30

Evangeline

Die Erinnerungen setzten ein wie Regen, langsam fielen sie herab und hüllten Evangeline ein, bis sie schließlich alles andere verschleierten außer dem Bild, wie sie sich selbst diesen Brief geschrieben hatte. Sie hatte in ihren königlichen Gemächern gesessen, so zornig, dass sie am liebsten geweint hätte. Gleichzeitig war ihr Herz gebrochen gewesen. Damals hatte sie dieses Gefühl nicht erkannt, doch die Evangeline von heute begriff sofort, was es war.

Es war derselbe Schmerz, den sie in ihrem Herzen fühlte, seit sie ihr Gedächtnis verloren hatte. Sie hatte erwartet, er würde vergehen, wenn ihre Erinnerungen endlich zurückkehrten, doch der Schmerz schien nur immer stärker zu werden, während aus dem Nieseltröpfeln allmählich ein stetiger Guss wurde.

Sie erinnerte sich an Jacks. Sie erinnerte sich daran, wie sie in seine Kirche gegangen und ihm zum ersten Mal begegnet war. Wie grässlich sie ihn gefunden hatte. Wie sie begriffen hatte, wer er war – der Prinz der Herzen, eine Schicksalsmacht – und dass sie ihn danach immer noch grässlich gefunden hatte.

Jedes Mal, wenn sie Jacks begegnet war, hatte sie ihn noch ein bisschen weniger gemocht. Ständig aß er Äpfel und verhöhnte sie, und sogar wenn er sie rettete, war er dabei unausstehlich. Sie erinnerte sich an die Nacht, in der sie mit LaLas Tränen vergiftet worden war. Wie widerwillig er sie in den Armen gehalten hatte. Sein Körper war starr und angespannt gewesen, als wollte er sie wirklich nicht dort haben, und doch hatte er die Arme so unverrückbar fest um ihre Taille gelegt, als hätte er nicht vor, sie jemals wieder gehen zu lassen.

Auch da hatte sie ihn noch grässlich gefunden, doch während sie diese Nacht nun ein weiteres Mal durchlebte, veränderte sich etwas in ihr. Und es geschah wieder, als sie sich an die folgende Nacht in der Krypta mit ihm erinnerte.

Auf einmal begriff sie, warum sie bei Jacks Anblick an Bisse gedacht hatte.

Es gab noch weitere Erinnerungen, die mit Bissen zu tun hatten – sie hatte die Zähne in seine Haut schlagen wollen, als sie mit Vampirgift infiziert gewesen war, und sie hatte ihn tatsächlich in die Schulter gebissen, als sie furchtbare Schmerzen gelitten hatte – in der Nacht, in der sie Petra getötet hatte.

Das alles brach wie ein rückwärtsrauschender Strom über Evangeline herein. Petra und sie waren beide prophezeite Schlüssel gewesen, die den Valorienbogen öffnen konnten. Evangeline hatte versucht, alle vier Valoriensteine zu finden, um genau das zu tun, und Petra hatte sie umbringen wollen, um sie aufzuhalten.

Evangeline hatte Petra aus Notwehr getötet. Danach hatte Jacks sie blutüberströmt gefunden. Er hatte Evangeline ins Hollowtal gebracht, wo sie sich endlich eingestanden hatte, wie rettungslos verliebt sie in ihn war.

Und das schon seit einer ganzen Weile. Ob dieser letzte Teil eine Erinnerung oder eine plötzliche Erkenntnis war, wusste sie nicht.

Ihre Erinnerungen kamen ihr nicht wie ihre eigene Vergangenheit, sondern eher wie ihre gemeinsame Geschichte vor. Die Geschichte von Evangeline und Jacks. Und es war eine schöne Geschichte, ihre neue Lieblingsgeschichte. Es war furchtbar, dass sie dies alles hatte vergessen können. Dass diese Geschichte verloren gewesen war und dass Apollo versucht hatte, sie umzuschreiben, indem er ihr erzählte, Jacks wäre der Schurke.

