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Apollo

Der verstorbene König Roland Titus Acadian hatte immer eine Abneigung gegen das Wort »nett« gehegt. Nett war etwas für Dienstboten, Bauern und andere Leute, denen es an Persönlichkeit mangelte. Ein Prinz sollte klug, eindrucksvoll, weise, gerissen, sogar grausam sein, wenn es sein musste – aber niemals nett.

König Roland hatte oft zu seinem Sohn Apollo gesagt: »Wenn du nett bist, dann bedeutet das, dass es für alles andere nicht reicht. Die Leute sind nett, wenn es sein muss, aber als Prinz musst du mehr sein.«

Als er noch ein Junge gewesen war, hatte Apollo diesen Ratschlag als Freibrief betrachtet, um rücksichtslos mit dem Leben anderer umzugehen. Er war nicht grausam, aber genauso wenig verfügte er über die anderen Werte, die sein Vater aufgezählt hatte. Apollo hatte immer geglaubt, ihm würde noch genug Zeit bleiben, um klug, eindrucksvoll, weise oder gerissen zu werden. Nie war ihm in den Sinn gekommen, dass er in der Zwischenzeit etwas ganz anderes werden würde.

Sobald Apollo aus dem Schwebezustand erwacht war, in den ihn sein früherer Freund Lord Jacks versetzt hatte, war ihm die erschreckende Wahrheit bewusst geworden. Nachdem er herausgefunden hatte, dass ihn der gesamte Fantastische Norden für tot hielt, hatte Apollo erwartet, Monumente aus Blumen und Bastionen von Trauernden vorzufinden, die immer noch um ihn weinten, obwohl die offizielle Trauerzeit verstrichen war.

Stattdessen hatte er feststellen müssen, dass sein Königreich bereits über ihn hinweggekommen war. Nach nur zwei Wochen war er zu einer Fußnote verkommen, in Erinnerung behalten durch ein einziges, unscheinbares Wort in einem Skandalblatt.

Während er unter dem Fluch des Bogenschützen gestanden hatte, war er auf diese bestimmte Ausgabe des Skandalblatts gestoßen, die am Tag nach dem angeblichen Mord an ihm veröffentlicht worden war. In der Zeitung hatte nur gestanden, dass er gestorben war. Nur ein Wort – geliebt – war verwendet worden, um ihn zu beschreiben, mehr nicht. In der Zeitung hatte nichts über seine großen Taten oder seine Tapferkeitsbeweise gestanden. Wie auch, wenn er sein ganzes Leben hauptsächlich damit verbracht hatte, für Porträts Modell zu sitzen?

Nun konnte Apollo den Anblick dieser Bilder kaum noch ertragen, während er Wolf Hall durchquerte, unterwegs zu seinem Treffen mit Mr Kristof Knightlinger vom »Gerücht des Tages«.

Dies war seine zweite Chance darauf, endlich mehr aus sich zu machen, so wie sein Vater es gewollt hatte. Nach seiner schockierenden Rückkehr von den Toten gestern war Apollo aufgefallen, dass die Menschen ihn anders ansahen. Stimmen wurden noch gedämpfter, Köpfe rascher gesenkt, und die Augen waren voller Bewunderung, als wäre er nicht mehr nur ein Sterblicher.

Dabei hatte er sich nie menschlicher, verletzlicher oder elender gefühlt.

Es war alles eine Lüge. Er war nie von den Toten zurückgekehrt. Er war nur verflucht worden, und das wieder und wieder. Nun, zum ersten Mal seit fast drei Monaten, stand er nicht mehr unter einem Zauber, und dennoch kam er sich verflucht vor wegen dem, was er Evangeline angetan hatte.

Apollo hatte geglaubt, er würde nicht mehr so oft an sie denken müssen, wenn der Fluch des Bogenschützen erst einmal von ihm genommen wäre. Der Fluch hatte ihn dazu gezwungen, sie zu jagen. Unter seinem Einfluss hatte er in jeder Sekunde nur an sie gedacht. In jedem Moment hatte er sich gefragt, wo sie war und was sie tat. Unablässig hatte er ihr engelsgleiches Gesicht vor sich gesehen. Er wollte nichts anderes mehr als sie – und sobald er sie gefunden hatte, wollte er sie nur noch vernichten.

