28

Apollo

Apollo hatte noch nie an der Jagd teilgenommen.

Eine fantastische Gelegenheit, sich umbringen zu lassen, hatte sein Vater immer gesagt. Sei da, wenn es losgeht, stoß einen markerschütternden Kampfschrei aus, und mach dann, dass du wegkommst.

Genau das hatte Apollo immer getan. Er hatte sich noch nie aus dem königlichen Lager hinaus und in den Verfluchten Wald gewagt.

Es gab nur eines, was ihn in diesen Wald locken konnte, und das war Evangeline. Sobald das Kind in seinem Zelt erschienen war und ihm erzählt hatte, dass jemand sie hatte umbringen wollen, war Apollo bereit gewesen, in den Wald zu reiten, um sie zu retten.

Dann hatte er begriffen, dass dies die Gelegenheit war, auf die er gewartet hatte. Der Moment, der dafür sorgen würde, dass er sich für immer und ewig um sie kümmern konnte.

»Eure Hoheit«, rief einer der Soldaten. Die Eingangsklappe seines Zelts wurde einen Spalt aufgeschoben, und rasch schob sich der Soldat herein. »Lord und Lady Vale sind hier und wollen Euch sehen.«

»Lasst sie eintreten«, wies Apollo ihn an.

Die Zeltklappe wurde noch weiter aufgeschlagen, und Honora und Wolfric Valor traten ein.

Die Luft wurde still. Die Flammen seiner Feuerschale wurden kleiner, als hätte das Zelt einmal tief Luft geholt und dann den Atem angehalten.

Wolfric hatte sich nicht die Mühe gemacht, einen Mantel überzuziehen. Er trug nur ein altes, schlichtes Hemd, das am Kragen geschnürt wurde, dazu eine dicke schwarze Hose und abgewetzte Lederstiefel. Die Kleidung seiner Frau war ebenso schlicht. Eigentlich hätten sie darin wie Bauern aussehen müssen, und doch haftete ihnen eine Art höhere Autorität an. Bevor Apollos Soldaten die Zeltklappe wieder schlossen, sah er, wie sie das Paar fast ehrfürchtig betrachteten, obwohl sie nicht einmal wussten, wer sie wirklich waren.

»Bitte, setzt Euch.« Apollo deutete auf eine Bank neben einem niedrigen, mit Kerzen übersäten Tisch, während er auf einem Stuhl daneben Platz nahm. Da Apollo vorhatte, mehrere Tage hier zu verbringen, hatte er dafür gesorgt, dass sein Zelt so viele Annehmlichkeiten wie nur möglich aufwies. Kissen, Decken, Sessel – in einer Ecke stand sogar eine Badewanne.

»Danke, dass Ihr gekommen seid. Wie schön, Euch wiederzusehen, Eure Majestäten. Auch wenn ich wünschte, es würde unter besseren Umständen geschehen. Sicher ist Euch bereits zu Ohren gekommen, dass meine Frau vermisst wird.«

»Meine Familie und ich werden helfen, wo wir können«, sagte Wolfric.

»Das freut mich zu hören, denn ich glaube, dass Ihr möglicherweise Zugang zu etwas habt, das ich brauche.«

Apollo zog die Schriftrolle hervor, die Lord Robin Slaughterwood ihm überreicht hatte, und rollte sie vorsichtig auf. Sofort fing der untere Rand Feuer, genau wie immer. Langsam fraßen sich die Flammen Zeile für Zeile weiter hinauf.

Nachdem Lord Slaughterwood ihm die Rolle überreicht hatte, waren acht Versuche nötig gewesen, bis Apollo den Text darauf hatte lesen können, und selbst dann noch war es ihm nie gelungen, bis zu den letzten Zeilen zu kommen – sie verbrannten einfach zu schnell. Doch er hatte genug gelesen, um zu wissen, dass er keine Zeit auf die Suche nach Vengeance Slaughterwoods Armreif hätte verschwenden sollen. Diese Geschichte war es, die er von Anfang an hätte verfolgen müssen.

»Wisst Ihr, was das ist?«, fragte er die Valoren, während die Schriftrolle vor ihren Augen verbrannte.

»Nein«, antwortete Wolfric. »Und Ihr solltet wissen, dass Theatralik nicht meine Sache ist. Wenn Ihr eine Frage habt, dann heraus damit.«

»Hier geht es nicht um Theatralik«, erklärte Apollo entschuldigend. »Das ist nur der Geschichtenfluch.« Er musste sich anstrengen, um nicht herablassend zu klingen. Wenn dies hier funktionieren sollte, dann durfte ihn der alte König nicht als Bedrohung betrachten. »In dieser Schriftrolle geht es um eine längst verschollene Sage über einen Baum, den es nur ein einziges Mal gibt. Den Seelenbaum.«

Apollo hielt lange genug inne, um Wolfrics Miene zu mustern, doch der stoische ehemalige König gab nichts preis. Genauso wenig wie seine Frau, auch wenn sie in der Schriftrolle nicht erwähnt wurde, also wusste sie vielleicht gar nichts darüber.

»Bis zu dem Tag, an dem mir ein Freund diese Schriftrolle übergab, hatte ich nie von diesem Baum gehört. Dieser Beschreibung zufolge sind die Äste des Baums mit Blut gefüllt, und jeder, der klug genug ist, den Baum zu finden, und mutig genug, das Blut zu trinken, wird kein Mensch mehr sein. Sondern ein Unsterblicher.«

»Klingt nach einem Mythos«, kommentierte Wolfric.

»Ihr müsst es schließlich wissen«, sagte Apollo. »Hier steht außerdem, dass Ihr der Einzige seid, der diesen Baum bisher erfolgreich pflanzen konnte.«

»So ist es«, bestätigte Wolfric gelassen. »Was sehr dumm von mir war. Der Seelenbaum ist böse.«

»Manchmal ist das Böse notwendig.«

Für den Bruchteil eines Augenblicks brach die steinerne Miene des ehemaligen Königs endlich auf. Seine Lippen bogen sich. Apollo empfand ein kurzes Aufflackern von Triumph.

Dann erhob sich Wolfric und blickte auf ihn herab, als wäre Apollo nur ein kleines Kind. »So etwas wie das notwendige Böse gibt es nicht. Es gibt nur schlechte Entscheidungen, und ich fürchte, Ihr seid drauf und dran, eine solche Entscheidung zu treffen, mein Junge.«

Es ärgerte Apollo, so bezeichnet zu werden, trotzdem gelang es ihm, seine Stimme im Zaum zu halten, als er erwiderte: »Evangeline ist unschuldig, und Lord Jacks ist ein Unsterblicher mit unsterblichen Freunden. Ich werde niemals in der Lage sein, ihn zu schlagen und meine Frau zu retten, solange ich nur ein Mensch bin.«

Wolfric schnaubte. »Wie ich gehört habe, wurde Eure Frau von Lord Belleflower entführt, nicht von Lord Jacks.«

»Das mag stimmen, aber inzwischen hat Jacks sie, das versichere ich Euch.«

»Dann solltet Ihr nicht noch mehr Zeit in luxuriösen Zelten verschwenden, sondern wie ein echter Anführer dort rausgehen und nach ihr suchen«, warf Honora ein.

Apollo war mehr als nur ein bisschen brüskiert und sogar etwas betroffen. Über Wolfric hatte er sich geärgert, doch Honora beschämte ihn.

»Da hat meine Frau recht«, bekräftigte Wolfric. »Geht und sucht nach Eurer Prinzessin, und wenn Euch Euer Leben lieb ist, dann vergesst den Seelenbaum.«