Evangeline
Der Bogenschütze war weder ein Engel noch ein Retter. Er war nicht normal, wahrscheinlich sogar gefährlich, und trotzdem schien er Evangelines beste Chance darauf zu sein, ihre Erinnerungen zurückzubekommen.
Ein weiteres Mal betrachtete sie den Dolch, den der Bogenschütze ihr gegeben hatte. Das, woran sie sich erinnerte, brachte sie nicht viel weiter.
Es war eher ein Brotkrümel als eine Erinnerung, aber jeder, der Märchen liebte, wusste, dass man einer Brotkrümelspur immer folgen sollte.
Und Evangeline würde dieser hier folgen, wohin sie auch führte.
Eine einzige Erinnerung konnte man als Zufall abtun.
Doch sie hatte den Bogenschützen nun zweimal gesehen, und zweimal hatte es lebhafte Erinnerungen zurückgebracht und damit auch Hoffnung.
Nachdem sie vor dem Morgengrauen aufgestanden war und die dunkelsten Stunden damit verbracht hatte, gegen den Bogenschützen zu kämpfen, hätte sie eigentlich erschöpft wieder zurück ins Bett kriechen sollen.
Stattdessen war sie beschwingt. Es fühlte sich an, als hätte sie einen kleinen Teil ihres alten Selbst wiedergefunden. Und zwar einen ihrer Lieblingsteile, nämlich den, der es liebte zu hoffen. Sie hatte vergessen, wie die Hoffnung Farben leuchtender und Gefühle wärmer machte. Wie sie die Gedanken von allem Unmöglichen zu allem Möglichen umschwenken ließ.
Ihre Erinnerungen waren nicht für immer verschwunden, sie waren nur verloren, und nun hatte Evangeline guten Grund zu der Hoffnung, sie könnte sie wiederfinden.
Da der Bogenschütze bereits zwei ihrer Erinnerungen wiedererweckt hatte, war es nur folgerichtig, nun anzunehmen, dass sie noch mehr finden würde, wenn sie ihn wiedersah. Und wenn nicht, dann würde sie ihn zumindest dazu bringen, ihr zu erzählen, woher sie einander kannten.
Dieses Mal würde sie allerdings nicht darauf warten, dass er zu ihr kam.
Evangeline würde darum bitten, durch Wolf Hall geführt zu werden – auch durch die Quartiere der Wachen und Soldaten. Sie wusste, dass der Bogenschütze angekündigt hatte, ihr später noch mehr beizubringen, doch sie wollte nicht warten, bis es endlich später war. Sie wollte ihn heute noch wiedersehen.
»Verzeihung, Eure Hoheit«, piepste Martine. »Bevor Ihr geht, wollt Ihr vielleicht einen Blick hierauf werfen. Das wurde abgegeben, während Ihr mit der Gehilfin des Arztes gesprochen habt.« Die Zofe reichte ihr einen cremefarbenen Brief mit Apollos Siegel im Wachs. Rasch erbrach Evangeline das Siegel und las die Nachricht.
Meine süße Evangeline,
es tut mir leid, dass mich meine vielen königlichen Pflichten heute von Dir fernhalten. Würdest Du mir die Ehre erweisen, Dich eine Stunde nach Sonnenuntergang im Säulenhof mit mir zu treffen?
Ich freue mich darauf, Dich dort zu sehen und Dir ein paar ganz besondere Gäste vorzustellen.
Mit all meiner Liebe
Apollo
»Wir sollten sofort anfangen, Euch zurechtzumachen!«, rief Martine und versuchte gar nicht erst zu verbergen, dass sie über Evangelines Schulter mitgelesen hatte.
»Muss ich wirklich schon jetzt anfangen, mich fürs Abendessen umzuziehen?« Es war nicht einmal Mittagszeit, und ihr hätten mindestens noch ein paar Stunden bleiben sollen, um nach dem Bogenschützen zu suchen. »Es ist nur ein Abendessen.«
»Wenn es in einem Schloss stattfindet, ist nichts nur ein Abendessen«, gab Martine zurück. »Wenn ein Prinz von Abendessen spricht, dann meint er damit ein Bankett. Alle werden da sein. Jeder Höfling, jeder Adlige, jedes Große Haus, jeder Wachsoldat …«
»Jeder Wachsoldat?«, fragte Evangeline, und sofort flogen ihre Gedanken zum Bogenschützen.
Wenn er bei dem Abendessen war, musste sie nicht jetzt nach ihm suchen. Und wenn dieses Essen wirklich eine so große Zusammenkunft war, wie Martine andeutete, dann konnte sie sich doch sicher für eine kurze Unterhaltung unter vier Augen davonschleichen.