmilla nur.
Ada lächelte breit. »Ich bin Ada. Die Schwester deiner Großmutter. Und du bist Ludmilla. Die großartige Ludmilla!«
Ludmilla runzelte die Stirn. Großartig? Aber Ada ließ sich nicht beirren. Sie zog sie ans Feuer und schubste sie auf einen der Strohballen zu, so dass sich Ludmilla widerwillig darauffallen ließ.
»Wie geht es dir? Du musst mir alles erzählen. Was hast du erlebt? Wie gefällt dir diese prächtige Welt?«, sprudelte es aus Ada heraus.
Ludmilla zuckte mit den Schultern. »Willst du nicht wissen, wie es deiner Schwester geht?«, fragte sie trocken.
Ada schlug sich die Hand auf den Mund. »Oh, ja, natürlich. Du hast recht. Ich möchte alles über Mina erfahren. Wie es ihr die letzten fünfzig Jahre ergangen ist. Aber jetzt beginnt gleich die Ratssitzung, und alles dreht sich um deine Aufgabe, Zamir und Godal und um die Berggeister. Aber sag schnell, hast du dich entschieden? Wirst du uns helfen?« Sie redete schneller als ein Wasserfall, und Ludmilla sah sie mit leicht geöffnetem Mund an. Sie zögerte.
»Ich habe es Uri noch nicht gesagt«, erwiderte sie langsam.
Ada nickte wissbegierig und sah sie erwartungsvoll an.
»Also gut. Er wird es ja auch bald erfahren. Durch diese Macht, die er mir verliehen hat, fühle ich mich so stark« sagte Ludmilla leise und hielt kurz inne. Als sie Ada anblickte, zuckte sie zusammen.
Ada funkelte sie fassungslos an. Jede Herzlichkeit wich blankem Entsetzen. »Was heißt, du hast eine Macht?«, zischte sie.
Ludmilla hob unschuldig die Schultern. »Ich kann jetzt ganz schnell laufen. Das war auch notwendig im Schneegebirge, sonst hätten die Schneegeister uns gefangen genommen.«
»Die Schneegeister?«, rief Ada und schlug sich die Hand vor den Mund. Sie atmete schnell, und ihre Augen funkelten wie die eines Teenagers. »Ihr seid Schneegeistern begegnet? Konnte Uri sie nicht überzeugen, dass dies eine Ausnahmesituation war?«, flüsterte sie aufgeregt.
Ludmilla legte den Kopf schräg und presste die Lippen aufeinander. Ada kam ihr vor, als ob sie nie erwachsen geworden wäre.
In diesem Moment bemerkte sie, dass es in der Höhle still geworden war. Alle Augen richteten sich auf Ada und Ludmilla. Wie schon auf dem Marktplatz von Fluar zogen die Wesen einen Kreis um sie und stierten sie an.
Ludmilla richtete sich auf und blickte sich suchend um. »Uri?«, fragte sie leise. Als sie Uri nicht sofort entdecken konnte, sprang sie auf und rief, so laut sie konnte: »Uri!« Sie konnte nicht verhindern, dass sich ihre Stimme überschlug.
Da teilte sich die Masse, und Uri kam auf sie zu. Er machte eine beschwichtigende Geste. »Es ist alles in Ordnung«, flüsterte er ihr zu.
Aber noch bevor sie reagieren konnte, brach ein regelrechter Tumult aus. Ludmilla schien es, als redeten alle Wesen auf einmal durcheinander. Uri wurde von allen Seiten bedrängt, Hände griffen nach ihm, Wesen schrien ihn an. »Was hast du getan?«, rief es von mehreren Seiten. »Wie konntest du das tun?«, schlossen sich andere Stimmen an. »Warum?«, raunte es von überall. Die Fragen füllten die Höhle bis unter die Decke und schwollen zu einer unerträglichen Lautstärke an .
