Neunundzwanzigstes Kapitel
Pixi
Plötzlich fing der Spiegel an zu leuchten. Mina sprang auf und schaute voller Erwartung auf die Fläche. Das Spiegelbild schrie triumphierend auf und stierte gierig. Was geschah jetzt? Kam Ludmilla zurück?
Wie von einer Wurfschleuder geworfen katapultierte sich Pixi in das Zimmer. Sie fluchte über die missglückte Landung. Ludmillas Spiegelbild starrte sie begeistert an, während sie sich vom Boden aufrappelte und ihre zarten Flügel zurechtstrich.
Pixi warf dem Spiegelbild einen spöttischen Blick zu. »Und du machst uns also auch noch Schwierigkeiten?«, zischte sie es an, so dass dieses zusammenfuhr. »Weißt du eigentlich, was hier auf dem Spiel steht? Und du willst alles boykottieren? Da hast du dich aber geschnitten!«, dröhnte Pixi mit der tiefsten und lautesten Stimme, die sie hervorzubringen vermochte. »Ich werde dich bewachen und dafür sorgen, dass du es Mina nicht unnötig schwer machst, bis Ludmilla zurück ist. Hast du das verstanden?«
Ludmillas Spiegelbild nickte eingeschüchtert. So hatte es sich das nicht vorgestellt.
Mina aber lachte triumphierend auf und breitete die Arme aus, als wollte sie Pixi umarmen. »Pixi! Wie lange ist das her? Wie herrlich!«
Auch Pixi quietschte auf und flatterte aufgeregt vor Minas Gesicht auf und ab. »Ach, es ist so schön, dich zu sehen!«, erwiderte sie herzlich .
Das Spiegelbild stand wie angewurzelt in der Mitte des Raumes und wagte nicht, sich zu bewegen.
Pixi betrachtete Mina nachdenklich, während Mina sie mit ihrem Redeschwall erstickte: »Wie geht es Ludmilla? Geht es ihr gut? Wann kommt sie zurück? Warum hat Uri sie nicht sofort zurückgeschickt, als sie ihm sagte, dass sie meine Erlaubnis nicht hat? Oder hat sie euch etwa angelogen, was das betrifft? Wie weit seid ihr mit eurem Plan? Ihr könnt ihn doch sicherlich auch ohne Ludmilla durchführen. Ich hielt es von Anfang an für eine Schnapsidee, sie mit reinzuziehen.«
Als Mina kurz Atem holte, hob Pixi die Hände und sah ihr tief in die Augen. »Moment, Moment, Mina! Erst einmal möchte ich wissen, warum du mich gerufen hast. Du musst dich in einer ziemlich aussichtslosen Lage befinden, sonst hättest du das nicht getan. An Uri wolltest du dich offenbar nicht wenden?!«, stellte Pixi fest und blickte sie schief an.
Mina schüttelte den Kopf und lächelte. »Ich war mir zwar nicht sicher, ob der Ruf tatsächlich dich erreichen würde, aber dich wollte ich rufen und nicht Uri, das ist richtig.« Sie wiegte ihren Kopf traurig hin und her. »Was soll ich auch mit Uri reden? Er hat meine Entscheidung nicht respektiert. Gegen meinen ausdrücklichen Wunsch ist Ludmilla nun in Eldrid und soll irgendeine Aufgabe erfüllen«, fing sie wieder an zu zetern. Dann hob sie die Hand. »Also gut, ich vergesse das für einen Moment. Auch wenn mir das sehr schwerfällt«, sagte sie. Sie atmete tief durch. »Ich brauche hier dringend Hilfe und wusste einfach keinen Ausweg.« Sie sah Pixi verzweifelt an. »Ludmillas Eltern kommen in zwei Stunden zu Besuch und wollen sie sehen. Und dieses Biest«, sie zeigte mit dem ausgestreckten knochigen Zeigefinger auf Ludmillas Spiegelbild, »ist ein besonders garstiges Exemplar. Es will eine Gegenleistung, wenn es bei dem Theater für die Eltern mitspielt.«
Pixi entfuhr ein empörter Aufschrei. »Das ist ja wohl eine Unverschämtheit! Und was hat sich dieses Ding vorgestellt?«
Ludmillas Spiegelbild fand seine Sprache wieder und trat auf Pixi zu. »Ich will auch durch diesen Spiegel reisen«, forderte es forsch.
Pixi lachte laut und höhnisch auf. »Ach wirklich, möchtest du das?« Sie fixierte das Spiegelbild und schüttelte missbilligend den Kopf. Sie flog ihm vors Gesicht, stemmte ihre Hände in die Hüften und polterte los: »Was denkst du dir eigentlich? Eldrid ist dabei, von der Dunkelheit aufgefressen zu werden. Und Ludmilla versucht, dies zu verhindern. Und du hast nichts Besseres zu tun, als dich auch noch querzustellen?«
Dann wandte sie sich ab und flog wieder zu Mina. »Aber was soll man auch von Spiegelbildern erwarten? Sie sind der temporäre Ersatz für die Menschen, die nach Eldrid reisen. Vernunft und Kooperation sind euch vollkommen fremd!«, schimpfte sie weiter.
