Neununddreissigstes Kapitel
Ludmillas Entscheidung
Uri durchfuhr ein Schauer. Etwas Entsetzliches war passiert. Bodan! Es war Bodan! Er verlor seine Mächte als Spiegelwächter. Wie konnte das sein? Uri krümmte sich vor Schmerzen auf dem Waldboden. Die Spiegelwächter waren alle miteinander verbunden. Litt einer, litten die anderen mit ihm. Und Bodan war das größte Leid geschehen – er hatte seinen Schatten verloren.
Ludmilla kauerte in einer Ecke der Höhle, starrte auf den Spiegel und wartete. Gelangweilt spielte sie mit dem Anhänger ihrer Kette. Sie war das Warten leid. Sie wollte endlich etwas tun. Aber ständig passierte etwas, was die Lage derartig veränderte, dass Uri jetzt nicht mehr sicher war, ob sie ihre Aufgabe überhaupt erfüllen konnte. Aber nur deshalb war sie hier. Und sie wollte Minas Schatten zurückbringen. Um jeden Preis. Nur, was sollte sie machen, wenn Uri sie zurückschickte? Unverrichteter Dinge nach Hause zu Mina schickte? Ludmilla schüttelte es. Sie wollte sich gar nicht ausmalen, was sie dort erwartete.
»Und was willst du jetzt tun?«, flüsterte Lando ihr ins Ohr, so dass sie zusammenzuckte. Er setzte sich leise neben sie und warf einen Blick auf die schlafende Ada. Ludmilla sah ihn fragend an und hob die Schultern.
»Willst du hier rumsitzen und warten, oder willst du es endlich selbst in die Hand nehmen?« Er blinzelte sie an. Ein kleiner durchsichtiger Funke sprang aus seinen Augen. »Was bringt dir die Warterei? Was bringt es dir, die Entscheidung der Spiegelwächter abzuwarten? Die Lage hier wird nicht besser. Du solltest jetzt handeln!«
Sie richtete sich auf und schob das Kinn nach vorn. »Was willst du damit sagen?«
Lando zuckte mit den Schultern. »Was wohl?«, fragte er belustigt. »Ich denke, du solltest handeln. Auf eigene Faust. Schau dir deinen Schatten an. Er ist mächtig. Und wenn ich sage mächtig, dann meine ich, so mächtig wie Godal.«
Er machte eine eindrucksvolle Pause und sah sie nachdenklich an. Ludmillas Augen verschmälerten sich. Sie mochte das nicht hören. Ihr Schatten. Die Wörter brannten ihr auf der Zunge, und am liebsten wäre sie alles losgeworden, was ihr auf der Seele lag, aber sie hatte das Gefühl, dass Lando noch mehr zu sagen hatte. Also presste sie die Lippen aufeinander und schwieg.
»Du musst lernen, ihn zu kontrollieren, damit er seine Mächte mit dir teilt. Dein Schatten hat bereits alle Mächte, die deine Familie über die Jahrhunderte gesammelt hat. Davon bin ich überzeugt«, fuhr Lando bedacht fort. Seine Stimme war nur noch ein Flüstern, und immer wieder starrte er zu Ada hinüber.
Ludmilla funkelte ihn an. »Wie meinst du das?«
Er lächelte, und seine unterschiedlich farbigen Augen blitzten auf. Er schwieg und sah ihr prüfend ins Gesicht.