Uri und Ludmilla standen mit Ada eingezwängt in der Mitte eines immer enger werdenden Kreises. Ludmilla wusste nicht, wo sie hinschauen sollte. Sie hatte Beklemmungen, so eng war es, und das Herz schlug ihr bis zum Hals. Sie bekam Panik.
Uri hob die Hände in die Luft. Goldene Funken sprangen in alle Richtungen, und die Wesen wichen zurück. Ludmilla keuchte und zuckte zusammen, als Uri »Ruhe!« donnerte. Dieser Befehl hallte von den Höhlenwänden wider wie ein Bumerang, und es wurde schlagartig still in der Höhle.
»Ich hatte keine Wahl. Sie wäre von den Schneegeistern gefangen genommen worden. Wir kamen aus dem Schneegebirge nicht raus. Sie hatten uns auf ihre Weise eingesperrt. Nur mit dieser Macht konnten wir überhaupt fliehen. Hätte ich zulassen sollen, dass sie sie gefangen nehmen?«, dröhnte Uri und blickte herausfordernd in die Runde.
Ludmilla hielt die Luft an. Woher wussten die Wesen, dass sie eine Macht hatte? Hatten alle Ada gehört? Sie sah Ada fragend an, die offenbar ihren Blick richtig deutete und schweigend mit dem Zeigefinger auf Ludmillas Schatten zeigte, der neben ihr im Schein des Feuers auf dem Boden lag. Ludmilla drehte sich verständnislos um und starrte ihn an. Die glühend roten Augen ihres Schattens fixierten sie und schienen sie durchbohren zu wollen. Sie zuckte zurück, und ihr entfuhr ein stummer Schrei, da Ada ihr die Hand auf den Mund gedrückt hatte. Ludmilla sah sie ungläubig an, und Ada nickte langsam.
»Darauf achten die Wesen bei einem Menschen immer als Erstes. Daran können sie sehen, ob der Mensch eine Macht hat oder nicht«, flüsterte sie hinter vorgehaltener Hand.
»Es musste sein! Wenn wir unseren Plan durchführen wollen, brauchen wir Ludmilla. Ich konnte nicht zulassen, dass sie von den Schneegeistern gefangen genommen wird.« Uri machte eine eindrucksvolle Pause. »Und hat sich denn auch schon herumgesprochen, warum wir überhaupt das Schneegebirge durchqueren mussten?«, dröhnte er herausfordernd .
Einige Wesen murrten leise, aber keines wagte, das Wort direkt an Uri zu richten. Selbst Kelby und Arden hielten sich zurück.
»Es ist derselbe Grund, warum wir eine Ratsversammlung abhalten müssen«, donnerte er weiter. In der Höhle war es inzwischen still geworden.
»Zamir hat die Berggeister geweckt!«, flüsterte er eindrucksvoll. Seine Worte hallten in der Höhle wider, so dass sie sich tausendfach wiederholten.
»Zamir, Zamir, Zamir, die Berggeister, die Berggeister, die Berggeister, geweckt, geweckt, geweckt.«
Ein Raunen erhob sich in der Höhle. Uri übertönte es: »Wer außer Zamir sollte es wagen und wäre dumm genug, die Berggeister zu wecken? Wir müssen beraten, wie wir weiter vorgehen. Eine Delegation von Ratsmitgliedern muss versuchen, ein Abkommen mit den Berggeistern auszuhandeln. Wir müssen schnell handeln und noch schneller entscheiden. Können wir deshalb jetzt bitte mit der Versammlung beginnen?«
Wieder war es still geworden. Stumm starrten die Wesen ihn an.
»Ohne die Abgesandten aus Fluar?«, brummte eine tiefe Stimme aus der Menge.
»Es sind noch keine Ratsmitglieder aus Fluar eingetroffen?«, fragte Uri ungeduldig. Eine angespannte Stille bereitete sich aus.
»Und wo ist Pixi?«, fragte eine weibliche Stimme, die sich für Ludmilla wie die von Amira anhörte.
Suchend sah sich Ludmilla um. Die Höhle war so vollgestopft mit Wesen, dass sie weder Amira noch Pixi entdecken konnte.