Obwohl man fairerweise sagen musste, dass er dies aus Apollos Sicht tatsächlich war: Jacks hatte ihn mit einem Liebeszauber belegt und ihn dann in einen Schwebezustand versetzt. Für den Spiegelfluch und den Fluch des Bogenschützen war Jacks zwar nicht verantwortlich, aber Evangeline fragte sich, ob Apollo das wusste.

Obwohl sie ihr Gedächtnis zurückhatte, gab es immer noch eine Reihe von Dingen, die sie nicht wusste. Sie wusste nicht, was hinter dem Valorienbogen eingesperrt gewesen war.

Dank des Geschichtenfluchs hatte ihr dies niemand sagen können. Allerdings hatte sie aufgehört, sich Gedanken darum zu machen, nachdem sie herausgefunden hatte, dass Jacks den Bogen eigentlich gar nicht öffnen wollte. Er wollte nur die Valoriensteine einsetzen, um die Zeit zurückzudrehen und mit dem Mädchen zusammen zu sein, das sein Herz wieder zum Schlagen gebracht hatte. Donatella.

Sich an diesen Teil zu erinnern, fühlte sich an, als würde sie ihn noch einmal erleben.

Ihr Herz zerbarst, als ihr wieder einfiel, was Jacks gesagt hatte: Ich will jeden Augenblick auslöschen, den wir beide zusammen verbracht haben, jedes Wort, das du zu mir gesagt hast, und jede Berührung, denn wenn ich es nicht tue, dann werde ich dich töten. Genauso, wie ich die Füchsin getötet habe.

Sie hatte versucht, es ihm auszureden. Ich bin nicht diese Füchsin!

Doch Jacks hatte unerschütterlich daran geglaubt, dass es für sie beide kein glückliches Ende geben konnte. Er hatte ihr gesagt, er sei der Bogenschütze.

Und auf einmal wusste sie, dass dies der Grund für den plötzlichen Schmerz in ihrem Herzen gewesen war, als Madame Voss die Ballade vom Bogenschützen und der Füchsin erwähnt hatte. Sie hatte nicht wegen des Namens des Bogenschützen so empfunden, sondern weil dies Jacks Geschichte war und weil Evangeline wusste, wie sie geendet hatte. Sie wusste, dass Jacks die Füchsin getötet hatte und dass er glaubte, er würde eines Tages auch Evangeline töten.

Seine Überzeugung war so felsenfest, dass er vorgehabt hatte, die Zeit zurückzudrehen, um mit einer jungen Frau zusammen zu sein, die er nicht liebte, und um dafür zu sorgen, dass er Evangeline niemals begegnete, womit ihre Erinnerungen und ihre gemeinsame Geschichte spurlos ausgelöscht worden wären.

Sie wusste wieder, wie verletzt und wütend sie gewesen war und wie sie sich nach Öffnen des Valorienbogens mit ihm gestritten hatte. Sie wollte, dass er mit ihr ging, aber er wollte sie stattdessen loslassen. Ich will nur, dass du gehst. Das waren seine Worte gewesen.

Und genau das hatte sie getan. Sie war gegangen.

Doch es war ein kompliziertes Weggehen gewesen. Tief in ihrem Inneren wusste sie, wie viel sie Jacks bedeutete. Sie glaubte, dass er sie wollte. Aber sie wusste auch, dass er sich so sehr davor fürchtete, er würde sie eines Tages töten, dass er sich niemals für sie entscheiden würde. Er glaubte, bereits seine wahre Liebe gefunden zu haben, und das war nicht Evangeline.

Evangeline hatte ihm jedoch niemals gesagt, dass sie ihn liebte. Er hatte Angst, aber sie fürchtete sich genauso. Sie hatte zwar gesagt, sie wünschte, ihre Geschichte könnte ein anderes Ende haben, aber sie hätte aussprechen sollen, dass sie ihn liebte. Liebe war die mächtigste Magie der Welt.

In jener Nacht hatte die Liebe sie jedoch im Stich gelassen. Sie war nicht genug gewesen.

