Siebenunddreissigstes Kapitel
Der Besuch
Mina lief nervös auf und ab. Ständig schaute sie aus dem Fenster. Dann fuhr endlich der Wagen vor, und Ludmillas Eltern stiegen aus.
Pixi scheuchte Ludmillas Spiegelbild zur Tür. Widerwillig öffnete es die Haustür. »Lächeln und winken!«, zischte Pixi es an. »Es sind schließlich deine Eltern, also freue dich gefälligst.«
Mina trat einen Schritt zurück. »Danke!«, hauchte sie. Sie zitterte vor Aufregung.
Ludmillas Eltern betraten das Haus und begrüßten ihre vermeintliche Tochter freudig.
Ludmillas Spiegelbild erwiderte die Freude nicht. Und damit nahm das Unheil seinen Lauf.
Das Spiegelbild begleitete ihre Eltern nicht ins Haus, sondern verschwand kurzerhand in Ludmillas Zimmer. Nicht, dass ihre Eltern ein solches Verhalten nicht gewohnt wären. Dennoch waren sie darüber empört.
Mina bemühte sich um Schadensbegrenzung. »Ihr habt sie seit zwei Monaten nicht besucht«, versuchte sie das Verhalten zu erklären. »Und wann habt ihr das letzte Mal mit ihr telefoniert? Was erwartet ihr denn? Sie ist fünfzehn!«
Den Vorwurf in ihrer Stimme konnte sie nicht verbergen. Sie fühlte sich im Recht, auch wenn sie das Verhalten von Ludmillas Spiegelbild nicht guthieß und es der echten Ludmilla nicht hätte durchgehen lassen. So war sie gezwungen, das Spiel mitzuspielen .
»Genau!«, fauchte Ludmillas Mutter Alexa. »Sie ist fünfzehn. Da wird sie doch wohl den Anstand haben, ihre Eltern zu begrüßen. Ein solches Verhalten ist inakzeptabel. Ich werde mit ihr sprechen.«
Wutentbrannt verließ sie die Küche. Mina hatte den Tisch mit Kaffee, Tee und Kuchen gedeckt und blickte nun etwas hilflos zu Pit, Ludmillas Vater, der unbeholfen am Tisch stand.
»Magst du dich setzen, Pit?«, versuchte sie die Wogen zu glätten. »Darf ich dir etwas anbieten? Tee, Kaffee, Kuchen?«
Pit sah sie irritiert an, zögerte und setzte sich dann an den Tisch. Sekunden später ertönte ein Schrei, der durch das gesamte Haus hallte.
Alexa kam in die Küche gerannt, die Hand vor dem Gesicht. »Sie hat mich angespuckt«, presste sie hervor.
Mina ließ vor Schreck das Messer fallen, mit dem sie den Kuchen anschneiden wollte. Sie starrte ihre Tochter und ihren Schwiegersohn an.
»Ich spreche mit ihr …«, stammelte sie fassungslos, »… ich regle das«, und verließ den Raum.
Als sie sichergehen konnte, dass sich Pixi auch in Ludmillas Zimmer befand, schloss sie energisch die Tür und warf Ludmillas Spiegelbild einen vernichtenden Blick zu.
»Was denkst du dir eigentlich dabei?«, herrschte sie es an. »Das war nicht unsere Abmachung!«
Das Spiegelbild grinste breit. »Wir haben überhaupt keine Abmachung. Du willst mich nicht durch den Spiegel schicken, und dieses kleine Ding auch nicht. Ihr nutzt mich doch nur aus, und dabei spiele ich nicht mit.«
Mina wurde rot im Gesicht. Von draußen hörte sie, wie sich Schritte näherten.
Pixi flatterte hervor. »Du benimmst dich jetzt oder du hast den Spiegel das letzte Mal gesehen«, piepste sie erzürnt.
Das Spiegelbild hob nur verächtlich die Schultern.
In diesem Moment flog die Tür auf und Ludmillas Vater betrat den Raum. Er war groß und schlank und trug auch heute einen maßgeschneiderten Geschäftsanzug, der wie eine zweite Haut saß. Seinen Hals schmückte eine dezente Seidenkrawatte, und aus der Brusttasche des Sakkos ragte ein farblich passendes Einstecktuch. Seinen Scheitel trug er akkurat gezogen, die dunkelblonden Haare glänzten im Licht, und seine blauen Augen funkelten hinter einer runden Hornbrille hervor.
»Ludmilla!«, donnerte er los. »Was denkst du dir dabei? Ein solch kindisches Verhalten dulden wir nicht, und das weißt du. Wir müssen davon ausgehen, dass deine Großmutter keinen guten Einfluss auf dich hat, wenn du dich derartig danebenbenimmst.«
Ludmillas Spiegelbild starrte ihn an und grinste frech. Dabei warf sie Mina einen Seitenblick zu, der Mina wie eine Faust im Magen traf. Sie machte alles nur noch schlimmer. Ludmillas Mutter tauchte hinter ihrem Mann auf. Sie trug einen schwarzen Hosenanzug, als wäre auch sie bei einem Geschäftstermin. Ihre braunen Haare hatte sie streng zusammengenommen und zu einem Dutt geformt. Ihre Füße steckten in schwindelerregend hohen, spitzen Schuhen, in denen sie lief, als wären es Turnschuhe.
»Wenn du so wenig Einfluss auf sie hast, Mutter«, fauchte Alexa Mina an, »und sie so wenig Benehmen an den Tag legt, dann können wir sie nicht länger in deiner Obhut belassen. Pubertät hin oder her, aber das geht zu weit!«
Das Spiegelbild starrte belustigt von einem zu anderen.
Mina hob an, etwas zu sagen, aber Pit schüttelte entschlossen den Kopf. »Wenn ihr beide weiter in dieser Konstellation leben wollt, dann muss Ludmilla lernen, sich zusammenzureißen. Ansonsten wird das Konsequenzen haben.«
Alexa nickte so heftig, so dass ihr Dutt wippte. »Sonst müssen wir davon ausgehen, dass du kein guter Umgang für sie bist.«
Sie gab Mina keine Chance zu reagieren, ergriff die Hand ihres Mannes und zog ihn aus dem Zimmer. Sekunden später knallte die Haustür zu.
Mina schossen die Tränen in die Augen. Völlig hilflos blickte sie Pixi an. Pixi tobte vor Wut. Aber Mina hob nur verzweifelt die Schultern. »Was sollen wir denn jetzt machen? Wenn sie mir Ludmilla wegnehmen und dieses Spiegelbild aus dem Haus holen, dann kann Ludmilla den Spiegel nicht mehr benutzen. Sie kann, ohne dass ihr Spiegelbild im Haus ist, nicht aus dem Spiegel steigen.«
Pixi schlug sich ihre kleine Hand auf den Mund. »Du hast recht«, flüsterte sie voller Entsetzen. »Wir müssen unter allen Umständen verhindern, dass das Spiegelbild das Haus verlässt. Ludmilla wird sonst nicht aus Eldrid zurückkommen können.«
Mina nickte nur matt. »Das heißt, dass wir dieses Exemplar dazu bringen müssen, mitzuspielen, oder Ludmilla muss zurückkommen. Ich kenne meine Tochter. Sie macht ernst. Gegen sie habe ich keine Chance.«
Pixi starrte verbissen ins Leere.
Mina ließ sich verzweifelt in den nächststehenden Sessel fallen. »Das hier ist eine Katastrophe!«
Und sie fing an, bitterlich zu weinen.