Sechsunddreissigstes Kapitel
Trauer und Verzweiflung
Plötzlich ging alles ganz schnell. Kaum waren Ludmilla und Uri mit dem toten Vogel in die Höhle zurückgekehrt, überflutete die Höhle ein ohrenbetäubender Lärm. Von allen Seiten schienen Schreie auf sie einzustürzen. Es waren schrille Schreie, die immer lauter zu werden schienen. Nach kurzer Zeit kam ein schauriger Gesang dazu, der dem Geheul eines verwundeten Tieres glich. Die gesamte Höhle schien davon erfüllt zu sein.
Ludmilla hielt sich die Ohren zu und kauerte sich auf den Boden. Diese Geräusche bereiteten ihr unerträgliche Schmerzen. Hilfesuchend blickte sie Uri an. Aber Uri war in eine meditative Haltung verfallen und beachtete sie nicht. Ada stürzte sich auf Ludmilla und begrub ihren Körper unter sich, als wollte sie damit den Lärm abdämmen. Ludmilla fing vor Anstrengung an zu zittern. Wie hielt Ada das nur aus? Sie war doch auch nur ein Mensch.
Und dann wurde es schlagartig still. In Ludmillas Ohren summte es. Ada löste sich von ihr, so dass sie sich vorsichtig aufsetzen konnte. Alles drehte sich vor ihren Augen. Als sie gerade dabei war, zu sich zu kommen, nahm sie Bewegungen im Gang der Höhle war. Sekunden später betraten Hunderte von Hexen Uris Höhle. An ihrer Spitze ging eine hochgewachsene, dunkelhaarige Hexe mit tränenüberströmtem Gesicht. Sie hatte große Ähnlichkeit mit Amira. Auf ihren ausgebreiteten Armen trug sie ein Tuch vor sich her, auf dem Amiras blutiger Kopf lag
.
Ludmilla wich zurück und schrie auf. Ada legte schützend ihren Arm um sie, verbarg ihr aber nicht die Sicht. Uri war aufgesprungen und hatte sich schützend vor Ludmilla und Ada gestellt. Die Hexen füllten die Höhle und bildeten einen Kreis um sie. Sie fingen an, ein Lied zu summen, das Ludmilla bereits mehrere Male in Eldrid gehört hatte. Dieses war jedoch eine sehr traurige Variante. Die Melodie erfüllte die Höhle und schwoll wieder zu einer unerträglichen Lautstärke an.
Die anführende Hexe trat vor und legte Uri Amiras Kopf zu Füßen. Uri starrte fassungslos darauf. Die Hexen aber summten weiter ihr Lied und zogen dabei den Kreis immer enger.
Ludmilla rückte noch näher an Ada heran. Sie spürte, wie Angst in ihr hochkroch. Sie presste ihre Hände auf die Ohren und versuchte, nicht ständig Amiras blutigen Kopf anzustarren. Er lag jedoch direkt vor ihren Füßen, so dass sie ihren Blick kaum abwenden konnte. Und noch während sie krampfhaft auf den Boden starrte, verfärbte sich der Boden dunkel. Auch die Höhlenwände verdunkelten sich. Das Summen wurde zu einem Brummen, und der Kreis zog sich immer bedrohlicher zusammen.
Dann hob Uri die Hand, und die Hexen verstummten. Er nahm Amiras Kopf in die Hände, küsste ihn mit Andacht, setzte ihn wieder ab und nickte der Hexe zu, die ihn überbracht hatte. Sie trat vor und beugte sich zu Uri. Er küsste sie auf die Stirn und wischte ihr eine Träne aus dem Gesicht. Auch sein Gesicht war tränenüberströmt. Die Hexe trat zurück, und die nächste Hexe trat vor. Auch diese küsste er auf die Stirn und wischte ihr eine Träne aus dem Gesicht. Dies wiederholte er bei jeder einzelnen.
Es dauerte Stunden, bis sich die Höhle langsam leerte. Nachdem er der letzten Hexe seine Ehre erwiesen hatte, ließ sich Uri erschöpft auf einen Strohballen fallen. Er sah Ada verzweifelt an.