Nun wollte er sie noch immer, aber auf eine andere Art. Wenn er sie sah, wollte er sie nicht töten. Er wollte sie beschützen. Dafür sorgen, dass sie sicher war.

Deshalb hatte er ihre Erinnerungen ausgelöscht.

Er wusste, dass es so am besten war. Jacks hatte sie hereingelegt, genau wie er Apollo vorgegaukelt hatte, er wäre sein Freund. Wenn Evangeline ein weiteres Mal Jacks Willen erlag, würde er sie zerstören. Apollo dagegen würde sie glücklich machen. Er würde dafür sorgen, dass eine geliebte und verehrte Königin aus ihr wurde. Er würde alles, was er ihr in der Vergangenheit angetan hatte, mehr als wiedergutmachen, solange sie es nur niemals herausfand.

Sollte sie jemals dahinterkommen, dass er es gewesen war, der ihr die Erinnerungen genommen hatte, dann würde alles zusammenbrechen.

Nur eine andere Person wusste, was Apollo getan hatte. Wenn dieser Tag nach Plan verlief, würde er sich wegen dieser Person jedoch keine Sorgen machen müssen. Und was die Suche nach Jacks anging, hoffte Apollo, dass ihm das Gespräch an diesem Morgen dabei helfen würde.

Endlich erreichte er das kleine Turmzimmer, in dem das Treffen stattfinden sollte. Normalerweise bevorzugte er einen großzügigeren Hintergrund: gewaltige Säle mit viel Licht und Fenstern und Dekorationen, die es unmöglich machten, zu vergessen, dass Apollo ein Prinz war. Heute jedoch hatte er sich für ein schmuckloses Turmzimmer entschieden, um sicherzustellen, dass niemand die Unterhaltung, die er dort führen würde, mithörte.

Kristof Knightlinger erhob und verbeugte sich, sobald Apollo den Raum betrat. »Schön, Euch lebendig zu sehen, Eure Hoheit. Ihr seht blendend aus.«

»Und meine Rückkehr ist sicher auch hilfreich, was die Verkaufszahlen der Zeitung betrifft«, gab der Prinz zurück. Vielleicht war er immer noch ein wenig verbittert über den Mangel an Dramatik, der ihm in den Artikeln nach seinem Tod zuteilgeworden war.

Was dem Reporter natürlich nicht aufzufallen schien.

Kristof lächelte enthusiastisch. Er schien immer gute Laune zu haben. Seine Zähne waren ebenso strahlend weiß wie das Spitzenjabot an seiner Kehle. »Da wird dieses Gespräch durchaus auch hilfreich sein. Danke, dass Ihr Euch heute Morgen die Zeit dafür nehmt. Ich weiß, dass meine Leser viele Fragen darüber haben, wie Ihr von den Toten zurückkehren konntet, wie es ist, tot zu sein, und ob Ihr uns Lebende sehen konntet.«

»Ich werde heute keine dieser Fragen beantworten«, gab Apollo brüsk zurück.

Das Lächeln des Reporters verblasste.

»Ich möchte, dass sich Euer Artikel auf die unehrenhaften Taten von Lord Jacks konzentriert und darauf, wie wichtig es ist, dass er umgehend gefangen genommen wird.«

»Eure Hoheit, ich bin nicht sicher, ob Euch bewusst ist, dass ich seine Missetaten bereits in der Ausgabe des heutigen Morgens erwähnt habe.«

»Dann erwähnt sie noch mal, und lasst sie dieses Mal noch hässlicher erscheinen. Bis dieser Verbrecher gefasst wurde, will ich, dass täglich über seine Taten berichtet wird. Ich will, dass sein Name zum Synonym für Bosheit wird. Hier geht es nicht nur um mich, sondern auch um Prinzessin Evangeline und den ganzen Fantastischen Norden. Sobald er gefasst wurde, können wir uns noch einmal unterhalten, und ich werde all Eure Fragen beantworten, aber bis dahin verlange ich, dass gedruckt wird, was ich sage.«

»Natürlich, Eure Hoheit«, gab Kristof Knightlinger mit einem freundlichen Lächeln zurück.