Uri schüttelte nur leicht den Kopf. »Ich weiß es nicht.« Besorgnis schwang in seiner Stimme mit. »Sie ist plötzlich verschwunden. Sie war damit nicht einverstanden, dass ich Ludmilla eine Macht verliehen habe, und wir haben uns deshalb gestritten. Ich dachte, sie sei hier.«
Ein Raunen erhob sich in der Höhle.
»Sie taucht schon wieder auf. Feen können manchmal etwas störrisch sein«, versuchte er zu scherzen. »Sie kann gut auf sich aufpassen. Der Rat sollte nun tagen. Aus Ilios brauchen wir niemanden zu erwarten. Der Weg durch das Gebirge Odil ist durch die Berggeister abgeschnitten.«
Das Gebrumme und Gemurmel der Wesen wurde immer lauter. Uri aber wurde ungeduldig. »Ruhe!«, donnerte er erneut.
Einige Wesen zuckten regelrecht zusammen und starrten Uri an.
Seine Stimme dröhnte durch die gesamte Höhle: »So kommen wir nicht weiter!« Er blickte sich suchend um. »Bodan, dein Bericht bitte!«, rief er in die Menge.
Keiner rührte sich. Nur Ada rutschte unruhig auf ihrem Strohballen hin und her.
»Bodan!«, forderte Uri erneut, bevor sich Ada ruckartig erhob. Alle Augen waren auf sie gerichtet, während sie Uri ein unsicheres Lächeln zuwarf.
»Bodan ist nicht hier, Uri.« Bevor Uri etwas erwidern konnte, fuhr sie fort: »Er ist in Fluar geblieben, um nach den Bewohnern zu suchen.«
Ein Raunen erhob sich unter den Wesen, aber Uri brummte nur kurz, und es wurde wieder still.
»Was soll das heißen? Berichte bitte, Ada!«, forderte er sie befehlend auf.
Ada nickte unterwürfig. »Ich habe Bodan nach Fluar begleitet, und dort haben wir festgestellt, dass die Bewohner von Fluar verschwunden sind«, erklärte Ada sachlich. »Über der Stadt hängen Schnee- und Nebelwolken, und die Berggeister haben ihr Gebirge verlassen. Bodan und ich haben die ganze Stadt durchkämmt und keinen einzigen Bewohner angetroffen, noch nicht einmal eine Maus oder einen Vogel. Die Stadt ist wie leergefegt. Und beinahe hätte ein Berggeist uns entdeckt.«
»Du hast einen Berggeist gesehen?«, rief ein Wesen entsetzt aus.
»Nur einen Teil von ihm. Aber es war definitiv kein Schneegeist. Und auch sonst kein Wesen, das ich kenne. Es war größtenteils aus Stein oder Gebirgsmasse und riesengroß. Und wenn ich sage riesengroß, dann meine ich größer als jeder Riese, den ich je gesehen habe. Und dieses Exemplar war dazu noch sehr verärgert.« Ada hielt kurz inne. »Ganz sicher, dass es ein Berggeist war«, flüsterte sie. »Und es kommt noch schlimmer«, fuhr sie fort. »An den Füßen des Berggeistes klebte Schnee. Erst dachten wir, es sei ein Schneegeist, aber dann haben wir sein Auge und einen Teil seiner Hand gesehen.«
Wieder ging ungläubiges Raunen durch die Höhle. Aber Ada fuhr unbeirrt fort: »Bodan hat einen Unsichtbarkeitszauber ausgesprochen, deshalb konnte der Berggeist uns nicht sehen, aber er konnte uns anscheinend wittern.«
»Wittern?«, brach es aus Arden heraus.