Evangeline liebte Jacks immer noch, und doch hatte sowohl die Evangeline der Vergangenheit als auch die Evangeline von heute das Gefühl, ihn verloren zu haben.

Die Evangeline der Vergangenheit kam sich im Vergleich zu der Evangeline von heute so naiv vor, als sie daran dachte, wie sie zurückgelaufen war, um Jacks zu finden, fest daran glaubend, dass sie ihm einfach nur zu sagen brauchte, dass sie ihn liebte, um alles wieder in Ordnung zu bringen.

Was eindeutig nicht funktioniert hatte.

Trotzdem beneidete die Evangeline von heute ihr früheres Selbst um den mühelosen Glauben an die Hoffnung und die Magie der Liebe.

Hoffen konnte sie immer noch, aber seit jener Nacht fühlte es sich anders an. Nun fragte sie sich, ob dies daran lag, dass sie Jacks in jener Nacht trotz ihres Glaubens und ihrer Hoffnung und ihrer Beharrlichkeit verloren hatte.

Als sie in den Raum mit dem Valorienbogen zurückgekehrt war, um ihm zu sagen, was sie fühlte, war Jacks nicht mehr dort gewesen.

Sie glaubte nicht, dass er die Zeit bereits zurückgedreht hatte, weil sie sich immer noch an ihn erinnern konnte und weil die vier Valoriensteine alle noch da waren.

Jacks allerdings war fort. Nur sein Blut befleckte die Schwingen der Steinengel, die den Valorienbogen bewachten.

Dann war auf einmal Apollo aufgetaucht. Sie hatte geglaubt, er würde sie gehen lassen. Sie hatte ihm immer nur Schmerz zugefügt. Ohne sie war er besser dran, doch er wollte sie nicht aufgeben.

Eigentlich hatte Evangeline nie an Schicksal geglaubt, doch einen Moment lang fiel es ihr auch schwer, an die Liebe zu glauben, als sie endlich begriff, dass es Apollo gewesen war, der ihr die Erinnerungen entrissen hatte.

Er hatte ihr übers Haar gestreichelt und dabei eine Erinnerung nach der anderen gestohlen, während sie versucht hatte, ihn aufzuhalten. Während sie gekämpft und gefleht und geweint hatte.

Doch er hatte nur immer wieder beruhigend »Gleich wird es besser« gesagt.

»Du Bastard!« Evangeline wollte ihn schlagen, ihm wehtun, doch sie brachte nicht mehr fertig, als auf die Matratze einzuboxen, auf der sie endlich aus dem traumhaften Zustand erwacht war, in den ihre Erinnerungen sie gestürzt hatten.

Sie kehrte in die Gegenwart zurück. Zu dem waldgrünen Bett, auf das Jacks sie gelegt hatte.

Nur war da kein Jacks mehr.

Sie fühlte seine Abwesenheit so, wie sie vor dem Verlust ihres Gedächtnisses seine Gegenwart gespürt hatte. Da war eine prickelnde Kühle auf der Haut, die Angst und Kälte in ihr wachrief.

Sie ermahnte sich, nicht in Panik zu verfallen.

Allerdings hatte sie immer noch damit zu kämpfen, ihre Vergangenheit irgendwie mit der Gegenwart in Einklang zu bringen. Sie konnte sich nicht einfach nur daran erinnern, wie Apollo ihr das Gedächtnis gestohlen hatte, sie konnte es fühlen. Nun begriff sie, warum ihr Herz an jenem ersten Abend mit Apollo auf dem Dach Gefahr, Gefahr, Gefahr geschrien hatte. Aber sie hatte nicht auf ihr Herz gehört. Stattdessen hatte sie ihn geküsst.

War das der Grund, warum Jacks sie verlassen hatte? Glaubte er, sie wäre in Apollo verliebt?

Bei dieser Vorstellung wurde ihr so übel, dass sie sich nur mit Mühe vom Bett hochkämpfen konnte. Sie musste Jacks finden. Sie musste ihm erklären, dass sie sich erinnerte. Und sie musste ihm sagen, dass sie ihn liebte.