»Beantworte mir die Frage bitte ehrlich, Ludmilla.« Seine Stimme klang sehr ernst, und in diesem Moment erkannte sie sein wahres Alter. »Bis auf die Macht, die Uri dir verliehen hat – konntest du noch andere Mächte in dir spüren?«
Ludmilla starrte zu Boden und schwieg kurz. Dann blickte sie ihm in die Augen und nickte langsam. Ihre Stimme war heiser, und sie hatte einen Kloß im Hals. Sie wusste selbst nicht, ob ihr das gefiel, was sie jetzt aussprach. »Da war diese Situation im Sumpf mit den Fröschen. Uri meinte, ich hätte mich nicht so schnell aus der Lähmung befreien können. Es hätte viel länger dauern müssen. Und dann war da noch dieser Angriff von Zamir, bei dem ich Uri geholfen habe.«
»Ich wusste es«, presste er triumphierend hervor. »Warum hat Uri das nicht erzählt? Was genau ist in diesem Sumpf passiert, Ludmilla? Erzähle mir bitte auch, was du dabei gefühlt hast. War es genauso wie bei Zamirs Angriff?«
Ludmilla sah ihn von der Seite an und überlegte kurz. Statt seine Frage zu beantworten, sagte sie: »Er hat Kontakt mit mir aufgenommen. Er will, dass ich zu ihm komme, Lando!« Ihre Stimme war nur noch ein Krächzen, wie das eines Spähers.
Lando zuckte zusammen. »So weit ist es schon?«
Ludmilla nickte und spürte, wie Tränen in ihr aufstiegen. Die sonst so starke Ludmilla hatte plötzlich Angst und fühlte sich überfordert. Verstohlen wischte sie sich über die Augen und schluckte hart.
Lando aber sprang auf. Bei dieser ruckartigen Bewegung zuckte Ludmilla zusammen und schaute zu ihm auf. Seine Füße landeten lautlos auf dem weichen Höhlenboden.
»Weiß das Uri?« Aber er ließ sie nicht zu Wort kommen. »Keine Sekunde darfst du allein bleiben, und wir dürfen keine Zeit mehr verlieren. Wir müssen jetzt handeln. Nicht, dass Uri wieder den Rat einberufen muss, und zum Schluss schicken sie dich doch nach Hause, ohne es wenigstens versucht zu haben.«
Aufmunternd hielt er ihr die Hand hin.
Ludmilla ergriff sie und ließ sich hochziehen. »Aber was hast du vor? Du hast selbst gesagt, dass ihr keine Ahnung habt, wo ihr Godal suchen müsst. Wo sollen wir anfangen? Hast du einen Plan, von dem die anderen nichts wissen?«
Lando sah ihr in die Augen. »Ich habe eine Ahnung, wo sie sich aufhalten. Zamir hat etwas von einem Schattendorf erwähnt. Das müssen wir suchen. Ich bin mir sicher, dass wir dort fündig werden.«
»Davon hast du bisher nichts gesagt. Und wann hat Zamir das erwähnt, hast du mit ihm gesprochen?« Sie wich misstrauisch zurück .
»Natürlich nicht!«, gab er entrüstet zurück. »Als ich ihn beobachtet habe und Godal mit den anderen Schatten kam, da sagte er etwas von einem Schattendorf. Ich wollte mich erst einmal vergewissern, wo dieses Schattendorf ist, bevor ich Uri davon erzähle.«
Ludmilla hob die Augenbrauen. »Mir ist nicht entgangen, dass du die Verfahren der Spiegelwächter nicht schätzt«, sprudelte es aus ihr heraus. »Du brauchst mich also nicht anzulügen. Du hattest nie vor, es Uri zu sagen!«
Landos Lippen umspielten ein spöttisches Lächeln. »Ganz so einfach ist es nicht, Ludmilla. Hier in Eldrid gelten bestimmte Regeln. Unter anderem müssen wir uns dem Willen und den Entscheidungen des Rates unterordnen. Und denen der Spiegelwächter.« Er stockte kurz und betrachtete sie prüfend. »Wenn Uri dir verbietet, durch Eldrid zu reisen, bist du chancenlos. Wenn ich ihm aber zuvorkomme und dich mitnehme, wird er diese Entscheidung vielleicht nicht treffen. Er vertraut mir. Es war nicht mein Plan, Uri das Schattendorf zu verheimlichen. Ich wollte es mir nur zunächst selbst anschauen und sichergehen, dass sich eine Reise dorthin mit einer ganzen Delegation von Wesen auch lohnt. Das ist alles. Wenn du jetzt mit mir gehst und wir deine Aufgabe auf eigene Faust versuchen zu erfüllen, musst du mir vertrauen. Und zwar bedingungslos, Ludmilla!« Lando sah ihr eindringlich in die Augen. »Du musst mir vertrauen, Ludmilla. Anders funktioniert es nicht.«
Ludmilla starrte ihn an. Sie wusste, dass sie ihm vertrauen konnte. Trotz Adas Vortrag. »Vertrauen«, wiederholte sie langsam.