»Ja. Er hat immer so geschnüffelt, und dann hat er angefangen, das Haus zu zerstören, in dessen Eingang wir uns versteckt hatten. Es war unsere Rettung, dass er anscheinend abberufen wurde, denn er ließ plötzlich von uns ab, und wir konnten fliehen. Bodan bestand darauf, in der Stadt zu bleiben. Er versucht herauszufinden, was mit den Bewohnern passiert ist. Er versprach mir nachzukommen, sobald er mehr in Erfahrung gebracht hat.«
Uri ergriff wieder das Wort. »Wir sollten die Sitzung nun beginnen. Ada, vielen Dank für deinen Bericht. Das ist«, er rang kurz mit der Fassung, »sehr aufschlussreich.«
Er setzte sich auf einen Strohballen ans Feuer und machte eine herrische Bewegung, wobei sich ein goldener Sprühregen auf dem Höhlenboden ergoss. »Hinsetzen! Wir fangen an!«
Etwas unwillig setzte sich ein Wesen nach dem anderen dazu. Ludmilla beobachtete sie bewundernd. Es waren so viele verschiedene Arten. Nicht nur Riesen, Elfen, Zwerge und Hexen. Wesen, von denen Ludmilla annahm, dass es Kobolde waren, da sie zwar fast so wie Zwerge aussahen, aber kein Werkzeug bei sich trugen. Sie meinte eine Gruppe von Formwandlern zu erkennen, denn sie sahen Lando mit ihren hochgewachsenen Körpern und der blaulila schimmernden, fast durchsichtigen Haut sehr ähnlich.
Noch während sich die Wesen beruhigten und um das Feuer sammelten, drangen Stimmen aus dem hinteren Teil der Höhle zu ihnen. Uri fuhr ärgerlich herum. »Eneas! Dein Gefolge und du, ihr müsst euch sichtbar machen, so können wir nicht mit euch diskutieren.«
Sofort erschienen drei fast durchsichtige Wesen. Sie waren etwa so groß wie Riesen, hatten aber sehr schmale und in die Länge gezogene Körper. Fast so schmal wie ein Surfbrett.
Bei ihrem Anblick musste Ludmilla kichern. Uris ermahnender Blick ließ sie verstummen.
»Die Unsichtbaren sind sehr empfindlich. Reiß dich bitte zusammen, Ludmilla!«, raunte ihr Ada zu.
Die Wesen hatten eine menschliche Statur, und dennoch konnte Ludmilla fast hindurchsehen. So als wären sie nicht wirklich da. Eneas und die anderen beiden Unsichtbaren setzten sich neben die Riesen und murrten leise.
Der Rat begann zu tagen. Die Angst vor Zamir war deutlich zu spüren. Die Wesen konnten sich nicht erklären, wie Zamir so mächtig hatte werden können, dass er die Berggeister zu wecken vermochte – noch dazu von dem Ort seiner Verbannung heraus. Zamir hatte das Unmögliche geschafft. Etwas, wozu niemand sonst fähig war. Aber noch etwas beunruhigte die Ratsmitglieder zutiefst: Zamir hatte gegen das jahrhundertealte Abkommen verstoßen, das der Rat mit den Berggeistern geschlossen hatte, die Berggeister ruhen zu lassen. Die Konsequenzen dieses Verstoßes waren niemandem bekannt. Auch vermochte keiner eine Vermutung auszusprechen, was mit den Bewohnern von Fluar passiert war. Und schließlich war da noch der abgeschnittene Weg in den geliebten Teil von Eldrid: Ilios. Keines der Ratsmitglieder konnte sich vorstellen, nicht mehr in den sphärischen Teil von Eldrid zu reisen.
Innerhalb kürzester Zeit herrschte wieder ein heilloses Durcheinander. Eneas war aufgestanden und diskutierte lauthals mit einem Formwandler, indem er sich weit über ihn beugte. Dieser nahm die Gestalt eines Riesen an, um mit Eneas auf Augenhöhe zu sein .
Uri hatte alle Mühe, die Wesen zur Vernunft zu bringen. »So kommen wir nicht weiter!«, dröhnte er immer wieder. Er atmete schwer auf. »Was ist mit Zamir? Wir müssen uns über ihn Gedanken machen. Seine Verbannung hat ihn nicht genug geschwächt. Es bleibt abzuwarten, was passiert, wenn er Godal nicht mehr an seiner Seite hat.«
Bei dem Namen des mächtigen Schattens zuckten fast alle zusammen.