»Ich muss mit den anderen Spiegelwächtern sprechen. Das ist eine Katastrophe. Alles ist im Wandel. Wir leben zum ersten Mal seit dem Bestehen unserer Welt nicht mehr in Frieden.« Uris Stimme war heiser. »Ich brauche dich jetzt, Bodan! Jetzt!
«, murmelte er mehrfach hintereinander. Immer wieder horchte er in sich hinein und schüttelte dann verzweifelt den Kopf. »Wo ist er nur? Warum kann ich ihn nicht erspüren?«
Als Nächstes versuchte er, Pixi zu rufen. Aber auch hier hatte er keinen Erfolg. Das leichte Leuchten des Spiegels winkte er mit einem Fingerzeig ab.
Ludmilla hatte die Frage schon auf den Lippen, wagte sie jedoch nicht auszusprechen: Wieso fängt der Spiegel an zu leuchten, wenn er versucht, Pixi zu rufen? Fragend blickte sie Ada an, aber sie schüttelte nur unmerklich den Kopf.
»Nicht jetzt«, flüsterte sie.
Uri stöhnte auf und versank für ein paar Momente in Schweigen. Dann wandte er sich entschlossen Ada zu. »Ich muss mich mit Kelby und Arden beraten. Dazu gehe ich in den Wald. Wartet bitte hier auf mich. Pass gut auf Ludmilla auf. Ich kann noch nicht sagen, ob wir unseren ursprünglichen Plan noch verfolgen werden. Godal ist zu allem fähig.«
»Das war Godal?«, entfuhr es Ludmilla.
»Zamir ist dazu nicht fähig«, erwiderte er müde. »Außerdem kennt er die Konsequenzen. Dazu ist er zu schlau. Er würde es nie wagen, eine Oberhexe zu töten. Aber Godal«, er stockte, »Godal ist das gleichgültig. Er ist ein Schatten. Er kennt nur die Dunkelheit, und das Einzige, was er will, ist Macht.«
Ludmilla lief ein Schauer über den Rücken.
»Aber Zamir hat sie enthaupten lassen!«, hörte sie eine Stimme hinter sich. Lando schlenderte in seiner gewohnt lässigen Art in die Höhle.
Wie konnte er so schnell zurück sein?, dachte sie verwirrt. Und wo war der Magier, den er mitbringen sollte? Adas Worte hatten ihre Wirkung nicht verfehlt. Misstrauisch beobachtete sie ihn aus den Augenwinkeln. Lando fühlte ihre Blicke auf sich und funkelte sie herausfordernd an. Sie zuckte zusammen und schaute zu Boden.
Landos Gesichtsausdruck verriet, dass auch er angespannt war. »
Er hat dem Ganzen die Dramatik verpasst«, platzte es aus ihm heraus. Er verzog sein Gesicht zu einem gequälten Lächeln.
Als Uri ihn fragend ansah, fuhr er fort: »Als ich das Geheul der Hexen im Wald hörte, bin ich zu Zamirs Höhle geflogen. Ich hatte irgendwie im Gefühl, dass Amira ihn vielleicht aufsuchen würde. Und da sah ich sie. Amiras Körper lag vor Zamirs Höhle. Sie war schon tot. Aber dann tauchte einer von Zamirs Gehilfen auf, dieser Zwerg. Raik!« Lando spuckte den Namen regelrecht aus, so dass dunkelrote Funken auf den Boden sprühten.
Ludmilla überlegte krampfhaft, in welchem Zusammenhang sie diesen Namen schon einmal gehört hatte.
»Zamir zwang ihn, ihr den Kopf abzuhacken«, fuhr Lando leise fort. »Es war schaurig. Selbst der Zwerg hat dabei geheult. Und Zamir lachte die ganze Zeit völlig hysterisch.«
Uri rappelte sich auf. »Es bleibt dabei. Ich muss mich mit Arden und Kelby treffen. Ihr bleibt bitte hier bei Ludmilla. Vor allem du, Lando!«, befahl er.
Lando und Ada nickten zustimmend, und im nächsten Moment war Uri aus der Höhle verschwunden.