Achtunddreissigstes Kapitel
Bodans Schatten
Immer tiefer ging es hinab. An vielen Ebenen vorbei, auf denen die Bewohner von Fluar arbeiteten. Ihre Augen waren auf Bodan gerichtet, wie er hilflos in der Hand des Berggeistes eingequetscht war. Unbeholfen drückte er sich etwas nach oben, um genug Luft zu bekommen. In dem Krater war es heiß, und je tiefer sie hinabrauschten, desto wärmer und stickiger wurde die Luft. Die Sicht wurde immer schlechter, so staubig war es.
Bodan durchdachte blitzschnell seine Möglichkeiten: Wenn er sich unsichtbar machen würde, würde der Berggeist vielleicht die Hand öffnen und ihn fallen lassen. Da er nicht fliegen konnte, würde er in die Tiefe stürzen. Dasselbe würde passieren, wenn er versuchen würde, die Hand des Berggeistes zu sprengen. Auch dann würde er fallen. Also war er gezwungen, darauf zu warten, dass sie an ihr Ziel kamen. Er hoffte, dass er sich dann unsichtbar machen und verschwinden könnte. Gegen die Berggeister halfen seine Fähigkeiten nicht viel. Es waren Fähigkeiten, die ihm das Leben in Eldrid versüßten. Die ihn mächtig und weise erscheinen ließen, damit er von den anderen Wesen genug Respekt erhielt. Seine Mächte waren aber nicht dazu gemacht, um sich zu verteidigen. Erst recht nicht gegen Berggeister.
Es dauerte endlos, bis der Berggeist zum Stillstand kam. Bodan fragte sich, warum den Berggeistern ein Spiegelwächter so wichtig war. Wollten sie ihn auch als Arbeiter einsetzen? Aber er hatte dafür keine Zeit! Er musste ins Schneegebirge. Wie hatte er nur so
dumm sein können? Auf seiner Stirn zeichneten sich Sorgenfalten ab, tiefer und größer als je zuvor.
Schließlich kam der Berggeist auf dem Grund des Kraters an, eine kreisförmige Fläche, die mehrere hundert Quadratmeter groß war. Bodan konnte nun erkennen, woran die Berggeister hier arbeiteten. Seine schlimmsten Befürchtungen wurden wahr: Sie suchten nach dem Fluss und hatten einen Höhleneingang freigelegt, aus der Bodan Wassergeräusche wahrzunehmen glaubte. Der unterirdische Fluss! Er existierte also wirklich. Der Fluss Taron, der durch Eldrid floss, hatte seinen Ursprung in Ilios. Aber warum hatten die Berggeister daran Interesse? Und noch eine Frage schoss ihm durch den Kopf: Wenn es einen Fluss im Gebirge Odil gab, gab es auch Flussgeister? Wenn die Flussgeister auch in das Gebirge gelangen konnten, dann hatte Bodan vielleicht einen Verbündeten. Denn die Flussgeister waren friedliebende Geister, die am Waldrand in der Nähe des Wasserfalls lebten. Sie waren den Wesen von Eldrid sehr wohlgesinnt, aber auch sehr mächtig. Mit ihnen an seiner Seite hätte Bodan sicherlich eine Chance zu entkommen. Angespannt starrte er auf den freigelegten Höhleneingang.
Bei dem Anblick hatte er vollkommen vergessen, dass er sich unsichtbar machen wollte. Das Grollen des Berggeistes, der ihn in seiner Hand hielt, ließ ihn zusammenzucken. Er wandte sich ihm zu und sah plötzlich mehrere Berggeister vor sich schweben. Sie hatten riesige schiefe Gesichter aus Stein, dunkle, glühende Augen. Der restliche Körper bestand aus einer Nebelwolke. In dieser Form, so vermutete Bodan, konnten sie sich leichter durch den Krater bewegen, den sie selbst geschaffen hatten.