Wenn sie über sein Verhalten nachdachte, dann schienen die meisten seiner Taten dafür zu sprechen, dass er sie ebenfalls liebte. Er kehrte immer wieder zu ihr zurück, beschützte sie ein ums andere Mal. Doch er verließ sie auch jedes Mal aufs Neue.

Nervös griff sie nach ihrem abgelegten Kleid. Und da sah sie das Ding an ihrem Arm.

Es war ein breiter Glasreif, der sich um ihr Handgelenk schloss. Er fühlte sich kühl an und war kristallklar, und als Evangeline versuchte, ihn abzunehmen, ließ er sich nicht lösen.

Es schien keinen Verschluss zu geben, und er saß zu eng, als dass sie ihn über die Hand hätte abstreifen können. Irgendjemand musste ihn ihr irgendwie ums Handgelenk geschweißt haben.

Was hat Jacks getan?

Denn sie wusste, dass es Jacks gewesen war. Es musste Jacks gewesen sein. Er hatte geplant, sie hierherzubringen und sie mithilfe des Goldstaubs in den Schlaf zu versetzen. Um ihr diesen Armreif umlegen zu können. Aber warum?

Sie musterte das seltsame Glasgebilde. Auf den ersten Blick wirkte es schlicht, doch nun erkannte sie, dass sich ein zartes Kirschblütenmuster darum wand, als würde ein blühender Baum seine Äste ausstrecken.

Sie überlegte, ob sie schon einmal von einem solchen Armreif gehört hatte, doch ihr fiel nichts ein. Und Armreif hin oder her, sie musste hier weg. Sie musste Jacks finden, bevor Apollo sie fand.

Inzwischen wusste Apollo zweifellos, dass sie verschwunden war, und hatte ihr wahrscheinlich seine halbe Armee hinterhergeschickt.

Sie schlüpfte in ihr Kleid. Dann griff sie nach ihrem Mantel, warf ihn sich um die Schultern, versteckte ihr Haar unter der Kapuze und ging auf die Tür zu. Als sie ins Zimmer gekommen war, hatte sie nicht weiter darauf geachtet, da sie mehr mit Jacks Armen beschäftigt gewesen war.

Nun fiel ihr auf, dass es eine ziemlich hübsche Tür war. Sie bildete kein simples Rechteck, sondern lief nach oben dramatisch spitz zu und war in einem leicht verblassten Grün mit schönen goldenen Akzenten gehalten. Auch der Türknauf wäre vermutlich recht hübsch gewesen, nur konnte ihn Evangeline durch das darauf gespritzte Blut nicht richtig erkennen. Dunkelrotes Blut mit Goldfunken darin überzog den Knauf.

Auf einmal war sie wieder in der Nacht, in der sie den Valorienbogen geöffnet und Jacks Blut auf dem Steinbogen entdeckt hatte.

»Nein, nein, nein … Das kann nicht schon wieder passieren.«

Es war fast noch schlimmer, da sich Evangeline nun so deutlich an alles erinnern konnte und wusste, dass dies schon einmal geschehen war. Jacks hatte entschieden, sie fortzustoßen. Er war verschwunden, und sie hatte ihm nie sagen können, dass sie ihn liebte, und die Liebe hatte nicht gewonnen, sondern verloren.

Evangelines Hand zitterte, als sie den blutigen Türknauf drehte. Dann zitterte sie sogar noch heftiger. Vor dem Zimmer war noch mehr Blut auf dem Boden des Gangs.

»Jacks!«, rief sie verzweifelt. »Jacks …«

Dann unterbrach sie sich, als ihr wieder einfiel, dass Jacks ein Flüchtiger war. Sie wollte ihn unbedingt finden, doch sie durfte niemanden darauf aufmerksam machen, dass er sich möglicherweise in der Nähe aufhielt.

Ohne ein weiteres Wort stürmte sie die Treppe hinunter. Nun, da sie nicht mehr nach ihm rief, hörte sie den Regen, der draußen gegen die Mauern trommelte, doch abgesehen davon war es für ein Gasthaus mit einer Schankstube unheimlich still. Erschreckend still. Zu still.

