Apollo
Apollo hätte sich einen anderen Schauplatz für das Abendessen aussuchen sollen.
Der Säulenhof war einer der eindrucksvollsten Säle in ganz Wolf Hall und verfügte über ein Glaskuppeldach, das sich drei Stockwerke über ihnen emporwölbte und durch das man einen fantastischen Blick auf die Sterne hatte. Acht gewaltige Säulen formten einen Kreis im Zentrum des Raums. Die Säulen stellten die Vergessenen Heiligen dar, und Apollo hielt sie für einen weit spektakuläreren Anblick als die Statuen der Valoren in der Bucht, da die Heiligen immer noch ihre Köpfe hatten. Außerdem waren sie aus seltenem Sternenstein geschnitzt, der nachts glühte und dem Säulenhof etwas Überirdisches verlieh, was Evangeline hoffentlich gefiel.
Nun jedoch bereute er seine Entscheidung.
Er hätte defensiver denken sollen.
Die Statuen mochten eindrucksvoll sein, doch sie behinderten auch seine Sicht auf den versammelten Hofstaat und auf die Türen, die nach draußen führten. Natürlich waren dort Wachen postiert, um nach Jacks Ausschau zu halten, doch am Ende dieses Abends würde die Hälfte seiner Soldaten ebenso betrunken sein wie die Gäste. So war das nun mal.
Apollo war während festlicher Anlässe noch nie sonderlich streng mit seinen Wachen gewesen. Die größte Gefahr bestand bei solchen Gelegenheiten üblicherweise darin, zu langen Trinksprüchen lauschen zu müssen, und die Wachen ein bisschen mitfeiern zu lassen, war eine gute Möglichkeit, sich ihre Loyalität zu sichern. Apollo konnte es im Augenblick nicht riskieren, diese Loyalität aufs Spiel zu setzen – besonders nicht, nachdem er Hansel und Victor verloren hatte. Er würde Evangeline eben den ganzen Abend über dicht bei sich behalten müssen.
Er fühlte es, sobald sie den Saal betrat. Ein Summen auf der Haut, angenehm und unangenehm zugleich, wie der Sog, den er empfand, wann immer er sie sah. Ein Überbleibsel des Fluchs des Bogenschützen, auch wenn diese Empfindung viel stärker gewesen war, als er noch unter dem Fluch gestanden hatte – wie ein Feuer, das auf seiner Haut brannte und das nur sie löschen konnte.
Er drehte sich zu ihr um, als sie den Raum betrat, und alles andere wurde unscharf.
Die Tische voller Essen, die Gäste in ihrer Abendgarderobe, die Säulen und die riesigen Kerzen, die sie umringten – alles verschwamm für einen Moment wie ein Wasserfarbenbild, das im Regen zerlief.
Inmitten all dessen leuchtete Evangeline, wirkte anmutig und unschuldig und schön.
Sobald er seine Umgebung wieder wahrnahm, erkannte er, dass sich auch alle anderen Blicke im Saal auf sie gerichtet hatten. Er durfte nicht zu lange dabei zusehen, wie die anderen Gäste sie anstarrten. Einige waren nur neugierig, doch es gab auch Blicke, die ihn misstrauisch machten, und einige weckten in ihm den Wunsch, ein paar Kehlen durchzuschneiden.
Er versuchte, sich nicht zu sehr aufzuregen – sie war nun mal die schönste Frau im Saal. Er konnte es niemandem verübeln, dies ebenfalls zu bemerken.
Dennoch wollte er keinen Zweifel daran lassen, dass sie zu ihm gehörte.
Sie merkte nicht, wie er sich ihr näherte. Schweigend schritt sie durch den Saal, die Augen groß vor Staunen, während sie zu den glühenden Säulen emporsah.
Ihr Haar war hochgesteckt und ihr Kleid tief ausgeschnitten. Die Träger waren so zart und dünn, dass er sie mit einem Fingerschnippen zerreißen könnte. Vielleicht, wenn er es richtig anstellte, würde sie ihm dies später in dieser Nacht möglicherweise erlauben.
Leise trat er hinter sie.
»Du siehst wunderschön aus«, raunte er. Und dann, weil sie ihm gehörte und weil er es konnte, drückte er einen zarten, langen Kuss auf ihren Nacken.
Er spürte, wie ihre Haut unter seinen Lippen warm wurde. Doch dann erstarrte sie.
Hoffentlich hatte er keine Erinnerung heraufbeschworen.
Langsam legte er ihr eine Hand an die Taille und stellte sich neben sie. »Ich hoffe, ich habe dich nicht erschreckt.«
»Kein bisschen«, antwortete sie, doch ihre Stimme klang seltsam hoch. »Ich habe nur nicht erwartet, so viele Leute hier zu sehen.« Ihr Blick schoss durch den Saal.
Apollo konnte nicht sagen, ob sie einfach nervös war oder ob sie nach jemandem suchte. Letzteres durfte eigentlich nicht möglich sein, da sie sich an niemanden erinnern konnte … oder sollte.
