Vierunddreissigstes Kapitel
Godal
Ungeduldig lief Zamir vor dem Eingang seiner Höhle hin und her. Immer wieder starrte er angewidert auf seine verbrannte Hand. Warum hatte er auch unbedingt testen wollen, ob der Verbannungszauber noch wirkte? Jetzt war seine wunderschöne Hand ruiniert. Eine Hexe würde ihm heilende Kräuter bringen müssen. Eine Kleinigkeit, die ihn aufhalten würde und für die er keine Zeit hatte.
»Wo bleibt er nur?«, murmelte Zamir vor sich hin. »Ich bin sein Herr. Wieso lässt er sich so viel Zeit?« Wütend brummte er Zauberformeln vor sich her.
Plötzlich vernahm er ein Rascheln. Zamir trat wieder ganz nah an die unsichtbare Barriere heran. Ein Schatten näherte sich der Höhle.
»Na endlich! Du bist spät!«, herrschte Zamir den Besucher an. Dann wich er vor Verwunderung zurück. »Amira!«
Für einen Moment hatte er seine Fassung verloren. Mit ihr hatte er nicht gerechnet. Sofort fing er sich wieder. »Was für eine Ehre. Die Oberhexe persönlich beehrt mich mit ihrem Besuch. Tritt ein, meine Liebe, tritt ein«, säuselte er.
Aber Amira blieb vor dem Höhleneingang stehen. »Ich bin nicht gekommen, damit du mir meinen Schatten nimmst. Ich bleibe hier stehen. Hier, wo du keine Macht hast«, sagte sie bestimmt und hob stolz ihren Kopf an. Sie blickte Zamir fest in die Augen. »Ich habe keine Angst vor dir. Ich finde dich erbärmlich«, begann sie leise und mit fester Stimme .
Zamirs Gesicht verzog sich vor Zorn. Er hatte die Hexe noch nie leiden können. Sofort hob er die Hand an die Stirn. Keine Falten, er wollte keine Falten bekommen. Als er Amiras erstaunten Blick wahrnahm, strich er sich schnell eine Haarsträhne hinters Ohr.
»Kannst du mir folgen oder bist du mit dir und deiner Eitelkeit beschäftigt?«, fragte sie abfällig. Aber sie ließ Zamir keine Zeit zu antworten. »Ich bin hier, um einen Krieg in Eldrid zu verhindern. Ich bin hier, um mit dir zu verhandeln.« Nach einer kleinen Pause fuhr sie fort: »Wir alle wissen, wozu du fähig bist. Keiner zweifelt an deiner Macht oder an deiner Überlegenheit. Aber unsere Welt ist groß genug für alle Wesen. Dazu musst du nicht über ganz Eldrid die Dunkelheit bringen. Wir brauchen das Licht zum Existieren. Du brauchst es doch selbst!« Triumphierend sah sie ihn an.
Zamir schnaubte nur verächtlich. »Es geht auch sehr gut ohne dieses verdammte Licht!«, zischte er sie an.
Amira hob die Schultern. Ihre Stimme klang diplomatisch und sanft. »Nun, aber nicht alle Wesen von Eldrid sind wie du. Es gibt Wesen, die benötigen das Licht zum Überleben. Wenn du uns das Licht nimmst, nimmst du uns die Lebensgrundlage. Du löschst uns alle aus. Ist es tatsächlich das, was du willst?«
In diesem Augenblick vernahm sie ein Geräusch. Amira drehte sich langsam um. Ein Umhang schleifte über den Waldboden, und noch bevor sie reagieren konnte, wurde sie von den Füßen gerissen. Sie rauschte wie vom Wind erfasst den Gang hinein und wurde in Zamirs Höhle hineinkatapultiert. Ein Wesen, in einen Umhang gehüllt und dennoch komplett schwerelos, drückte sie an die Höhlenwand. Eine schattenartige Hand, so schwarz wie die Nacht, hielt sie an der Kehle fest. Sie röchelte.
»Godal! Du kommst genau richtig!«, rief Zamir erfreut aus.
Godal gab ein zischendes Geräusch von sich. Die Kapuze des Umhangs hing ihm tief ins Gesicht, dennoch konnte Amira die glühend roten Augen sehen, die sie hasserfüllt anstarrten.
»Aber, aber, Godal!«, ereiferte sich Zamir. »Behandeln wir so unsere Gäste? «
Godal antwortete mit einem erneuten Zischen. Er drückte Amira noch fester an die Wand. Ihr entfuhr ein unterdrückter Schrei. Sie hatte die Augen weit aufgerissen und merkte, wie sich ihre Füße vom Boden lösten. Hilflos baumelte sie in Godals Griff an der Felswand. Sie sah Zamir hilfesuchend an. Aber der schien begeistert von Godals Auftritt zu sein.