Doch es war nicht mehr das gleiche Lächeln wie gerade eben noch. Dies hier war nicht seine übliche gute Laune. Dies war ein nettes Lächeln, das nur deshalb zustande kam, weil Apollo ein Prinz war und weil Kristof nichts anderes übrig blieb, als zu lächeln.

So etwas wie ein schlechtes Gewissen regte sich in Apollo bei diesem Anblick, und einen Moment lang dachte er darüber nach, seine Forderung abzumildern. Dann rief er sich in Erinnerung, was sein Vater davon gehalten hatte, wenn man nett war.

Nach seinem Treffen mit Kristof wollte Apollo nach Evangeline sehen. Selbstverständlich informierten ihn die Dienstboten regelmäßig über ihren Zustand, und bisher hatte man ihm mitgeteilt, dass sie gesund und zufrieden und immer noch erinnerungslos war.

Apollo hoffte, dass sie es nach seiner Warnung in der vergangenen Nacht aufgegeben hatte, ihren Erinnerungen nachzujagen, aber die Evangeline, die er kannte, gab nicht so leicht auf. Sie hatte einen Weg gefunden, ihn vom Fluch des Bogenschützen zu befreien, und er konnte sich durchaus vorstellen, dass es ihr auch gelingen würde, ihre verlorenen Erinnerungen wiederzufinden, falls sie jemals die Chance dazu bekam. Weshalb Apollo nicht vorhatte, ihr diese Chance zu geben.

Er hatte bereits Vorkehrungen getroffen, damit sie an diesem Morgen beschäftigt blieb. Es wäre ihm lieber gewesen, wenn er selbst ihre Zeit für sich beanspruchen könnte, aber dazu würde es später noch genug Gelegenheit geben.

Zuerst gab es eine andere Sache, um die er sich kümmern musste.

Der Rat der Großen Häuser.

Gestern schon hatte er sich mit einigen Mitgliedern getroffen, um zu beweisen, dass er kein Hochstapler, sondern wirklich von den Toten zurückgekehrt war. Danach hatte es eine lange Diskussion darüber gegeben, wie man mit dem tatsächlichen Hochstapler verfahren sollte, der versucht hatte, ihm seinen Thron zu stehlen. Was sich jedoch als vollkommen überflüssig erwiesen hatte, da dieser Welpe anscheinend irgendwann im Laufe der Unterredung die Flucht ergriffen hatte.

Offenbar war er von ein paar verliebten Bediensteten gewarnt worden.

Apollo hatte ihm einige seiner Soldaten hinterhergeschickt, doch im Augenblick hatte er andere Prioritäten als den Hochstapler.

Als er sich der Tür näherte, die zu dem Raum führte, in dem die Ratsversammlung abgehalten werden sollte, verlangsamte Apollo seine Schritte. Das Zimmer auf der anderen Seite hatte ihn schon immer an einen gewaltigen Zinnkelch erinnert. Die Wände waren leicht abgerundet, und die Luft flirrte fast silbern, was allem eine gewisse metallische, fast schwertartige Schärfe verlieh. In der Mitte des Raums stand ein uralter weißer Eichentisch, der sich angeblich schon seit den Tagen von Wolfric Valor, dem ersten König des Fantastischen Nordens, hier befand, ein rauer Mann aus einer anderen Zeit, der nun am gegenüberliegenden Ende des Tisches saß.