Unsanft setzte der Berggeist Bodan auf dem Boden ab. In der nächsten Sekunde stieß er ihn mit dem Finger in Richtung des Höhleneingangs. Bodan stolperte darauf zu und blickte sich um. Hinter den Berggeistern erschien ein weiterer. Er schien größer zu sein als die anderen. Er fuhr auf Bodan zu, und seine Hände traten aus der Nebelwolke heraus. Sie waren riesig. Er faltete sie
vor seinem Gesicht und blies seinen Atem hinein, bis sie wie überdimensionale Luftballons aussahen. Dann schwebten die Ballonhände direkt auf Bodan zu. Bodan entfuhr ein Schreckensschrei, doch er konnte sich nicht bewegen. Die Ballonhände hoben ihn in die Luft und umschlossen ihn, ohne ihn zu erdrücken. Vielmehr bildeten sie einen Hohlraum, in dem Bodan stehen konnte. Aber er war darin gefangen.
Der Berggeist, dem diese Hände gehörten, kam mit seinem Gesicht ganz nah an Bodan heran und zischte: »Darin bist du nun gefangen, Spiegelwächter. Deine Mächte funktionieren nur, soweit ich es erlaube. Es sind meine Hände, die dich halten. Sie werden dich zerquetschen, wenn du auch nur eine falsche Bewegung machst. Und komme erst gar nicht auf die Idee, dich unsichtbar zu machen. Meine Finger finden dich trotzdem.«
Die Stimme klang klar und ruhig. Wäre der bedrohliche Unterton und das Grollen der übrigen Berggeister nicht gewesen, hätte sie fast freundlich geklungen.
»Hast du mich verstanden, Spiegelwächter?«, fuhr der Berggeist ihn an.
Bodan nickte schnell und versuchte, dabei unbeeindruckt zu wirken. Sein Herz raste, und er konnte keinen klaren Gedanken fassen. Was ging hier gerade vor und warum konnte er sich nicht wehren? Warum hatte er sich nicht unsichtbar gemacht und war weggelaufen?
»Dann fang an zu arbeiten. Wir wollen an diesen Fluss ran. Lege ihn frei!« Die Hände des Berggeists schoben ihn in die Höhle hinein.
Bodan verstand die Mächte der Berggeister nicht. Wie konnten sich die Hände von dem Geist lösen? Und wie konnte er seine Fähigkeiten kontrollieren oder gar blockieren? Bodan kannte sich mit der Geisterwelt von Eldrid gut aus. Sie war friedfertig und griff die Wesen von Eldrid nicht an. Ähnlich wie die Schneegeister wurden auch die Lichtgeister nicht gern gestört, so dass sie verschiedene Abwehrmechanismen anwandten, um Eindringlinge
zu verjagen. Aber dazu gehörte nicht die Blockade von Mächten. Das war Bodan vollkommen neu.
Noch während Bodan grübelte, schlossen sich die Hände des Berggeistes immer dichter um ihn, und er fing an zu arbeiten.
Nach etlichen Stunden der Arbeit und vielen Metern, die er dem Fluss näher gekommen war, schnaufte Bodan erschöpft auf. Kupferfarbene Schweißperlen überströmten sein Gesicht, sein Bauch wippte von dem schweren Atem, und seine Knie zitterten. Auch Spiegelwächter brauchten eine Pause. Fragend sah sich Bodan um. Die Hände ruhten über ihm, zufrieden, dass er widerstandslos arbeitete. Sie reagierten nicht, als er sich kurz auf den Boden setzte, um sich auszuruhen.
In diesem Moment hörte er aufgeregtes Brummen und Grollen der Berggeister. Unruhe entstand im Berg. Neugierig schob sich Bodan zum Höhleneingang. Die Hände des Berggeists hinderten ihn nicht. Vorsichtig lugte er hinaus und versuchte nach oben zu schauen.
Schlagartig wurde es still. Das Hämmern der Bewohner von Fluar hatte aufgehört. Bodans Herz begann wie wild zu pochen. Was ging da vor?
Am Fuß des Kraters hatten sich die Berggeister versammelt. Der Größte, dessen Hände Bodan in Schach hielten, schwebte vor den anderen. Alle starrten den Krater hinauf. Bodan stellte sich auf die Zehenspitzen, um besser sehen zu können, und dann sah er es auch. Ein Schatten flog den Krater hinunter. Ein Schatten, in einen Umhang gehüllt, mit glühend roten Augen. Bodan presste sich instinktiv mit den Händen an die Höhlenwand. War das etwa Godal?