Lando nickte verschwörerisch. »Und als Erstes muss der Magier dir beibringen, deine Mächte zu erwecken. Und du musst lernen, deinen Schatten zu kontrollieren. Dann kann er dir auch nicht gestohlen werden.«
»Das geht?«, platzte es verwundert aus Ludmilla heraus.
Lando lächelte sie breit an. »Es ist eine sehr alte Kunst, die nur wenige Wesen beherrschen, aber ja, es geht. Dein Schatten muss dir gehorchen, und das kannst du ihm beibringen. Dann könnt ihr die Mächte teilen, ohne Gefahr zu laufen, sie zu verlieren. «
»Aber warum lernen nicht alle Wesen von Eldrid diese Kunst?«, fragte sie verständnislos. »Dann wären Zamir und Godal keine Bedrohung mehr, weil keine Schatten gestohlen werden können.«
Landos Lächeln wurde immer breiter. »Weil nicht alle Wesen diese Kunst erlernen können«, erklärte er sanft. »Und es ist keine leichte Kunst. Das Wesen muss über außergewöhnlich viel Macht verfügen, und es bedarf vieler Geduld. Es kann Jahre dauern, diese Kunst richtig zu beherrschen.«
»Jahre!«, rief Ludmilla aus, so dass Lando einen warnenden Blick auf Ada warf. »Aber ich habe keine Jahre Zeit«, flüsterte sie. »Irgendwann muss ich auch wieder zurück in meine Welt.«
Lando sah sie ernst an. Bevor er etwas sagen konnte, sprudelte es aus Ludmilla heraus: »Kannst du es denn?«, fragte sie. »Hast du deinen Schatten an dich gebunden?«
Lando zuckte unmerklich. Statt zu antworten, ergriff er ihre Hand. »Es geht jetzt um dich und deine Aufgabe. Nicht um mich! Bist du dazu bereit? Vertraust du mir?«, fragte er und sah ihr dabei prüfend in die Augen.
Ludmillas Herz pochte wie wild, aber sie wagte es nicht, wegzuschauen. Konnte sie das wirklich tun? Uri verlassen? Auf eigene Faust mit Lando das Schattendorf suchen? Aber hatte sie eine Wahl? Sie wollte etwas erleben. Etwas tun. Nicht nur herumsitzen und warten.
Sie atmete tief durch, bevor sie antwortete: »Also gut, ich komme mit. Ja, Lando, ich vertraue dir. Lass uns auf eigene Faust versuchen, meine Aufgabe zu erfüllen. Nur wir zwei.«
Lando lachte amüsiert auf. »So leichtsinnig bin ich nun auch nicht.« Er grinste. »Der Magier wird uns finden, wenn wir so weit sind, und außerdem wird uns mein guter Freund Eneas begleiten.«
»Eneas?«, brach es ungläubig aus Ludmilla heraus. »Der Unsichtbare?« Sie konnte ihre Abneigung kaum verbergen.
Lando lachte auf. »Natürlich. Eneas, der Unsichtbare. Ein Formwandler und ein Unsichtbarer, eine bessere und machtvollere Begleitung findest du nicht. Lass uns gehen, Ludmilla«, sprach er und zog sie in Richtung Ausgang der Höhle. Mit großen Schritten lief er auf den Wasserfall zu, der in allen Farben leuchtete.