Sobald Apollo eintrat, verstummten sämtliche Gespräche. Aus der Szenerie war jedoch ersichtlich, dass sich die Unterhaltungen bis zu diesem Moment ausschließlich um das neueste Mitglied des Rats gedreht hatten: besagten Wolfric Valor. Obwohl nur Apollo wusste, wer er wirklich war. Niemand sonst aus dem Rat ahnte, dass Wolfric bis gestern zusammen mit seiner ganzen Familie in den Valorien gefangen gewesen war.

Wolfric nannte sich nun Lord Vale. Trotzdem schienen sich die Männer und Frauen im Raum allesamt ihm zuzuneigen. Was gut war – es erleichterte Apollos Aufgabe. Dennoch war es auch ein wenig irritierend zu sehen, wie der Rat auf den legendären ersten König des Nordens reagierte, obwohl niemand wusste, wer er war.

»Da ist er ja, zurückgekehrt von den Toten!«, donnerte Wolfric, und sein darauffolgendes Klatschen breitete sich wie ein Feuer im Raum aus, bis sämtliche Ratsmitglieder aufgestanden waren und Prinz Apollo applaudierten, der an den Eichentisch trat.

Wolfric zwinkerte ihm zu. Wir sind Verbündete, sagte diese Geste. Wir stecken zusammen hier drin. Freunde.

Doch Apollos Erinnerungen daran, wie sein letzter Freund ihn betrogen hatte, waren noch zu frisch. Falls sich Wolfric entschließen sollte, dasselbe zu tun, hätte Apollo ihm und seiner mächtigen Familie nichts entgegenzusetzen. Apollo konnte nicht mehr tun, als zu seinem Wort zu stehen und zu hoffen, dass Wolfric dasselbe tat.

»Wie ich sehe, habt ihr unser neuestes Ratsmitglied bereits kennengelernt«, sagte Apollo und formulierte dies mit voller Absicht wie eine Aussage, nicht wie eine Frage.

Obwohl Apollo noch kein gekrönter König war, besaß er doch mehr Macht als der Rat. Im Fantastischen Norden konnte ein Prinz erst König werden, nachdem er geheiratet hatte. Dieses Gesetz war genau wie seine bevorstehende Krönung jedoch hauptsächlich Theater. Königliche Ereignisse wie Krönungen oder die Nimmer Endende Nacht sorgten dafür, dass ein Prinz seinem Volk ans Herz wuchs. Sie sorgten für Hoffnung und Liebe im Königreich.

Dessen ungeachtet war der Rat der Großen Häuser durchaus nicht machtlos. Die Ratsmitglieder konnten zwar nicht verhindern, dass Apollo ein neues Großes Haus ernannte, aber sie konnten Widerstand leisten und dabei auch gleich gefährliche Wahrheiten zutage fördern. Apollo wollte nicht riskieren, dass irgendjemand von diesen Wahrheiten erfuhr.

Wenn es nach ihm ging, sollte sein Königreich auf keinen Fall erfahren, dass die legendären Valoren von den Toten zurückgekehrt waren und sich nun Haus Vale nannten.

Er selbst hatte nur ein paar Wochen lang nicht unter den Lebenden geweilt, doch die Valoren waren jahrhundertelang für tot gehalten worden.

Apollo kämpfte immer noch mit der Tatsache, dass die Sagen über die Valorien der Wahrheit entsprachen und dass die Valoren darin eingeschlossen gewesen waren. Er wollte sich nicht einmal vorstellen, welchen Wirbel es im Königreich geben würde, sollte jemals jemand dahinterkommen. Genauso unerträglich fand er die Vorstellung, welche Fragen Evangeline wohl stellen mochte, wenn sie herausfand, dass sie selbst es gewesen war, die den Valorienbogen geöffnet hatte.

Offenbar hatte sein Bruder Tiberius die ganze Zeit recht gehabt, was sie anging.

Apollo konnte nur hoffen, dass Tiberius sich in dem Punkt irrte, was nach der Öffnung des Bogens geschehen würde.

