Dreiunddreissigstes Kapitel
Bodans Gefangennahme
Der Abstieg ging leichter und schneller, als Bodan gedacht hatte. Es war zwar tiefer, als er geschätzt hatte, aber er war ein guter Kletterer und fand schnell den richtigen Tritt, um an der Gebirgswand Halt zu finden. Auf der Spiralebene angekommen, lief er so schnell wie möglich zu den arbeitenden Gefangenen. Ihn schauderte, als er in die Gesichter der Bewohner von Fluar sah. Sie sahen angestrengt aus. Das Licht der Feen reichte nicht aus. Wie sollten diese Wesen ohne das Licht von Eldrid solche Arbeiten erledigen? Sie würden bald völlig kraftlos sein, und dann würden die Berggeister … Bodan wollte sich das Ende nicht ausmalen. Vorsichtig drückte er sich an einem Jungen mit hellblonden Haaren und sehr blasser Haut vorbei. Im Schutz der Bergwand würde es ihm gelingen, sich unbemerkt sichtbar zu machen. Er wartete, bis der Berggeist sich wieder abwandte.
Dann reihte er sich bei den Gefangenen ein und wartete darauf, dass er an die Reihe kam. Die Wesen hatten ein Arbeitssystem entwickelt. Jedes Wesen konnte mit seiner Macht den Stein zerstören. Manche Wesen arbeiteten in einer Reihe und als Team, andere allein. So gab es Feuerbälle, die auf die Bergwand geworfen wurden und das Gestein derartig erhitzten, dass es schmolz. Es gab Wasserstrahlen, die mehrere Löcher hineinfrästen, und Zwerge, die mit der Spitzhacke die restlichen Steinbrocken entfernten. Das System war effektiv. Bodan war beeindruckt.
Trotz der Müdigkeit und der Angst, die den Wesen ins Gesicht
geschrieben stand, bemerkten sie Bodan sofort. Sie starrten ihn an und hörten beinahe auf zu arbeiten.
»Wo kommt der denn her?«, zischte ein Wesen feindselig.
»Das ist einer der Spiegelwächter«, flüsterte eine andere Stimme.
»Soll er doch lieber dafür sorgen, dass die Berggeister wieder einschlafen, als sich hier gefangen nehmen zu lassen.«
Bodan legte besorgt den Finger auf die Lippen und trat vor. Er sah die Wesen eindringlich an. »Ich bin hier, um zu helfen«, drang er in ihre Gedanken ein. »Bitte! Ihr müsst mir vertrauen.«
Dann hob er die Hände und begann mit aller Kraft, die Gesteinsplatten ineinander zu verschmelzen. Der Berg begann zu glühen. Alle Augen waren auf ihn gerichtet.
»Gleich sprengt er ihn. Wartet ab, das habe ich schon mal gesehen. Diese Spiegelwächter, so klein sie sind, sie haben große Mächte«, flüsterte es aus der Menge hinter ihm.
Aber auch der Berggeist wurde auf einmal auf Bodan aufmerksam. Er schwebte näher heran und trieb die restlichen Gefangenen von Bodan weg. Bodan war so in den Einsatz seiner Fähigkeiten vertieft, dass er ihn nicht kommen sah. Erst als der Berggeist ein erbostes Grollen ausstieß, schaute er auf. Im selben Moment wehte ihn eine eisige, modrige Böe fast von den Füßen. Der Berggeist brüllte laut auf. Ein dicker Gesteinsfinger zeigte direkt auf Bodan.
»Spiegelwächter!«, dröhnte der Berggeist los.
Er wandte sich den Gefangenen zu und wiederholte dieses Mal noch lauter und mit forderndem Ton: »Spiegelwächter!«
Die Wesen sahen einander verständnislos an. Schließlich wiederholte eines von ihnen: »Spiegelwächter!«, und der Berggeist nickte. »Spiegelwächter!«, wiederholten die gefangenen Wesen flüsternd. Der Berggeist funkelte sie an und stieß ein erneutes Grollen aus. »Spiegelwächter!«, riefen sie lauter. Der Berggeist grunzte zufrieden und stieß Bodan den Finger gegen die Brust, so dass dieser gegen die Wand gedrückt wurde. Dann stob er davon.
Bodan war wie gelähmt. Ungläubig sah er von einem Wesen
zum anderen, aber sie wichen seinem Blick aus und wandten sich wieder ihrer Arbeit zu.
Noch bevor Bodan einen klaren Gedanken fassen konnte, erschienen vor seinen Augen fünf Berggeister. Sie schwebten vor ihm wie zu Stein gewordener Nebel. Glühende Augen glotzten ihn an. Dann packte ihn eine schwere Hand, die ihn dabei fast erdrückte.
»Spiegelwächter!«, tönte es wie ein Echo tausendfach durch den Krater, während Bodan in die Tiefe gezogen wurde.