Das Spiegelbild sah Pixi verdutzt an. Es hob an, sich zu rechtfertigen, aber Pixi machte eine Handbewegung, die es verstummen ließ.
»Wie ist der Plan?«, fragte sie Mina stattdessen.
Nun war es Mina, die innehielt und Pixi mit ihren lebhaften grauen Augen fixierte. »Darf ich zunächst einmal kurz erfahren, wie es meiner Enkeltochter geht?«, fragte sie streng.
Pixis Gesicht erhellte sich sofort, und sie fing an zu kichern. »Oh, sie ist so schön und so frech. Und sie ist mutig und stark. Du kannst sehr stolz auf sie sein.«
Pixi kicherte noch einen Augenblick weiter, bis das Lachen ihr fast im Hals stecken blieb. Ihr Gesicht verdunkelte sich schlagartig. Sie flog ganz nah an Minas Ohr heran.
»Es geht ihr gut, aber wir haben große Probleme. Es ist alles viel ernster, als wir gedacht haben. Zamir ist so mächtig geworden. Er hat die Berggeister geweckt«, flüsterte Pixi aufgeregt.
Mina starrte sie entsetzt an. »Die Berggeister?«, stammelte sie.
Pixi nickte heftig. »Wir müssen viel mehr bedenken, als wir dachten. Der Rat tagt gerade, und deshalb müssen wir uns hier beeilen, weil ich eigentlich gar keine Zeit habe, und Uri weiß auch nicht, dass ich hier bin. «
»Du bist einfach verschwunden?«, unterbrach sie Mina.
Pixi blickte Mina mit ihren großen grünen Augen traurig an.
»Warum hast du nicht Bescheid gegeben? Sie werden sich Sorgen machen und nach dir suchen«, meinte Mina bestimmt.
Pixi hob hilflos die Schultern. »Ich habe mich mit Uri gestritten, weil er Ludmilla eine Macht verliehen hat, und ich war so wütend auf ihn, dass mir dein Ruf gerade recht kam. Er kommt ohne mich offenbar auch wunderbar zurecht und schätzt meine Meinung nicht mehr so, wie er es früher getan hat«, stellte sie trotzig fest.
Aus Minas Gesicht war schlagartig jegliche Farbe gewichen. »Er hat was ?«, flüsterte sie mit belegter Stimme.
»Ganz genau, er hat ihr eine Macht verliehen. Das ist Wahnsinn!«, meckerte Pixi los.
Aber Mina hob die Hand, und Pixi verstummte. »Wieso hat er das getan?«, presste sie schwer atmend hervor.
Pixi sah sie mit traurigen Augen an. »Erst waren wir im Gebirge, um uns vor Zamirs Spähern zu verstecken. Unglücklicherweise sind die Berggeister genau zu diesem Zeitpunkt erwacht und haben uns verfolgt, so dass wir den Ausgang zum Schneegebirge nehmen mussten. Im Schneegebirge wollte ein Schneegeist Ludmilla festsetzen, da sie ein Eindringling war und gegen das Abkommen verstoßen hatte. Uri konnte den Schneegeist überreden, uns passieren zu lassen, bis die Schneegeister eine Entscheidung getroffen hätten. Aber wir kamen sehr langsam voran, Ludmilla war unter dem Einfluss der Schneegeister sehr geschwächt, und Uri hatte Angst, dass die Schneegeister sie gefangen nehmen würden. Also hat Uri ihr eine Macht verliehen, die Macht der schnellen Bewegung«, flüsterte sie Mina ins Ohr.
Mina zuckte zurück und sah Pixi entsetzt an. »Wie konnte er das tun?«, murmelte sie heiser, als hätte sie den Rest der Geschichte nicht gehört.
»Ich war dagegen. Strikt dagegen«, ereiferte sich Pixi. »Aber er wollte nicht auf mich hören!«
Für einen Moment schwiegen sie sich an. Mina zitterte, und jegliche Farbe war aus ihrem Gesicht gewichen. »Das ist viel zu gefährlich. Ludmilla hat jetzt eine Macht. Ihr Schatten ist nun erwacht und wird für Zamir interessant.« Sie ballte ihre Hände zu Fäusten und funkelte Pixi an. »Hat er das nicht bedacht?«
Pixi sah sie nur mit großen hilflosen Augen an und hob die Schultern. Ihre Loyalität zu Uri ließ sie schweigen.