Ihr Schritt von der untersten Treppenstufe hallte wie ein Donnerschlag durch den Raum. Sie wusste, dass etwas passiert war, noch bevor sie die Leichen sah.

Es waren drei. Drei leblose, reglose Gestalten. So viel erkannte sie, bevor sich ihr Sichtfeld verengte und Schwärze von außen hineinkroch, während vor ihren Augen Funken tanzten.

Sie packte das Treppengeländer, um nicht hinzufallen, als ihre Knie einknickten. Ein unhörbarer Laut drang aus ihrer Kehle. Ein Schrei – ein Fluch. Sie wusste nicht, welche Worte aus ihrem Mund kamen oder wie lange sie dort stehen blieb.

Wie betäubt zwang sie sich dazu, nach Lebenszeichen zu suchen. Die Wirtin, der sich Evangeline zuerst näherte, lag so nah neben der Tür, dass es schien, als hätte sie zu fliehen versucht, bevor ihr die Kehle zerfetzt worden war. Die anderen beiden Leichen lagen vor dem Kamin, und für Evangeline sah es aus, als hätten sie die Gefahr nicht kommen sehen.

Alles deutete darauf hin, dass ein wildes Tier sie angegriffen hatte, doch nun, da Evangeline sich wieder erinnerte, wusste sie es besser.

Ein Vampir hatte das hier getan.

Sie musste verschont worden sein, weil Jacks bei ihr gewesen war – aber wo war er jetzt? Warum war da Blut in ihrem Zimmer? Seine Leiche lag nicht bei den anderen, doch in ihrem Kopf wirbelten eine Million Fragen umher, während sie aus dem Gasthaus stolperte. War er verletzt? Tot? War er gebissen worden?

Evangeline schwor, dass sie zurückkehren und die Toten mit Laken und Tüchern bedecken würde, aber zuerst musste sie unbedingt Jacks finden.

Draußen regnete es noch immer unablässig. Sie konnte kaum mehr als ein paar Schritte weit sehen, doch sie glaubte zu hören, wie sich jemand auf dem Weg vor ihr näherte.

Dann das vertraute Krächzen eines Vogels. Sofort erstarrte sie.

Einen Moment später bewegte sich eine Gestalt durch den Regen auf sie zu. Eine Gestalt, die ganz eindeutig nicht Jacks war.

Garrick von der Gilde der Helden war mit Mantel und Kapuze beinahe vollständig verhüllt, dennoch erkannte sie ihn an dem schrecklichen Vogel, der auf seiner Schulter hockte.

Sie wollte zurückweichen, zum Gasthaus eilen. Doch der Weg war schlammig, und ihr Fuß rutschte weg.

»Schon gut, Prinzessin. Ich bin nicht hier, um Euch wehzutun.« Garrick packte sie am Arm, als wollte er sie stützen. »Sondern um Euch zu retten.«

»Ich muss nicht gerettet werden.« Sie versuchte, ihn abzuschütteln, doch Garrick hielt sie so erbarmungslos fest, als wäre es ihm gleichgültig, ob er ihr damit Schmerzen zufügte. Seine Finger drückten so fest zu, dass sie Blutergüsse hinterlassen würden. »Lasst mich los!«

»Ihr seid vollkommen durchnässt«, brummte er. »Ihr müsst wieder hinein.«

Evangeline machte einen Schritt, doch dann fiel ihr wieder ein, dass sie nicht einfach nur Evangeline Fox war, sondern Prinzessin Evangeline Fox. »Lasst mich sofort los«, verlangte sie. »Ich befehle es Euch.«

Der Held fluchte leise, und Evangeline meinte, die Worte nutzlose Herrscherfamilie herauszuhören. »Tut mir leid, Prinzessin, aber Ihr kommt mit mir und meinen Männern.«

Auf sein Fingerschnippen hin traten weitere Gestalten durch den Regenvorhang auf sie zu. Es war mindestens ein halbes Dutzend Männer, und sie alle waren ebenso kapuzenverhüllt wie Garrick, trotzdem erkannte Evangeline sofort, dass sie allesamt viel größer waren als sie.

