Zweiunddreissigstes Kapitel
Zamirs Lockruf
Ludmilla blickte sich unschlüssig um. »Und was machen wir?«, fragte sie ungeduldig.
Uri lächelte müde. »Wir ruhen uns noch ein wenig aus. Viel Schlaf hatten wir in den letzten Tagen nicht. Wir werden viel Kraft benötigen, also sollten wir uns noch einmal hinlegen. Ich werde nur noch schnell Bodan zurückrufen.«
Ludmilla fühlte sich ausgeruht und voller Energie. Von Müdigkeit keine Spur. Während es sich Ada schon auf einem Strohballen bequem machte, beobachtete sie Uri, wie er in seine meditative Haltung versank.
Ada rief sie zu sich. »Komm, Ludmilla, setz dich zu mir. Wir haben uns so viel zu erzählen. Wenn du nicht zu müde bist?«
Ludmilla schüttelte zögerlich den Kopf. Eigentlich wollte sie sich nicht setzen und schon wieder nichts anderes machen als reden. Aber sie gab sich einen Ruck und setzte sich neben ihre Großtante. Sie zog ihre Knie an sich und umschlang sie mit den Armen. Das Kinn legte sie auf ihre Knie. So stierte sie ins Feuer und wartete darauf, dass Ada etwas sagte.
Ada beobachtete kurz Uri, der immer noch in seiner meditativen Haltung verharrte, und rückte dann nahe an Ludmilla heran.
»Du scheinst dich gut mit Lando zu verstehen«, begann sie vorsichtig.
Ludmilla sah sie stirnrunzelnd an. »Das ist etwas übertrieben, ich kenne ihn ja gar nicht richtig. Er scheint nett zu sein und das einzige Wesen, das ich bis jetzt kennen gelernt habe, das ungefähr in meinem Alter ist«, fügte sie etwas unsicher hinzu.
Ada lachte leise. »Ja, die Formwandler. Das sind schon ganz besonders faszinierende Wesen. Nur, Lando ist nicht annährend in deinem Alter, Liebes.«
»Nein?«, fragte sie erstaunt.
Ada schüttelte den Kopf. »Er ist über 200 Jahre alt«, flüsterte sie.
Ludmilla verschluckte sich fast an ihrer eigenen Spucke. »Wie bitte?«
Ada nickte bekräftigend.
»Aber er macht so einen unbedarften Eindruck. So leichtlebig, wie Jugendliche in meinem Alter sind. Ein bisschen leichtsinnig, spontan, nicht so ernst wie die Erwachsenen, und er hat Humor«, sprudelte es aus Ludmilla heraus.
Ada sah sie mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Du scheinst ihn ja wirklich zu mögen.« Sie schmunzelte.
Ludmilla schoss das Blut in die Wagen, und sie zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Ich habe das Gefühl, dass wir auf einer Wellenlänge sind«, murmelte sie vor sich hin. Wieso erzählte sie das eigentlich Ada? Das ging sie doch gar nichts an.
Ada schwieg. »Ich kenne die Formwandler«, begann sie umständlich. »Sie sind von uns Menschen fasziniert. Menschen ziehen Formwandler an. So wie Feuer die Feen. Sie finden auch, dass wir mit ihnen auf einer Wellenlänge sind, wie du es ausdrückst. Formwandler sind sehr emotionale Wesen, sie ähneln uns Menschen charakterlich am ehesten. Außerdem fasziniert sie die menschliche Anatomie. Du musst wissen, Formwandler verwandeln sich zu hundert Prozent in das Wesen, das sie sich aussuchen. Dabei geht ihnen die Struktur, das Skelett, der körperliche Aufbau in Fleisch und Blut über. Für Formwandler ist es regelrecht berauschend, sich in einen Menschen zu verwandeln. Sie sind zutiefst beeindruckt von der Komplexität des menschlichen Körpers. Schon aus diesem Grund fühlen sie sich zu Menschen hingezogen. Sie vergöttern unsere Art. Aber sei vorsichtig, Ludmilla. Formwandler sind sehr sprunghafte Wesen. Ihnen wird schnell langweilig, und sie sind nicht sehr zuverlässig. Verlasse dich nicht auf Lando. Wenn ihn etwas Spannenderes lockt als deine Aufgabe, ist er …«, sie schnippte mit den Fingern, »… so schnell weg, so schnell kannst du gar nicht gucken.«
Erstaunt hörte sie Ada zu. So schätzte sie ihn nicht ein. Aber das brauchte sie nicht mit Ada zu diskutieren.
Ada schien ihre Gedanken zu erraten. »Ich weiß, dass das schwer zu glauben ist. Vor allem, wenn da so eine gewisse Vertrautheit zwischen euch herrscht, die dir ein gutes und sicheres Gefühl gibt.«
Wie konnte sie das wissen?