»Ihr fürchtet euch vor Godal!«, rief Uri aus. »Das macht ihn nur noch stärker. Er kann eure Angst spüren. Er wird sie für sich verwenden! Oder er wird Zamir dazu bringen, sie für sich zu verwenden. Wir dürfen keine Angst vor ihm haben.« Er machte eine kurze Pause. »Weder vor Godal noch vor Zamir. Wir müssen Godal loswerden. Nur dann haben wir eine Chance, Zamirs Macht zu brechen.«
»Und wie willst du seine Macht brechen?«, fragte Amira leise.
Ludmilla blickte sie verwundert an. Sie hatte sie bisher nicht wahrgenommen, obwohl sie ihr direkt gegenüber am Feuer saß.
»Indem wir seine Verbannung verstärken«, erwiderte Uri bestimmt. »Wir hatten einen Plan. Lasst uns diesen Plan umsetzen.«
Uri sah auffordernd in die Runde. Die Ratsmitglieder starrten ihn an. »Wollen wir uns kampflos ergeben? Ist es das, was ihr wollt?« Ein Murren und Raunen erhob sich. »Dunkelheit über unserer Welt? Schatten, die alle Zamir gehorchen und unsere Welt verdunkeln? Schattenlose Wesen, die sich selbst in die Dunkelheit verbannen? Sieht so Eldrid aus? Wollen wir das zulassen?«
Uri lief aufgeregt im Kreis. Amira stand herausfordernd am Feuer und drehte sich ihm zu, wo immer er stehen blieb. »Wo bleibt euer Kampfgeist? Lasst uns den ursprünglichen Plan nun endlich umsetzen. Ludmilla ist hier.« Er deutete mit beiden ausgebreiteten Händen auf Ludmilla. Goldene Funken sprühten aus seinen Fingerspitzen. Alle Augen wandten sich ihr zu, als Uri fortfuhr: »Soll sie Godal ihrer Großmutter zurückbringen! Er wird sie für seine Herrin, und sie wird ihn zurückschicken.« Uri verstummte.
Amira wiegte den Kopf hin und her. »Bist du dir da sicher? Wird das wirklich funktionieren? Wenn wir Ludmilla in Godals Nähe bringen, bringen wir sie in Gefahr. Sie hat jetzt eine Macht und kann ihren Schatten verlieren. Du weißt selbst, wie mächtig menschliche Schatten sind. Wenn Godal Ludmilla ihren Schatten nimmt und ihn Zamir bringt, könnte das Zamir so stark machen, dass er deinen Zauber doch brechen könnte. Wer weiß? Vielleicht ist es das, was ihm noch fehlt?!« Amira sah Uri forschend an.
Uris Gesicht blieb undurchdringlich.
»Oder noch schlimmer«, fuhr Amira leise fort. »Zamir holt sich Ludmillas Schatten, bevor ihr überhaupt in Godals Nähe gekommen seid. Ludmillas Schatten wird Zamir stärken, das ist sicher. Er ist jetzt schon so mächtig, dass er die Berggeister wecken konnte. Wir wissen nicht, wozu er sonst noch fähig ist. Können wir es riskieren, dass er noch mehr an Macht gewinnt? Ich sage: Nein! Wir müssen Ludmilla zurück in ihre Welt schicken und uns einen anderen Weg ausdenken, wie wir Zamir schwächen und Godal außer Gefecht setzen können.«
Uri funkelte sie an. Das hatten Hexen in Eldrid so an sich. Sie waren unbequem, da sie sich nicht scheuten, ihre Meinung zu sagen. Und in Amiras Fall war es noch schlimmer: Sie hatte recht. Ludmilla und vor allem ihr Schatten stellten eine Gefahr für Eldrid da. Ihr Schatten und ihre Fähigkeiten waren besonders. Doch diese Kenntnis teilte er nicht mit dem Rat. Er musste sich selbst erst Klarheit darüber verschaffen, und den Rat wollte er nicht mehr als nötig beunruhigen.