Sie konnte sich nicht freikämpfen. Aber vielleicht konnte sie diese Helden dazu überreden, sie gehen zu lassen.

»Ihr versteht das nicht.« Sie stemmte die Fersen in den schlammigen Boden. »In diesem Gasthaus ist es gefährlich. Geht rein und überzeugt Euch selbst davon, aber bitte nehmt mich nicht mit. Ich kann nicht wieder da rein.«

»Keine Angst«, versicherte Garrick ihr. »Es gibt keinen sichereren Ort als bei uns.«

»Warum kommt es mir dann so vor, als wäre ich Eure Gefangene?«, protestierte sie.

Garrick seufzte unter seiner Kapuze. »Also schön, Ihr seid eine Gefangene. Was aber nicht heißt, dass wir Euch nicht beschützen.«

Evangeline protestierte weiter, doch Garrick schob sie mühelos ins Gasthaus, und hinter ihnen trat seine Heldenbande ein.

Es stank widerlich, und der metallische Gestank von Blut hing schwer in der Luft.

Die Wirtin lag starr in derselben Pose auf dem Boden, in der Evangeline sie gefunden hatte.

Garricks Finger gruben sich ein wenig fester in ihren Arm. Das einzige Anzeichen dafür, dass der Anblick der Leichen ihm zusetzte.

Er schlug die Kapuze zurück. Zum ersten Mal sah sie ihn unverhüllt. Sein Gesicht war auf raue Art gut aussehend und wirkte vollkommen gefühllos.

Dann begann er, Befehle zu bellen: »Leif, Raven, Thomas – ihr drei geht nach oben und seht in den Zimmern nach. Findet heraus, wie viele noch tot sind.«

Die Männer stürmten die Treppe hinauf und brachten das Holz damit zum Beben, während sich Garrick wieder an Evangeline wandte. »Habt Ihr gesehen, wer das getan hat, Hoheit?«

»Wenn Ihr wollt, dass ich Eure Fragen beantwortete, dann lasst mich los.«

»Wir brauchen sie nicht. Das muss Lord Jacks gewesen sein«, mischte sich einer von Garricks verbliebenen Männern ein.

»Nein«, gab Evangeline schnell zurück und warf dem Mann einen wütenden Blick zu. »Das hier war nicht Jacks.«

»Meine Frau steht ganz eindeutig unter Schock«, erklang eine Stimme, die Evangeline eine Gänsehaut über die Arme jagte.

Apollo war hier. Sie konnte hören, wie er neben sie trat. Dann fühlte sie seine Berührung an ihrer Taille.

Evangeline fuhr herum und schlug ihn hart ins Gesicht. Der peitschende Knall, mit dem ihre Hand auf seine Wange traf, hallte laut und befriedigend durch das Gasthaus.

Du widerlicher, aufgeblasener, feiger Wurm von einem Prinzen, dachte sie, während sie zusah, wie seine Haut flammend rot anlief.

Sie sagte ihm nicht, dass sie wusste, was er getan hatte. Sie sagte ihm nicht, dass sie wusste, was er wirklich war, und sie sagte ihm auch nicht, dass sie niemals ihm gehören würde. Sie wollte es tun. Aber so dumm war sie nicht. Nicht wenn Apollo von seinen Soldaten und Helden umringt war, die sie mit Leichtigkeit überwältigen konnten, wenn sie sich ernstlich mit dem Prinzen anlegte.

»Oh, Apollo!«, rief sie stattdessen. »Du hast mich erschreckt.«

Der Prinz rieb sich die Wange. »Ich wusste nicht, dass du so hart zuschlagen kannst, Liebling.« Es klang neckend, doch sie glaubte zu sehen, dass seine Augen schmaler wurden. Er konnte nicht wissen, dass sie ihr Gedächtnis zurückhatte.

