Dreissigstes Kapitel
Bodan im Gebirge
Bodan legte sich an den Rand des Kraters und schob sich vorsichtig nach vorn, so dass er auf die spiralförmigen Ebenen hinunterschauen konnte. Es waren unzählig viele Ebenen, die bis zum Fuß des Kraters reichten. In der Nähe des Bodens erkannte Bodan eine Handvoll Berggeister, die selbst am Gebirge arbeiteten. Bei ihrem Anblick erinnerte er sich an eine alte Überlieferung, die besagte, dass es im Inneren des Gebirges, tief unten, einen unterirdischen Fluss gebe, der durch das Gebirge fließe. Er sei, so hieß es, eine Verbindung zwischen dem Tal unterhalb von Fluar und der sphärischen Welt. Da dies das Territorium der Berggeister war, hatte bisher kein Wesen von Eldrid gewagt, nach diesem Fluss zu suchen.
Bodan suchte die verschiedenen Arbeitergruppen ab. Irgendwie musste er doch eine Fee erreichen können. Aber die Feen flogen emsig den Krater hoch und runter und waren viel zu sehr damit beschäftigt, den Arbeitern ihr Licht zu spenden, als dass sie sein Rufen wahrgenommen hätten. Bodan hatte gehofft, dass vielleicht die eine oder andere Fee irgendwann erschöpft sein würde und dann seinen Ruf hören würde oder hören wollte. Doch das geschah nicht, sosehr er rief. Er wartete lange, bis er schließlich den Plan aufgab, eine Fee zu einem Befreiungsflug zu überreden.
Er sah sich weiter suchend um. Wo waren die ganzen Tiere? Er schob sich noch ein wenig weiter an den Rand der Schlucht und konnte auf einer sehr tiefen Ebene viele Tiere erkennen. Vögel und
alles, was fliegen konnte, transportierten kleine Steine, während alle Vierbeiner Löcher in die Felsen scharrten. Daneben stand eine Hexe, die die Tiere dazu zwang, indem sie sie mit einem Zauber belegte.
Bodan durchschauderte es. Aber das war seine Chance. Er versuchte, in die Gedanken der Hexe einzudringen, um sie zu erreichen. Es war eine alte Hexe, und sie war sehr stark. Fast so stark wie Amira. Bodan war erstaunt. Dennoch gelang es ihm, ihr eine Botschaft zu übermitteln. Er bat sie um einen Vogel. Einen kleinen schnellen Vogel, der seine Nachricht Uri überbringen konnte. Die Hexe zuckte zusammen, als sie die Nachricht hörte. Sie blickte zu Bodan hinauf, und Bodan nickte ihr kurz zu, bevor er sich in den schützenden Schatten des Gangs zurückzog.
Es dauerte eine Weile, aber die Hexe schaffte es tatsächlich, einen der Vögel zu lösen und zu Bodan zu schicken, ohne dass es einer der Berggeister bemerkte.
Bodan lief mit dem Vogel in den dunklen Gang hinein. Der Vogel nahm Bodans Nachricht auf und flatterte davon. Als das Geräusch des Flügelschlags verklungen war, wandte sich Bodan wieder dem Krater zu. Jetzt ging es darum, so schnell wie möglich das Schneegebirge zu erreichen. Es gab nur einen direkten Weg, und der führte direkt um den Krater herum, den die Berggeister geschaffen hatten. Der spiralförmige Krater hatte viele Wege durch das Gebirge weggesprengt und dadurch viele Gänge unerreichbar gemacht. Bodan konnte von seinem Standort aus nicht erkennen, ob er den Krater komplett umwandern konnte. Dennoch hoffte er, dass der Weg in das Schneegebirge nicht abgeschnitten war.
Ganz vorsichtig löste er sich aus dem Schatten des Gangs und begann ebenso vorsichtig seinen Marsch auf dem Grat des Kraters. Er konnte immer nur einen Fuß vor den anderen setzen, wie auf einem Drahtseil, da der Grat so schmal war. Er wusste, dass diese Fortbewegungsart viel Zeit kosten würde, aber die Wahl eines anderen Weges würde einen Umweg von mehreren
Tagesmärschen bedeuten. Das Licht der Feen wurde überwiegend in den Krater hineingesogen, so dass der Rand des Kraters fast vollständig im Dunkeln lag. Der Weg war beschwerlich und sehr gefährlich. Bodan besaß nicht die Fähigkeit zu fliegen, das hätte vieles vereinfacht. Immer öfter musste er sich an die Felswand pressen und hatte nur wenige Zentimeter Platz, um am Rand des Kraters entlangzutrippeln.
Nach vielen Stunden dieser mühsamen Fortbewegung erkannte es Bodan schon von weitem. Der Grat endete. Da war nichts mehr als der glatt abfallende Krater und die Gebirgswand. Bis zu der Mündung des Ganges, den Bodan ansteuerte, waren es noch etliche, unüberwindbare Meter. Sie lag mitten in der Gebirgswand. Bodan ließ sich an der Stelle auf den Boden sinken, an der sein Weg endete.
Entmutigt stöhnte er auf und schaute vorsichtig hinab. Genau unter ihm arbeiteten Gefangene der Berggeister an der spiralförmigen Ebene, die sich zu seiner Höhe hinaufarbeiteten. Sie schienen einen Weg in das Gebirge zu schlagen, der in die Richtung des Eingangs führte. Dabei hatten sie Bodans Ziel bis auf ein paar wenige Meter schon erreicht. Er überlegte. Wenn er den Gefangenen helfen würde, die restlichen Meter in den Berg zu schlagen, dann könnte er den Eingang des Gangs relativ schnell erreichen. Er schätzte, dass die Arbeiten nicht länger als einen halben Tag dauern würden. Viele der Städter hatten magische Kräfte, die bei den Arbeiten halfen. Er selbst könnte das noch beschleunigen.
Bodan beobachtete die Lage unter sich sehr genau. Die Städter auf dieser Ebene wurden nur von einem Berggeist beaufsichtigt, der mehr an den Arbeiten auf den tieferen Ebenen interessiert war. Er drehte sich oft weg, so dass Bodan eine Chance sah, unbemerkt auf die Ebene zu gelangen, die Arbeiten zu beschleunigen und dann genauso unbemerkt wieder zu verschwinden.
Sein Vorhaben war riskant, das war ihm bewusst. Aber er hatte keine Wahl. Er wollte unbedingt so schnell wie möglich in das Schneegebirge. Und sein Ziel lag am Ende dieses Ganges. Er
atmete tief durch. Um ohne Aufsehen auf die Ebene zu gelangen, musste er sich unsichtbar machen. Eine Fähigkeit, die er nicht besonders gut beherrschte und die ihn viel Kraft kostete. Aber er hatte keine Wahl. Bodan schloss die Augen und atmete tief durch. Ganz leise kamen die Worte über seine Lippen, er murmelte sie vor sich hin und verschwand.