»Ich bin nicht deiner Meinung, Amira«, konterte er mit viel Bedacht. »Wir haben mit Ludmilla eine Chance. Es ist eine einmalige Chance, denn schicken wir sie erst mal zurück in ihre Welt, können wir davon ausgehen, dass sie nicht wiederkommt. Mina wird es nicht erlauben. Wir sollten das Risiko auf uns nehmen. Mächtige Wesen werden Ludmilla bei ihrer Mission begleiten. Ein Magier wird dafür sorgen, dass sie ihren Schatten nicht verliert. Der Plan ist durchdacht, und er ist gut. Wir haben die Möglichkeit, uns Godals zu entledigen. Das Risiko sollten wir eingehen. Und wenn doch etwas schiefgeht, dann schicke ich Ludmilla zurück. Wir werden sie nicht gefährden und dafür sorgen, dass sie ihren Schatten nicht verliert.«
»Ist das die Lösung?«, schrie Eneas aufgebracht. »Wir gehen ein so hohes Risiko ein, und wenn es schiefgeht, schickst du Ludmilla zurück? Das wird dich so schwächen, dass Zamir deinen Verbannungszauber brechen kann!« Er schnaufte schwer, und glitzernde Funken sprühten von seinem Körper. »Schaut sie euch doch an. Sieht das denn keiner? Ludmillas Schatten ist mächtiger als andere menschliche Schatten. Wie er dasitzt. Wahrscheinlich trägt sie etwas in sich, das sie von ihrer Großmutter hat. Sie ist eine Scathan! Ein direkter Abkömmling der mächtigen Scathan-Schwester. Sie kann unser Gewinn, aber auch unser Untergang sein. Ist das die Lösung?«
»Beruhige dich, Eneas. Ich verstehe, was du sagen möchtest. Aber das wissen wir nicht.« Uri hob beschwichtigend die Hände.
Eneas Ausbrüche waren eindrucksvoll und verunsicherten die anderen Ratsmitglieder, die ohnehin schon zweifelten.
»Soll das heißen, dass wir sie lieber nach Hause schicken und es gar nicht erst versuchen?«, rief Uri erzürnt aus. »Ludmilla ist unsere einzige Chance, Godal aus dieser Welt zu schaffen und Zamir zu schwächen. Ohne Godal werden wir ihn«, Uri zögerte einen Augenblick, »vernichten können!«
Ruckartig drehte Amira den Kopf zu ihm. »Jetzt sprichst du schon von Vernichtung!«, rief sie erzürnt. »Das ist entgegen unserer Regeln. Kein Wesen wird vernichtet. Die höchste Bestrafung ist die Verbannung!«
»Und die hat bei Zamir nicht funktioniert«, unterbrach sie nun einer der Elfen. Er erhob seine Stimme nicht. Dennoch war sie deutlich hörbar. Er sprach sehr bedacht, und seine Worte hörten sich fast wie eine Melodie an. »Wir haben keine andere Wahl, Amira. «
Uri nickte zustimmend. »Wenn wir ihn entmachten und sterblich machen, dann ist das keine Vernichtung, weil wir ihn nicht töten.«
»Aber es ist eine Vernichtung seiner Art«, unterbrach ihn Amira erneut. »Ein Spiegelwächter ohne Macht, der sterblich ist, ist kein Spiegelwächter mehr. Das ist die Vernichtung eines Spiegelwächters. Und das ist es, was ihr beschließen wollt!«
»Hast du denn einen besseren Vorschlag?«, fragte der Elf, der sich durch nichts aus der Fassung bringen ließ. »Wir haben Zamir verbannt, und er ist mächtiger geworden. Er beherrscht den dunklen Teil unserer Welt, und das aus der Verbannung heraus. Der dunkle Teil hat sich schon erheblich ausgebreitet. Er bringt die Dunkelheit über unsere Welt, und er hat die Berggeister geweckt. Wer weiß, was er noch alles im Schilde führt. Er ist eine Bedrohung für uns alle. Das siehst du doch auch so, oder?«
Amira murmelte etwas Unverständliches vor sich hin. Noch nie seit dem Bestehen von Eldrid hatten sich die Ratsmitglieder mit einer solchen Bedrohung auseinandersetzen müssen. Zamirs Hass und Machtgier waren unerklärlich, da die Wesen von Eldrid solche Eigenschaften nicht in sich trugen. Sie waren friedfertig und respektierten einander, auch wenn sie sehr unterschiedlich waren. Sie kamen nicht auf die Idee, sich zu hassen oder gegenseitig zu vernichten.
