Evangeline
Evangeline musste nur die Kutschfahrt überstehen.
Nur eine einzige Kutschfahrt.
Die letzte Kutschfahrt.
Sobald sie in Wolf Hall waren, würde sie durch die Geheimgänge entkommen, von denen Apollo ihr vor der Hochzeit erzählt hatte. Auch an die Geheimgänge erinnerte sie sich nun. Sie musste nur warten, bis es dunkel war und das Schloss schlief. Dann würde sie sich davonmachen und versuchen, Jacks zu finden.
Nein, verbesserte sie sich, nicht versuchen. Sie würde Jacks finden. Es war unwichtig, dass sie nicht wusste, wohin er gegangen war und warum er sie verlassen und diesen Glasarmreif um ihr Handgelenk geschlossen hatte.
Evangeline wollte sich den Armreif noch einmal ansehen. Jacks hatte viel auf sich genommen, um ihn ihr umlegen zu können, also musste er wichtig sein. Vermutlich auch magisch. Bisher hatte der Reif allerdings noch nichts Spektakuläres bewirkt. Oder überhaupt irgendetwas.
Sie trug den Reif weiter verborgen unter ihrem Mantel, während die Kutsche auf Wolf Hall zurollte. Nur schienen sie dafür in die falsche Richtung zu fahren.
Sie kannte sich mit der Geografie des Nordens nicht gut aus. Aber sie wusste, dass Wolf Hall im Süden lag, und an der Position der Sonne, die über der grünen Landschaft stand, konnte sie ablesen, dass die Kutsche nun Richtung Westen und ins Unbekannte fuhr.
Sie sah weite grüne Wiesen und Bäume, an denen neue Blätter knospten.
Unwillkürlich krallte sie die Finger in das rote Samtpolster unter ihr, während sie darauf wartete, dass die Straße, die jedoch so gerade wie ein Weizenstängel blieb, wieder Richtung Süden abbog.
Bisher hatte Evangeline versucht, stur aus dem Fenster zu blicken, um Apollo nicht ansehen zu müssen. Sie wusste nicht, wie lange sie seinem Blick standhalten konnte, ohne ihre wahren Gefühle zu verraten. Außerdem wollte sie ihn nicht ansehen. Es war auch so schon schlimm genug, dem Mann, der ihr die Erinnerungen entrissen und ihre Geschichte umgeschrieben hatte, so nah zu sein. Sie wollte ihm nicht ins Gesicht schauen. Trotzdem wandte sie sich irgendwann um.
Er saß ihr direkt gegenüber, hatte die Fingerkuppen aneinandergelegt und das Kinn darauf gestützt und betrachtete sie mit derselben Konzentration, die sie darauf verwendet hatte, seinen Blick zu meiden.
Ein Schauer lief ihr über den Rücken, als sie sich fragte, ob er sie schon die ganze Zeit beobachtet hatte. Als wüsste er, dass sie ihm etwas verheimlichte.
»Ist alles in Ordnung, Liebling? Du kommst mir ein bisschen nervös vor.«
»Ich habe mich nur gefragt, wohin wir fahren. Liegt Wolf Hall nicht im Süden?«
»Doch, das tut es. Wir werden für eine Weile woanders bleiben.«
Eine Weile. Genauso gut hätte er eine Ewigkeit sagen können, so sehr setzte es ihr zu. Sie wusste, wie sie aus Wolf Hall fliehen konnte, aber von einem anderen Ort zu entkommen, konnte sehr viel schwieriger sein.
»Und wo ist dieses Woanders?«
»Genau hier.« Apollo vollführte einen hoheitsvollen Wink zum Fenster, gerade als die Kutsche an einem überfreundlichen Schild vorbeifuhr, das in fröhlich grünen Stoff eingeschlagen war und auf dem stand:
Sobald sie das Schild sah, kollidierten ihre Erinnerungen mit der Realität. Sie erinnerte sich daran, dass sie früher bereits einmal mit Jacks durch dieses Dorf und den angrenzenden Wald gefahren war. Damals war es der Inbegriff von Trostlosigkeit, Hoffnungslosigkeit und Leblosigkeit und vollkommen farblos gewesen. Nun jedoch vibrierte es vor Leben.