Und Evangeline begriff, dass er es auch niemals erfahren durfte.

Sie musste weiter so tun, als wäre alles in Ordnung, und nicht nur wegen seiner Wachen und gedungenen Helden. Wenn er herausfand, dass sie ihre Erinnerungen zurückgewonnen hatte, dann würde er sie ihr nur wieder wegnehmen. Nun begriff sie, warum er befohlen hatte, dass jeden Tag Ärzte nach ihr sehen sollten. Um dafür zu sorgen, dass er ihre Vergangenheit sofort wieder auslöschen konnte, falls Evangeline sich jemals erinnern sollte.

Er war abscheulich. Das hatte sie natürlich schon vorher gewusst, doch das wahre Ausmaß seines Verrats traf sie immer härter. Sie wollte ihn abermals schlagen, ihn beschimpfen, schreien und wüten, wüten, wüten, aber sie musste vorsichtiger sein.

Und zwar sofort.

Sie versuchte, sich klein zu machen. Nach Apollos Auftauchen hatte Garrick sie endlich losgelassen. Sie schlang sich die Arme um die Brust und senkte den Kopf, als wäre sie erschüttert und eingeschüchtert, was sie eigentlich auch sein sollte, aber es war schwer, durch den pulsierenden Zorn in ihr überhaupt irgendetwas zu fühlen.

Und noch schwerer war es, ihre Stimme verzagt klingen zu lassen, als sie sagte: »Ich wusste auch nicht, dass ich so hart zuschlagen kann. Es ist einfach alles so schrecklich. Die Leichen, das Blut. Und hast du gewusst, dass Lord Belleflower erst Hale ermordet und dann versucht hat, auch mich zu töten?«

»Davon habe ich gehört.«

Apollo legte die Arme um sie, aber seine Umarmung fühlte sich zu eng an. Erstickend eng. »Schon gut, jetzt bin ich ja hier.«

Spiel mit, ermahnte sich Evangeline. Spiel einfach mit. Sie musste seine Umarmung erwidern und so tun, als wäre sie erleichtert, aber sie war nicht sicher, ob sie das konnte. Es war schon schwer genug, einfach normal weiterzuatmen, während er sich so eng an sie presste.

Endlich löste er sich von ihr, ließ sie jedoch nicht los. Er legte ihr einen schweren Arm um die Schultern und zog sie an sich. Sie fragte sich, ob er wohl spürte, wie gern sie fliehen wollte. Sie versuchte, sich zu entspannen, was seine nächsten Worte jedoch unmöglich machten.

»Ich bringe Evangeline von hier weg«, sagte er zu Garrick. »Ihr müsst Jacks finden, bevor er weiter mordet.«

»Das hier war nicht Jacks«, protestierte Evangeline.

Apollo spannte sich an, als sie Jacks Namen aussprach. Sie fühlte, wie sich sein Arm fester um sie schloss.

Trotzdem weigerte sie sich, ihre Worte zurückzunehmen. Sie konnte so tun, als hätte sie immer noch keine Erinnerungen, und sie konnte eine Umarmung ertragen, doch sie würde nicht zulassen, dass er Jacks für Morde verantwortlich machte, die er nicht begangen hatte. Nicht noch einmal. Und nicht, während dort draußen der wahre Mörder frei herumlief. »Das hier ist das Werk eines Vampirs.«

Apollo warf ihr einen raschen, beunruhigenden Blick zu, der zu fragen schien: Was weißt du von Vampiren? Dann lachte er auf. Es war ein leises Lachen, trotzdem wurden ihre Wangen heiß, als er sagte: »Meine Frau ist nach allem, was sie durchgemacht hat, eindeutig verwirrt.«

»Ich bin bei absolut klarem Verstand«, entgegnete sie ruhig. »Ich habe im Verfluchten Wald einen Vampir gesehen.«

Das stimmte. In dem Moment hatte sie es nicht begriffen, aber nun, da sie ihr Gedächtnis zurückhatte, fügten sich immer mehr Teile ineinander. Der schöne Fremde aus dem Verfluchten Wald war Chaos. Was er ihr bei ihrer Begegnung auch gesagt hatte, doch Evangeline hatte sich nicht an ihn erinnert, weshalb sie nicht begriffen hatte, dass er ein Vampir war, und bis vor Kurzem hatte er außerdem einen Helm getragen, der ihn davon abgehalten hatte, Blut zu trinken.