Der Rat tagte die ganze Nacht. Die Wesen spalteten sich in zwei Lager. Die Elfen, Formwandler, Unsichtbaren und Riesen stimmten Uri zu. Die Hexen, Feen, Kobolde, Gaukler und Feuerspucker waren von Amiras Argumenten überzeugt. Jedoch fehlte ein Gegenvorschlag, Zamir unschädlich zu machen. Als sich die Nacht dem Ende zuneigte und die ersten Sonnenstrahlen den Tag ankündigten, drängte Uri auf eine Entscheidung und eine Abstimmung.
Zunächst wurde einstimmig beschlossen, dass eine Delegation von Ratsmitgliedern nach Fluar geschickt wurde, um mit den Berggeistern über ein Abkommen zu verhandeln. Eine weitere Delegation würde gesondert dazu die Schneegeister aufsuchen.
Dann stand Ludmillas Aufgabe zur Wahl. Das Ergebnis fiel knapp aus, aber die Mehrheit sprach sich dafür aus, sie ihr zu übertragen. Sie sollte versuchen, Godal mit in ihre Welt zu nehmen. Amira und die anderen Hexen hatten dagegen votiert. Nachdem die Entscheidung gefallen war, fügten sie sich der Mehrheit und versprachen, die Mission zu unterstützen. Amira versprach, Ludmilla bei ihrer Mission zu begleiten. Auch für diese Mission galt es eine Delegation von mächtigen Wesen zusammenzustellen. Eneas, der Unsichtbare, erklärte sich dazu bereit. Er schielte Ludmilla dabei neugierig von der Seite an. Ludmilla lächelte ihm etwas unsicher zu, aber da hatte er den Kopf schon wieder abgewandt.
Zum Schluss mussten sie über den heikelsten Punkt abstimmen: Sollte Zamir entmachtet werden oder nicht? Amira und die anderen Hexen weigerten sich, an der Abstimmung teilzunehmen. Sie verließen empört die Höhle. Die verbliebenen Wesen stimmten mehrheitlich für eine Entmachtung Zamirs.
Schließlich waren alle Punkte beschlossen, und Uri konnte erleichtert und sichtlich erschöpft die Ratssitzung schließen. Er kannte das Risiko dieser Beschlüsse. Aber Ludmilla trug etwas in sich, auch wenn sie es wahrscheinlich selbst nicht wusste. Sie war mächtig. Und er glaubte an sie.
Zufrieden lächelte er sie an. Ludmilla lächelte zurück, dann hob sie ihr Kinn: »Uri, du hast eines nicht bedacht«, sprach sie selbstbewusst, als die letzten Wesen die Höhle verlassen hatten.
Uri runzelte die Stirn. »Was habe ich nicht bedacht?«, fragte er kritisch.
»Ich habe meine Hilfe noch gar nicht zugesagt gehabt, als du sie zur Abstimmung gestellt hast«, stellte sie herausfordernd fest.
Uri grinste sie wie ein kleiner Schuljunge an. »Oh, Ludmilla«, seufzte er. »Dann hättest du dich schon geäußert, so gut kenne ich dich inzwischen.«
Er lachte matt, legte sich auf einen Strohballen und schloss die Augen.