Mina durchbohrte Pixi mit ihrem Blick. Doch dann besann sie sich. Ihr Körper straffte sich. »Nun, unabhängig von den Vorkommnissen in Eldrid haben wir auch hier ein Problem, und ich benötige Hilfe. Ludmillas Spiegelbild muss in Schach gehalten werden und muss Ludmillas Eltern die Tochter vorspielen. Kannst du mir dabei helfen, es dazu zu bringen?«
Pixi war erleichtert darüber, dass sie das Thema gewechselt hatten. »Deshalb bin ich hier. Um dir zu helfen«, erwiderte sie bestimmt. »Es ist genauso wichtig, dass hier die Lage unter Kontrolle bleibt. Einer muss den Spiegel bewachen. Auch von dieser Seite. Und dieses Spiegelbild da«, Pixi machte eine abfällige Kopfbewegung, »darf uns nicht in die Quere kommen. Wir können uns nicht noch mehr Probleme leisten. Wir müssen deinen Plan besprechen. Aber dafür brauchen wir keine zusätzlichen Zuhörer. Lass uns rausgehen!«, beschloss sie.
Das Spiegelbild schoss an Pixi und Mina vorbei und stellte sich vor die Tür. »Ihr geht nirgendwohin!«, schrie es voller Wut.
Pixi lachte belustigt. »Aber natürlich gehen wir!«, dröhnte sie los, so dass sich Mina und das Spiegelbild die Ohren zuhielten. »Und du bleibst hier und wartest brav, bis wir zurück sind. Sonst wirst du mich kennen lernen!«
Das Spiegelbild trat eingeschüchtert von der Tür weg und kauerte sich neben dem Spiegel auf den Boden.
Mina öffnete vorsichtig die Tür, ließ erst Pixi hinausfliegen und schlüpfte dann selbst auf den Flur hinaus. Sofort schloss sie die Tür wieder ab und horchte. Das Spiegelbild gab keinen Laut von sich.
Als Mina den Gang hinuntergehen wollte, hielt Pixi sie am Ärmel fest. »Dafür ist keine Zeit. Wir müssen das jetzt sofort und hier besprechen. Wie sieht dein Plan aus?«
»Ich habe keinen«, erwiderte Mina. »In meiner Verzweiflung habe ich dem Spiegelbild versprochen, dass ich jemanden aus dem Spiegel rufen werde, der es in die Welt hinter dem Spiegel bringen wird, wenn es bei dem Theater für die Eltern mitspielt. Aber wir wissen beide, dass das nicht geht.«
Pixi schüttelte missbilligend den Kopf. »Selbstverständlich geht das nicht. Kein Spiegelbild darf einen Fuß nach Eldrid setzen. Es würde das Gleichgewicht in Eldrid gefährden. In Eldrid gibt es keine Spiegelbilder. Das ist gefährlich für unsere Welt. Und für Ludmilla wäre es ebenfalls eine unberechenbare Gefahr. Da es bisher nie jemand gewagt hat, ein Spiegelbild durch den Spiegel zu schicken, wissen wir nicht genau, was passieren würde. Vielleicht würde der Spiegel dauerhaft beschädigt werden. Vielleicht würde Ludmilla auf ewig in Eldrid bleiben müssen, da in ihrer Welt kein Spiegelbild auf sie wartet, mit dem sie verschmelzen kann.« Pixi redete schnell und hitzig. »Wir können das auf keinen Fall riskieren. Wir werden dem Spiegelbild nicht geben, was es verlangt!«
»Dann sag du mir, was ich tun soll. Ich muss dieses Monster irgendwie in Schach halten, und vergiss die Eltern nicht. Denen müssen wir ein kleines Theater vorspielen«, flehte Mina sie an.
Pixi flog ganz nah an ihr Ohr heran und flüsterte: »Wir müssen uns etwas ausdenken.«
Sie schwirrte eine Weile um Mina herum und schlug so schnell mit den Flügeln, dass sie leise brummten. Mina wartete geduldig.
»Mir fällt schon was ein«, flötete Pixi immer wieder.
»Ich habe keine Ruhe zum Nachdenken«, beschloss sie endlich. »Erst einmal bringen wir das Schauspiel für die Eltern hinter uns, und währenddessen fällt mir schon was ein.«
Mina senkte ergeben den Kopf. Sie hatte keine Wahl. Sie hatte Pixi gerufen. Nun musste sie ihr vertrauen und darauf hoffen, dass ihr etwas einfiel.
Mina und Pixi betraten gemeinsam das Spiegelzimmer. Das Spiegelbild erhob sich unsicher vom Boden und sah die beiden erwartungsvoll an. Eine Spur von Angst lag in seinem Gesichtsausdruck. Pixi flog zu ihm und flatterte vor seinem Gesicht herum.
»Also gut, du wirst ein wenig Theater spielen und dabei ganz brav sein. Ich werde euch begleiten und mich im Hintergrund halten. Die Eltern brauchen mich nicht zu sehen. Solltest du nicht artig mitspielen, dann verwandle ich dich auf der Stelle in eine Kröte. Also wage es nicht!«, drohte sie ihm.
Ludmillas Spiegelbild erstarrte. »In eine Kröte?«, stammelte es.
Pixi fixierte es mit ihren riesigen grünen Augen und setzte einen grimmigen Gesichtsausdruck auf.