Ada lachte leise. »Ich weiß genau, wie du dich fühlst. Ich war jahrelang mit einem Formwandler eng befreundet und teilte mein Leben mit ihm.«
Ludmilla sah sie erstaunt an, aber Ada ignorierte ihren Blick. Vielmehr tätschelte sie liebevoll Ludmillas Arm. »Glaub mir, Liebes, sei lieber achtsam und verlasse dich nicht auf Lando. Halte dich an Uri und Bodan, da bist du in sicheren Händen.«
Sie streckte sich und gähnte. »Lass uns später weiterreden. Ich bin geschafft von der Versammlung und brauche noch etwas Schlaf.«
Mit diesen Worten und ohne Ludmillas Reaktion abzuwarten legte sie sich auf den Strohballen und war innerhalb von Sekunden eingeschlafen.
Ludmilla starrte sie entgeistert an. Ada hatte doch mit ihr sprechen wollen. Jetzt hatte sie irgendetwas von Formwandlern gefaselt und sich dann hingelegt. Kopfschüttelnd betrachtete sie ihre Großtante, die nach wenigen Sekunden ein Schnarchen von sich gab.
Unschlüssig sah sie sich um. Uri schien auch eingeschlafen zu sein. Vorsichtig stand sie auf und ging zum Ausgang der Höhle. Der Wasserfall tobte, und sie konnte im Sprühregen ihr Gesicht waschen. Zögernd schaute sie vom Wasserfall immer wieder in die Richtung des dunklen Teils des Waldes. Mit ihrer neuen Macht fühlte sie sich stark, fast unbesiegbar, denn sie konnte so schnell laufen wie sonst kaum jemand. Also könnte sie doch einen kleinen Blick riskieren, oder? War dieser Teil der Welt wirklich so bedrohlich? Oder hatte sie sich das bei ihrem ersten Besuch nur alles eingebildet? Sofort schüttelte sie bei diesen Gedanken den Kopf. Wie konnte sie so etwas auch nur denken? So unvernünftig war sie nicht. Sie war schließlich kein Formwandler. Bei dem Gedanken huschte ein Lächeln über ihr Gesicht. Gedankenverloren starrte sie vor sich hin, als sie plötzlich den Späher entdeckte. Er saß am Rand des Pfades, der in den dunklen Teil des Waldes führte.
Ludmilla zuckte zurück und sah den Vogel entsetzt an. Er schien sie zu beobachten und machte keine Anstalten, sich zu bewegen. Sie war starr vor Schreck und wusste nicht, wie sie sich verhalten sollte. Erst dachte sie daran, um Hilfe zu rufen, aber das Getöse des Wasserfalls hätte sie nicht übertönen können. Oder doch? Uri würde sie vielleicht dennoch hören. Unfähig, eine Entscheidung zu treffen oder sich zu rühren, starrte sie das vogelartige Wesen an. Und dann fing der Späher langsam an, auf sie zuzuhüpfen. Ludmilla stieß einen Schrei aus und presste sich die Hand auf den Mund.
Der Späher krächzte ein paarmal, bevor Ludmilla eine Stimme hörte, die sagte: »Du kannst mit mir kommen, wenn du willst. Willst du den anderen Teil dieser wunderbaren Welt nicht auch kennenlernen? Sollte man nicht immer beide Seiten der Geschichte kennen, bevor man sich entscheidet, auf welcher Seite man steht? Es wird dir nichts passieren. Das verspreche ich. Und keiner wird es erfahren.« Die Stimme war sanft und sprach sehr einschmeichelnd.
Ludmilla fixierte den Späher noch ein paar Sekunden. Schließlich konnte sie sich aus ihrer Erstarrung lösen und rannte voller Panik zurück in die Höhle.
»Überlege es dir in Ruhe. Nimm dir so viel Zeit, wie du willst, Ludmilla! Ich warte auf dich!«, hallte die Stimme in dem Höhleneingang .
Ludmilla ließ sich auf ihren Strohhaufen fallen. Ada und Uri rührten sich nicht. Ludmilla schnaufte und hörte ihren Puls in ihrem Kopf hämmern. Sie dachte an ihre Aufgabe und strich sich dabei gedankenverloren über das Brandmal. Vielleicht war es gar nicht so dumm, allein zu Zamir zu gehen. Zugleich schüttelte sie den Kopf. Hatte er sie mit dieser Idee schon eingelullt? So dumm war sie nicht. Aber ob es so eine gute Idee war, mit einer ganzen Entourage an Wesen anzurücken, bezweifelte sie auch. Außerdem war ihr bei dem Gedanken, dass alle diese Wesen für sie und diese Aufgabe ihre Schatten riskierten, nicht wohl. Eines war ihr jedoch jetzt ganz klar: Zamir konnte sie nun rufen. Er kam in ihren Kopf hinein. Denn der Späher hatte nicht zu ihr gesprochen. Die Stimme war in ihrem Kopf gewesen.