»Lord Vale und seine Familie waren für mich da, als ich von den Toten zurückgekehrt bin«, erklärte Apollo glatt, da dies immerhin ein Teil der Wahrheit war. Wolfrics Frau Honora Valor hatte ihn vom Fluch des Bogenschützen und vom Spiegelfluch befreit. Er fühlte sich ihr tatsächlich tief verpflichtet, was es ihm leicht machte, voller Ernst fortzufahren. »Ohne diese Familie stünde ich heute vielleicht nicht hier. Zur Belohnung habe ich beschlossen, sie zu einem Großen Haus zu ernennen und ihnen Ländereien zu geben, auf denen sie sich um andere kümmern können, genauso wie sie sich um mich gekümmert haben.«

Einen Moment lang schwieg der gesamte Rat. Apollo erkannte, dass sich die Mitglieder zwar gerade eben noch zu Wolfric hingezogen gefühlt haben mochten, dass sie sich, was diesen Bären von einem Mann anging, jedoch nicht sicher waren, und noch nervöser machte sie Apollos Verkündung.

Apollo hatte noch keiner Familie die Würde eines Großen Hauses verliehen, genauso wenig wie sein Vater vor ihm oder der Vater seines Vaters zuvor. Es war eine ziemlich simple Aufgabe, aber sobald es einmal geschehen war, konnte man es nicht so leicht wieder rückgängig machen. Jemandem Macht zu verleihen, war wesentlich leichter, als sie ihm wieder zu nehmen.

Apollo spürte, dass die Ratsglieder fürchteten, mit dieser Verkündung könnte ihnen ein Teil ihrer Macht abhandengekommen sein.

Fast konnte er die Fragen sehen, die ihnen auf der Zunge lagen: Ihr seid gerade erst von den Toten zurückgekehrt. Seid Ihr sicher, dass dies eine kluge Entscheidung ist? Habt Ihr vor, noch weitere Große Häuser zu ernennen? Woher wollt Ihr wissen, dass es dieses Haus wirklich verdient hat, ein Großes Haus zu werden? So wie wir?

»Meine Familie ist Euch sehr dankbar für Eure Großzügigkeit, Eure Hoheit. Es ist mir wirklich eine Ehre, zu diesem Rat aus so vielen hervorragenden Männern und Frauen zu gehören.« Wolfrics Stimme klang mild, doch sein Blick war fest und unerschütterlich, als er sich umsah. Einem nach dem anderen blickte er den Ratsmitgliedern in die Augen, und mehr als einer schien dabei den Atem anzuhalten.

Als Apollo noch ein Junge gewesen war, hatte er zahllose Geschichten über diesen Mann zu hören bekommen. Man sagte, dass Wolfric Valor mit einem einzigen Kampfschrei ganze Armeen zu Fall bringen und seinen Feinden mit bloßen Händen den Kopf abreißen konnte. Er hatte die verfeindeten Clans des Nordens zu einem Königreich vereint und Wolf Hall als Hochzeitsgeschenk für seine Frau erbaut, nachdem er sie einem anderen gestohlen hatte.

Rein äußerlich schien der Mann vor ihm bei Weitem nicht so Furcht einflößend zu sein, wie die Geschichten behaupteten. Apollo war größer und feiner gekleidet. Dennoch besaß Wolfric dieses undefinierbare Mehr, von dem sein Vater immer gesprochen hatte. Wolfric verkörperte alles, was Apollo zu sein versuchte.

Die Ratsmitglieder sagten kein Wort, bis Wolfric sie endlich aus seinem Blick entließ.

Es war Lord Byron Belleflower, der sich schließlich zu Wort meldete. »Willkommen im Rat, Lord Vale. Ich hoffe, Ihr seid bereits über alle derzeitigen Belange des Königreichs in Kenntnis gesetzt worden. Heute gibt es ein paar andere wichtige Angelegenheiten, die besprochen werden müssen.«

Belleflower wandte sich an Apollo. Im Gegensatz zu allen anderen im Schloss, die den Prinzen seit seiner dramatischen Rückkehr von den Toten angesehen hatten, betrachtete Byron Belleflower ihn weder mit Bewunderung noch mit Ehrfurcht.