Evangeline konnte durch das Kutschfenster den Dorfplatz sehen. Es gab Glasbläser, Schmiede, Männer mit Äxten und Frauen mit Hämmern, die alle unter bunten Wimpeln und Laternen und Bannern arbeiteten, die von den halb wiederaufgebauten Geschäften herabhingen.
Selbst durch die geschlossene Kutschentür konnte sie die Melodie der zwitschernden Vögel, der lachenden Kinder und der schwer arbeitenden Menschen hören.
»Da die Jagd nun vorüber ist«, erklärte Apollo, »richten die Vales ihr Fest aus, um die Menschen dazu zu ermutigen, ihnen beim Wiederaufbau von Merrywood Manor und dem dazugehörigen Dorf zu helfen. Davon haben sie neulich Abend beim Abendessen erzählt. Sie haben jedem, der ihnen hilft, Land, ein Zuhause und Arbeit versprochen. Es ist eine alte Tradition, dass die anderen Großen Häuser ihre Unterstützung dadurch zeigen, dass sie Stände aufbauen und jeden Abend für Tanz und ein Festmahl sorgen.«
Während Apollo sprach, bog die Kutsche vom Dorfplatz ab, und rasch näherten sie sich einem Kreis aus königlichen dunkelroten Zelten. Die Stimmung dort war nicht so fröhlich wie auf dem Dorfplatz. Es gab viel weniger Wimpel und dafür viel mehr Soldaten.
Beim Anblick der vielen Wachen spannte Evangeline sich an. Es waren zu viele, um sie zu zählen. Wie Ameisen, die über ein Picknick krabbelten. Wie sie befürchtet hatte, würde es viel schwerer werden, sich hier unbemerkt davonzuschleichen, aber sie würde eine Möglichkeit finden.
Die Wachen teilten sich und ließen die Kutsche durch, damit sie bis in die Mitte des Kreises aus Zelten fahren konnte, wo die Soldaten mit ihren Waffen übten und Fleisch über dem Lagerfeuer brieten.
»Es sieht eher aus, als würden sich deine Soldaten auf einen Krieg vorbereiten statt auf ein Fest«, kommentierte sie.
»So etwas tun Soldaten eben«, entgegnete Apollo kühl.
Die Kutsche wurde langsamer und hielt vor dem Zeltäquivalent eines Schlosses. Es wies goldene Verzierungen und einen Zeltturm an jeder Seite auf. Von den Zinnen wehten Flaggen mit Apollos königlichem Wappen.
Die Wachen verbeugten sich, als Apollo gefolgt von Evangeline ausstieg. Sofort verschränkte der Prinz die Finger mit ihren, doch es kam ihr vor, als wäre sein Griff fester als sonst.
Sie atmete flach und rief sich in Erinnerung, dass sie einfach nur ihre Rolle spielen und so tun musste, als hätte sich nichts verändert. Solange Apollo keinen Verdacht schöpfte, würde sie fliehen können.
»Prinzessin Evangeline!«, rief eine melodische Stimme, und schon tauchte Aurora Vale auf. Sie schritt elegant durch die Riege der Wachen. Auf ihrem violetten Haar trug sie eine Blumenkrone. Sie war aus Rosenknospen und Ranunkeln und weißen Sternmieren gewunden, und hinter Aurora rieselten Blütenblätter zu Boden.
Evangeline hätte schwören können, dass plötzlich noch mehr Vögel da waren, nur um Aurora ein Liedchen vorzuträllern.
»Ich bin ja so froh, dass Ihr in Sicherheit seid!«, erklärte Aurora zuckersüß. »Ich war in den letzten beiden Tagen so besorgt um Euch. Aber ich wusste, dass Euer Prinz Euch zurückbringen würde, und ich habe Euch dafür sogar extra dies hier gemacht.«
Sie überreichte Evangeline eine Blumenkrone, die zu ihrer passte.