Nun verstand sie, warum Jacks ihn sofort ausgeschaltet hatte. Er hatte sie beschützt. Er beschützte sie immer.

Und nun musste sie ihn beschützen.

»Ich weiß, dass es verrückt klingt«, fuhr sie fort. »Aber ich weiß, was ich gesehen habe. Es war ein Vampir, und er hat ganz anders ausgesehen als Lord Jacks.«

Sie sprach seinen Namen ein weiteres Mal aus, nur um Apollo zurückzucken zu sehen. Was er dieses Mal jedoch nicht tat. Seine Lippen dehnten sich langsam zu einem Lächeln, bei dessen Anblick Evangeline am liebsten eine Maske aufgesetzt hätte. »Na gut, Liebling, ich glaube dir.«

»Wirklich?«

»Natürlich. Ich war nur überrascht. Es kommt nicht oft vor, dass jemand von Vampiren spricht, also vergib mir mein anfängliches Misstrauen.«

Apollo rieb ihr die Schulter und richtete den Blick wieder auf Garrick. »Eure höchste Priorität gilt immer noch Lord Jacks. Tragt Euren Männern jedoch auf, dass sie auch nach Lucien suchen sollen, dem Hochstapler und Thronräuber. Warnt sie davor, dass er ein Vampir ist und sich offenbar im Blutrausch befindet.«

Evangeline musste sich sehr zusammenreißen, um nicht zu reagieren. Sie achtete sorgsam darauf, eine vollkommen ausdruckslose Miene aufzusetzen, unschuldig und genau so, wie sie vermutlich aussehen sollte, zu erscheinen. Wie ein Mädchen ohne Gedächtnis, nicht wie ein Mädchen, das gerade gehört hatte, wie ihr verlogener, betrügerischer Ehemann ihre erste Liebe des Mordes bezichtigte.

»Dieser Hochstapler«, sagte sie leise in der Hoffnung, einfach nur neugierig zu klingen. »Wie sieht er aus? Ich habe gehört, er soll jung und sehr schön sein.«

Bei dem Wort »schön« verfinsterte sich Apollos Miene, doch Evangeline tat so, als würde sie es nicht bemerken. »Meine Zofen haben alle darüber gesprochen, wie umwerfend gut er aussieht. Aber der Vampir, der das hier getan hat – der, den ich im Wald gesehen habe« – sie erschauderte – »dieser Vampir war alt und abscheulich.« Sie verspürte einen kurzen schuldbewussten Stich bei dieser Lüge, aber sie wusste, wenn sie versuchte, Chaos zu beschreiben, dann würde es Apollo vermutlich wieder so hinstellen, dass die Beschreibung dennoch auf Luc passte, da beide Vampire jung, dunkelhaarig und schön waren.

»Evangeline, meine Liebe«, sagte Apollo. »Vampire sehen anders aus, wenn sie trinken. Ich weiß, dass du den Vampir, der das hier getan hat, für ein altes Monster hältst, aber Vampire sind ziemlich selten. Wenn du tatsächlich einen gesehen hast, dann muss es der Hochstapler gewesen sein. Außer du bist dir doch nicht sicher, dass es wirklich ein Vampir war?«

Bastard. Mörder. Ungeheuer.

Ich hasse dich, wollte sie erwidern. Wenn sie Apollo nun jedoch zeigte, was sie empfand, dann würde sie damit weder Luc noch Jacks helfen. Stattdessen sagte sie das Einzige, was sie über die Lippen brachte: »Ich bin mir sicher, dass es ein Vampir war.« Und sie hoffte verzweifelt, dass Luc irgendwo weit fort in Sicherheit war.