Mit der anderen Hand schob Godal seine Kapuze ein Stück zurück, so dass seine Augen, die wie kleine Feuerbälle aus dem tiefschwarzen Gesicht hervorstachen, vollkommen sichtbar wurden. Er stierte ihr in die Augen und paralysierte sie dadurch vollends. Dann fing er an, etwas zu murmeln. Es war eine Art Gesang, ein Summen, doch zwischendurch schien er Worte zu zischen, die Amira nicht kannte. Ihr pochte das Herz bis zum Hals. Sie versuchte, ruhig zu bleiben, den restlichen Atem, der ihr noch blieb, zu kontrollieren. Doch dann bemerkte sie, trotz des schummrigen Lichts in der Höhle, wie sich langsam ihr Schatten von ihr löste. Amira entfuhr ein stummer Schrei. Ihr Schatten stellte sich neben ihren Peiniger und starrte sie mit hasserfüllten, rot glühenden Augen an.
»Ha!«, schrie Zamir triumphierend auf. »Noch ein mächtiger Schatten. Und dazu noch der einer Oberhexe. Genau, was ich brauche!«
Godal knurrte Zamir an. Er lockerte den Griff um Amiras Hals nicht.
Zamir stockte. »Du kannst sie jetzt loslassen«, sprach er unsicher.
Als Godal nicht reagierte, sprach er mir fester befehlender Stimme: »Sie ist wertlos für uns. Wir haben, was wir wollten. Lass sie los!«
Godal ließ sie nicht los. Er beachtete Zamir gar nicht. Er durchbohrte Amira mit seinen feurigen Augen. Dann machte er ein schnüffelndes Geräusch.
»Godal!«, herrschte Zamir ihn an. »Lass sie los! Sie ist ohne Wert für uns!« Panik lag nun in seiner Stimme .
Aber Godal gehorchte ihm nicht. Er öffnete den Mund und hauchte Amira seinen schwarzen Atem ins Gesicht. Amira öffnete ohne ihren Willen den Mund, und ihm entströmte ein hell gleißendes Licht, das Godal durch den Mund einatmete. Als das Licht aufhörte, aus Amira herauszufließen, ließ Godal sie los. Ihr lebloser Körper glitt zu Boden. Sie war tot.
Godal aber krümmte sich und fing an, eine helle goldene Flüssigkeit auf den Boden zu spucken. Er spuckte so lange, bis keine Farbe mehr zu erkennen war. Langsam richtete er sich auf und fixierte Zamir mit seinen glühenden Augen.
Zamir stöhnte auf. »Musste das sein? Ich brauche eine Hexe, die meine Hand heilt«, beschwerte er sich.
Godal machte eine Handbewegung in die Richtung von Amiras Schatten.
Zamir lachte hysterisch auf. »Oh, ja. Natürlich. Ich brauche keine Hexe mehr, jetzt habe ich ja den Schatten der mächtigsten Hexe von Eldrid, der mich heilen kann. Oder, noch besser, ich kann mich gleich selbst heilen, wenn ich mir seine Mächte angeeignet habe.«
Godal entfuhr ein Knurren, das Zamir zusammenzucken ließ. »Was ist denn los mit dir? Hast du vergessen, wer dein Herr ist?«, herrschte er ihn an. »Und was hast du dir nur dabei gedacht? Jetzt haben wir die Hexenwelt gegen uns. Sie wären uns sicherlich noch von Nutzen gewesen.«
Godal glitt auf Zamir zu, zischte ihn an und hob drohend die Hand. Zamir wich zurück, bis Godal ihn fauchend in eine Ecke gedrängt hatte.
»Du hast mir zu gehorchen, Godal!«, schrie er schrill.
Aber der Schatten hörte nicht auf ihn. Er drückte ihn gegen die Wand und fing an, eine Melodie zu summen. Zamir versuchte vergeblich, ihn zurückzudrängen.
»Also gut, du bekommst ihn. Nimm ihn mit. Ich brauche ihn nicht. Du darfst ihn haben«, presste Zamir heraus.
Godal warf Amiras Schatten einen Blick zu und ließ von Zamir ab .
Zamir atmete schwer und ließ sich auf den Boden sinken. »Ich habe dich gerufen, weil ich eine Aufgabe für dich habe«, presste er hervor.
Godal drehte sich zu Zamir um und funkelte ihn mit seinen roten Augen an. Er brummte herausfordernd.
»Geh ins Gebirge zu den Berggeistern. Sie müssen wissen, wer sie erweckt hat und wer ihr Herr ist.«
Godal machte ein Geräusch, das sich anhörte wie ein verächtliches Lachen. Dann zischte er zustimmend, packte Amiras Schatten am Arm und verschwand.
»Du hast ihren Körper vergessen!«, brüllte Zamir voller Zorn. »Hier kann er nicht bleiben. Nimm ihn gefälligst mit!«
Aber Godal kam nicht zurück. Zamir schrie und tobte in seiner Höhle.