Apollo und er kamen schon seit Jahren nicht gut miteinander aus, und aus Belleflowers spöttischem Blick schloss Apollo, dass der junge Mann während seiner Abwesenheit nicht gerade angenehmer geworden war. Es gab Gerüchte, denen zufolge Belleflowers Geliebte gestorben war, auch wenn Apollo nicht überrascht gewesen wäre, wenn sie ihren Tod nur vorgetäuscht hätte, um von ihm wegzukommen.

»Nun«, fuhr Belleflower laut und dröhnend fort, bevor er eine dramatische Pause einlegte, um sicherzustellen, dass sämtliche Ratsmitglieder am großen Tisch in seine Richtung blickten.

Die meisten der anderen waren schon betagter, doch Lord Belleflower war etwa in Apollos Alter. Als Jungen waren sie Freunde gewesen, bis Belleflower schließlich alt genug gewesen war, um zu begreifen, dass Apollo einmal ein ganzes Königreich erben würde, wohingegen für ihn nur ein Schloss auf einem kalten, öden Berg abfallen würde. Apollo hätte Byron schon vor Jahren gern aus dem Rat entfernt, doch leider gehörte zu Belleflowers Schloss eine ansehnliche Privatarmee, die der Prinz nicht auf der falschen Seite sehen wollte.

Es war wie bei den meisten Ratsmitgliedern. Eines von ihnen zu entfernen, würde Konsequenzen nach sich ziehen, die Apollo lieber vermeiden wollte.

»Ich weiß, dass Ihr gestern bereits mit einigen anderen Ratsmitgliedern über eine baldige und zügige Krönung gesprochen habt«, fuhr Belleflower fort. »Einige von uns halten es jedoch für unbesonnen, damit fortzufahren, solange es immer noch Fragen bezüglich Eurer Gemahlin gibt.«

Apollo versteifte sich. »Was für Fragen sollen das sein?«

Auf einmal lächelte Belleflower, als hätte Apollo genau das gesagt, was er hatte hören wollen. »Einige von uns fragen sich doch, warum Lord Jacks ihre Erinnerungen ausgelöscht hat. Was weiß Evangeline über ihn, was ihm schaden könnte? Es sei denn … sie hat ihm dabei geholfen, Euch zu vergiften?«

»Diese Unterstellung ist Hochverrat«, fiel Apollo ihm ins Wort.

»Dann beweist es«, drängte Belleflower.

»Ich muss es nicht beweisen«, gab Apollo zurück.

»Allerdings könnte es helfen«, meldete sich Lady Casstel zu Wort. Sie war eines der ältesten und weisesten Ratsmitglieder, und als solches ebnete sie oft den Weg für die Mehrheit der anderen. »Ich glaube nicht, dass Eure Braut eine Mörderin ist, doch die Gerüchte, die nach Eurem Tod über Evangeline in Umlauf geraten sind, waren sehr unschön, und außerdem ist sie eine Fremde. Es könnte zu ihren Gunsten sein, wenn wir einen Weg finden, dem Volk zu zeigen, dass sie nun wirklich voll und ganz Teil dieses Königreichs und Euch absolut treu ergeben ist.«

»Was schlagt Ihr also vor?«

»Sorgt dafür, dass sie Euren Erben bekommt«, erklärte Lady Casstel, ohne zu zögern. »Nicht nur zum Wohl des Königreichs, sondern auch zu Eurem Schutz. Da Euer Bruder seinen Titel verloren hat und derzeit vermisst wird …«

Bei der Erwähnung seines Bruders zuckte Apollo zurück, und die Narben auf seinem Rücken brannten wieder. Was einigen der Ratsmitglieder nicht zu entgehen schien.