»Danke«, sagte Evangeline, obwohl sie Aurora immer noch nicht traute.
Rasch durchsuchte sie ihr wiedergefundenes Gedächtnis danach, ob sie Aurora möglicherweise von früher kannte. Doch sie fand nur eine Erinnerung aus dem Hollowtal. An ihrem ersten Morgen dort hatte sie direkt neben der Mahlzeitenuhr zwei Namen entdeckt, die ins Holz geschnitzt worden waren:
War dies der Grund dafür, dass sie Aurora Vale nicht mochte? Nur weil sie den gleichen Namen trug wie ein schon lange totes Mädchen, das sich einmal in Jacks verliebt hatte?
»Das Fest beginnt morgen«, plapperte Aurora fröhlich weiter. »Und es wird so viel Spaß machen, Euch dabeizuhaben. Es gibt alle möglichen Stände und Leckereien und lauter hübsche Dinge. Ihr habt doch vor, das Fest zu besuchen, oder? Meine Geschwister wollen alle arbeiten, aber ich bin bei Bauarbeiten nicht zu gebrauchen.«
»Eigentlich glaube ich, der Wiederaufbau könnte wirklich Spaß machen«, antwortete Evangeline.
Apollo lachte.
Ein Laut, bei dem Evangeline eine Gänsehaut bekam. Sie ermahnte sich, keinen Streit mit ihm anzufangen, nichts zu tun, was ihn misstrauisch machen könnte. Trotzdem konnte sie sich ein »Glaubst du, ich könnte bei den Bauarbeiten nicht helfen?« nicht verbeißen.
»Ich glaube nur, dass es andere Dinge gibt, die du besser kannst, Liebling.«
»Was denn zum Beispiel?«, warf Aurora ein. »Ich finde Bauarbeiten grässlich, aber genau deshalb sind wir alle hier, oder? Haltet Ihr Eure Frau für so zerbrechlich, dass sie keinen Hammer schwingen kann, ohne sich zu verletzen?«
Apollo biss die Zähne zusammen. »Ich habe nicht behauptet, dass meine Frau zerbrechlich ist.«
»Dann solltet Ihr sie vielleicht auch nicht so behandeln oder über ihre Wünsche lachen.«
Etwas Dunkles blitzte in Apollos Augen auf.
Die Soldaten um sie herum wurden sehr still. Sogar die Vögel verstummten.
Evangeline öffnete den Mund, um etwas zu sagen – irgendetwas. Aurora hatte keine Ahnung, wie brutal Apollo sein konnte, und weil sie sich gerade so für Evangeline eingesetzt hatte, wollte sie Aurora beschützen. Zu ihrer Überraschung verdrängte Apollo dann jedoch diesen Ausdruck in seinen Augen und neigte den Kopf. »Ihr habt recht, Miss Vale. Ich hätte nicht über meine Frau lachen sollen.«
»Nein, das hättet Ihr nicht«, rügte Aurora.
Es war so seltsam. Gerade eben noch hatte Evangeline Angst um sie gehabt, nun jedoch spürte sie, dass sich das Kräfteverhältnis verschoben hatte.
Apollo sah aus, als hätte er Angst vor Aurora.
Evangeline hätte vielleicht geglaubt, sich das nur eingebildet zu haben, doch als Aurora schließlich ging, nachdem sie verkündet hatte, morgen zusammen mit ihr bei den Bauarbeiten zu helfen, glaubte Evangeline zu sehen, wie sie Apollo einen Zettel zusteckte.
Es war geschehen, als Apollo ihr zum Abschied die Hand geküsst hatte. Für den Bruchteil einer Sekunde hatte Evangeline ein zusammengerolltes Papier gesehen. Dann musste Apollo es vermutlich in seinen Ärmel geschoben haben, denn als sie noch einmal hinsah, war die winzige Papierrolle verschwunden.