Der Schatten landete schwerelos auf dem Boden des Kraters und zischte die Berggeister an. Die Berggeister fuhren zurück, nur der Größte blieb stehen und funkelte den Schatten herausfordernd an.
»Was willst du hier?«, brüllte der Berggeist los. Seine Stimme hallte im gesamten Gebirge wider, so dass es erzitterte. »Ich bin Raan, der König der Berggeister, und wer bist du, dass du es wagst, uns zu stören?
«
Der Schatten schob seine Kapuze ein Stück zurück und zischte so laut, dass sich die Wesen von Fluar die Ohren zuhielten und sich zusammenkauerten. Auch Bodans Knie wurden bei dem Geräusch weich.
»Ich bin Godal«, züngelte der Schatten leise. Seine Laute klangen unnatürlich, nicht nach einer Sprache, und dennoch waren sie eindeutig zu verstehen. Sie hallten an den Gesteinswänden wider. »Ich bin der mächtigste Schatten in Eldrid. Ich bin der Schattenkönig.«
Den Wesen von Fluar auf den vielen Ebenen entfuhren Schreie der Angst.
Godal ließ ein grausames Gelächter erklingen. »Ich bin gefürchtet!«, zischte er den König der Berggeister an.
Raan schien das nicht zu beeindrucken. »Was willst du hier?«
»Ihr habt mir zu gehorchen!«, flüsterte Godal leise. »Zamir, der Spiegelwächter, hat euch erweckt, aber mir
habt ihr zu gehorchen!«
Raan blickte ihn verdutzt an. Noch bevor er antworten konnte, fing Godal an zu schnüffeln. Er drehte sich zu dem Höhleneingang um, in dem sich Bodan versteckt hielt. Er schnüffelte erneut und bewegte sich, wie an einem Faden gezogen, auf Bodan zu. Raan grollte, doch Godal reagierte nicht. Sekunden später fixierten Bodan zwei rot glühende Augen. Bodan meinte sogar ein triumphierendes Lächeln in diesem tiefschwarzen Gesicht erkennen zu können.
»Wage es nicht!«, polterte Raan. »Das ist mein Gefangener! Mein Spiegelwächter, rühre ihn nicht an!«
Aber Godal zuckte noch nicht einmal zusammen. Er schnüffelte ein letztes Mal, dann hatte er mit einem Fingerschnippen Bodans Ballongefängnis gesprengt. Raan stieß einen abscheulichen Schrei aus, der ganze Steinbrocken von den Wänden löste und polternd in die Tiefe stürzen ließ. Godal trieb Bodan unbeirrt in den Höhleneingang hinein, bis Bodan über einen Gesteinsbrocken stolperte.
»Was willst du von mir?«, krächzte Bodan. Mehr vermochte
er nicht hervorzubringen. Im selben Moment bemerkte er, dass er wie gelähmt war. Eine schwarze Hand griff ihm an die Kehle, hob ihn hoch, als hätte er kein Gewicht, und fixierte ihn an der Gebirgswand. Wie paralysiert starrte Bodan in Godals Augen. Er hörte, wie Godal etwas murmelte, eine Art von Gesang anstimmte und ihn mit seinen Augen fixierte. Bodans Schatten löste sich sehr langsam von ihm. Es war wie ein Kampf, den Bodan nicht ohne weiteres aufgeben wollte. Aber Godal war stärker.
Schließlich stand Bodans Schatten neben Godal. Er blickte Bodan nicht an, während er sich Godal zuwandte.
Bodan entfuhr ein Entsetzensschrei, aber Godal brüllte auf vor Lachen. Dabei blies er den erstaunten Berggeistern schwarzen Nebel ins Gesicht, so dass diese in einer schwarzen Wolke verschwanden. Godal und Bodans Schatten schwebten ungehindert den Krater hinauf und waren Sekunden später nicht mehr zu sehen.