Glücklicherweise waren derlei Reaktionen auf die Erwähnung seines Bruders nichts Neues. Niemand würde annehmen, dass Tiberius der wahre Grund sein könnte, warum Apollos Rücken voller Narben war. Nur Havelock und ein paar der Untoten kannten die Wahrheit. Havelock würde das Geheimnis mit ins Grab nehmen, und über die Vampire wollte Apollo lieber nicht nachdenken. Es gab auch so schon genug Unangenehmes, mit dem er sich befassen musste, wie die plötzliche Forderung des Rats, er solle für einen Erben sorgen.

Dem Tonfall zufolge, in dem Lady Casstel dieses Anliegen vorgebracht hatte, musste es bereits vor dieser Versammlung im Rat diskutiert worden sein.

»Nach Euch gibt es niemanden mehr in direkter Thronfolge«, fuhr sie fort. »Es wäre viel zu leicht für einen weiteren Hochstapler, die Krone an sich zu reißen, sollte Euch wieder etwas zustoßen.«

»Mir wird nichts zustoßen«, gab Apollo zurück. »Ich habe den Tod bereits besiegt. So schnell wird er nicht wiederkommen, um mich zu holen.«

»Aber irgendwann wird er zurückkehren.« Diese Worte kamen von Wolfric Valor. »Der Tod kommt zu uns allen, Eure Hoheit. Ein Erbe wird nicht nur das Königreich schützen – sondern den Tod vielleicht auch etwas länger fernhalten.«

Ernst sah Wolfric ihn über den Tisch hinweg an. Wenn er gewollt hätte, dann wäre dies ein guter Moment, um dem gesamten Rat zu sagen, dass Apollo den Tod nie wirklich besiegt hatte, doch er tat es nicht.

Und obwohl es Apollo nicht gefiel, musste er zugeben, dass Wolfric recht hatte. Wenn es einen unbestrittenen Erben gab, neigten die Leute weniger dazu, Intrigen zu schmieden, um an den Thron zu gelangen. Außerdem würde ein Erbe auch seine Beziehung zu Evangeline schützen. Sobald sie erst einmal sein Kind geboren hatte, würde sie ihn auf keinen Fall verlassen. Doch er wollte sie nicht auf diese Weise zum Bleiben zwingen.

»Evangeline erinnert sich noch immer nicht an mich«, sagte er.

»Spielt das denn eine Rolle?«, mischte sich Belleflower ein. »Ihr seid ein Prinz. Das Mädchen sollte sich glücklich schätzen, mit Euch verheiratet zu sein. Ohne Euch wäre sie ein Niemand.«

Apollo warf ihm einen bösen Blick zu und fragte sich kurz, ob hinter Belleflowers Abneigung mehr steckte als der Verdacht, Evangeline könnte mit Jacks zusammengearbeitet haben, um ihn zu töten. »Evangeline ist kein Niemand. Sie ist meine Frau. Um einen Erben werde ich mich kümmern, sobald es ihr besser geht.«

»Und wie lange wird das dauern?« Belleflower hob die Stimme und versuchte eindeutig, weitere Ratsmitglieder für seine Sache zu gewinnen. »Ich war gestern dabei. Eure Frau hat neben Euch wie ein verängstigtes Gespenst ausgesehen, ganz blass und zitternd! Wenn Euch Euer Königreich am Herzen liegt, dann solltet Ihr sie loswerden und Euch eine neue Gemahlin suchen.«

»Ich werde meine Frau nicht einfach ersetzen.« Apollo stieß sich so abrupt aus seinem Stuhl hoch, dass die Weinkelche wackelten und ein paar Trauben von den Tellern auf den Tisch rollten. Diese Unterhaltung ging eindeutig zu weit.

Außerdem schweiften sie ab, anstatt sich damit zu befassen, worüber sie wirklich diskutieren mussten.

»Evangeline ist nicht mehr Teil dieser Diskussion. Der Nächste, der sich verächtlich über sie äußert, wird an diesem Tisch kein Wort mehr sagen. Wer sich in diesem Raum tatsächlich um das Königreich sorgt, sollte aufhören, sich um Evangelines Loyalität Gedanken zu machen, und stattdessen nach Lord Jacks suchen. Solange er lebt, ist niemand sicher.«