Fünfunddreissigstes Kapitel
Der Vogel
Der Vogel, den Bodan zu Uris Höhle geschickt hatte, hatte schon den Wald erreicht. Uris Höhle war in greifbarer Nähe. Plötzlich brach die Dunkelheit herein wie eine Wolke, die die Sonne verdunkelte. Der Vogel schrie auf vor Angst. Er bewegte sich in einem dunklen Fleck, während alles um ihn herum hell war. Er schaute nach oben und sah eine riesige Wolke von schwarzen, großen Vögeln über sich. Wieder schrie der Vogel auf. Es waren nur noch wenige hundert Meter bis zu Uris Höhle, und er wollte Bodans Nachricht überbringen. In diesem Moment stießen die schwarzen Vögel auf ihn herunter.
Ludmilla zuckte zusammen, als der schrille Schrei des Vogels durch die Höhle hallte.
Uri sprang besorgt auf und lief zum Eingang der Höhle. Er horchte angestrengt in den Wald hinein. Ludmilla konnte nichts als das Rauschen des Wasserfalls hören. Aber Uri, für den das Getöse des Wasserfalls kein Hindernis war, vernahm ein leises Krächzen, gefolgt von einem kurzen kraftlosen Schrei, und dann herrschte wieder Stille im Wald.
»Komm, Ludmilla!«, rief Uri in die Höhle hinein, doch Ludmilla stand schon neben ihm und sah ihn gespannt an.
»Ich möchte wissen, woher das kam«, sagte Uri und eilte voran.
Die Sonne stand schon tief am Himmel, aber es war noch genug Zeit, bevor die Nacht hereinbrach. Der Sternenhimmel gab zudem meist genug Licht, so dass es in diesem Teil von Eldrid selten richtig dunkel wurde. Ludmilla lief in ruhigen großen Schritten neben Uri, der sich erneut darüber wunderte, mit welcher Leichtigkeit sie ihre Macht beherrschte.
»Was war das?«, fragte sie kritisch.
Uri blickte sie von der Seite an. Er kniff die Augen zusammen. »Ein Vogel. Und Zamirs Späher. Ganz sicher.«
Es dauerte nicht lange, und sie kamen zu der Stelle, an dem der Vogel lag. Er lag auf dem Rücken und hatte die Flügel voll ausgebreitet. Der Kopf war zur Seite geneigt und die Augen waren weit aufgerissen. Uri und Ludmilla kamen zu spät. Uri beugte sich über den Vogel.
»Warum bringen Zamirs Späher einen kleinen Vogel um?«, murmelte er vor sich hin.
Ludmilla stand wie angewurzelt neben ihm. Sie fixierte den Vogel. Es war kaum Blut zu sehen. Es war ein wunderschöner Vogel mit buntem Gefieder und einem gelben Schnabel. Aber die Pose, in der er auf dem Weg vor ihnen lag, ließ Ludmilla erschauern. Über ihr schrie ein Späher auf.
Uri richtete sich auf und blickte zum Himmel. »Hau ab!«, schrie er den Späher an. »Er ist tot! Verschwindet aus diesem Teil des Waldes! Ihr habt in Teja nichts zu suchen!«, donnerte er. Mit diesen Worten schleuderte er einen goldenen Feuerball, der plötzlich in seiner Hand aufflammte, in den Himmel. Der Späher krächzte noch einmal auf und erhob sich in die Lüfte, um dem Feuerball auszuweichen. Uri schüttelte zornig den Kopf.
Er kniete sich neben den toten Vogel und strich ihm über das Gefieder. »Was war so wichtig an dir, dass sie dich töten mussten?«, murmelte er vor sich hin. Vorsichtig hob er den Vogel auf und trug ihn zu seiner Höhle.
Ludmilla schritt still hinter ihm her. »Warum nimmst du ihn mit?«, fragte sie leise.
Uri blieb stehen. »Vielleicht kann Amira etwas in Erfahrung bringen, indem sie den Vogel berührt. Ich konnte leider gar nichts erspüren. Es war schon zu spät. Aber die Mächte der Hexen sind in der Hinsicht besser ausgeprägt.«
Wieder etwas gelernt, dachte Ludmilla und lief leichtfüßig zur Höhle zurück.