In der Ferne begann der Barde zu singen. Seine Lieder erzählten von Apollo dem Großen und Jacks dem Gehassten und Todgeweihten. »Ein Monster unter Männern, eine umherstreifende Sünde. Er tötet eure Kinder und stiehlt eure Frauen. Lasst ihn zu nah an euch heran, und er wird euch vernichten.«
Die Gäste in der Nähe wiegten sich im Takt der Musik, doch Evangeline wirkte sichtlich betroffen. Nun sah sie sich nicht mehr suchend im Raum um, und Apollo fragte sich, ob es vielleicht tatsächlich nur die vielen Menschen waren, die sie nervös machten.
Er hatte seine Braut nie für schüchtern gehalten, doch er erinnerte sich noch daran, wie verunsichert sie am Tag ihrer Hochzeit gewesen war.
»Ich wünschte, der heutige Abend könnte ein wenig vertraulicher sein, aber der ganze Hofstaat wollte dabei sein, und es ist wichtig, sie wissen zu lassen, dass wir gesund und glücklich sind.« Er nahm die Hand von ihrer Taille und verschränkte seine Finger mit ihren. »Keine Sorge, bleib heute Abend einfach in meiner Nähe.«
Er behielt sie an seiner Seite, während sie die Gäste einen nach dem anderen begrüßten.
Diesen Teil hatte Apollo noch nie gemocht. Doch Evangeline schien sich allmählich zu entspannen, als man ihr zulächelte, sie umarmte und ihr Komplimente für einfach alles machte, angefangen vom Klang ihrer Stimme über ihre leuchtenden Wangen bis hin zu ihren roségoldenen Locken.
Er wünschte, die Unterhaltungen wären etwas geistreicher, aber es hätte wohl schlimmer kommen können. Als man abermals ihr Haar bewunderte, stahl sich Apollo für einen Augenblick davon, um sich einen Kelch Wein zu holen. Mit etwas zu trinken in der Hand waren solche Anlässe viel leichter zu ertragen, doch er schien sich den falschen Moment ausgesucht zu haben, um ihr von der Seite zu weichen.
Als er zu seiner sittsamen Braut zurückkehrte, lachte Evangeline gerade über etwas, das Lord Byron Belleflower gesagt hatte. Woraufhin Belleflower gleich eine weitere Bemerkung von sich gab und sie damit wieder zum Lachen brachte. Ihr Lächeln war strahlender, als Apollo es während des ganzen Abends gesehen hatte.
Bastard.
Während der Ratsversammlung hatte Belleflower praktisch ihren Kopf verlangt, und nun versuchte er, sie einzuwickeln.
»Offenbar kann ich dich keine Sekunde allein lassen«, kommentierte Apollo, als er übergangslos nach Evangelines Hand griff und sie enger an sich zog.
»Kein Grund, sich bedroht zu fühlen, Eure Hoheit. Ich habe nicht vor, Euch Eure Frau zu stehlen. Ich habe ihr nur ein paar Geschichten über uns beide erzählt, als wir noch Jungen waren. Ich dachte, nach der Woche, die sie hinter sich hat, könnte sie ein bisschen fröhliche Unterhaltung vertragen.« Belleflower legte sich eine Hand aufs Herz, während er sich wieder Evangeline zuwandte. »Außerdem wollte ich noch sagen, dass ich von Eurem gestrigen Sturz gehört habe, Eure Hoheit. Ich bin so froh, dass man Euch noch rechtzeitig gefunden hat und dass man die Wachen, die Euer Leben in Gefahr gebracht haben, niedergestreckt hat wie die Hunde, die sie waren.«
»Nieder…gestreckt?«, wiederholte Evangeline. Jede Spur des Lachens verschwand aus ihrem Gesicht, und ihre sanften Augen weiteten sich vor Schreck.
Apollo hätte Belleflower umbringen können.
»Ich dachte, meine Wachen sollten nur befragt werden?«, wandte sie sich an ihn.
»Mach dir keine Sorgen, Liebes«, erwiderte Apollo und schenkte ihr ein hoffentlich beruhigendes Lächeln. »Ich glaube, unser Freund Lord Belleflower hier holt sich sein Wissen hauptsächlich aus Skandalblättern. Das Einzige, was heute Abend niedergestreckt wurde, ist das Wild, das wir gleich verspeisen werden. Wenn Ihr uns nun entschuldigen würdet.«
Damit zog er Evangeline fort von dem intriganten Lord Belleflower.
Doch offenbar war der Schaden bereits angerichtet. Das Leuchten, das er zuvor in ihren Augen gesehen hatte, war erloschen, und ihre Finger fühlten sich in seiner Hand eiskalt an.
Rasch hielt er einen der Dienstboten an, die silberne Weinkelche herumreichten.
»Hier, meine Liebe.« Er drückte ihr einen der Kelche in die Hand. »Ich glaube, es ist Zeit für einen Trinkspruch, meinst du nicht auch?«
Dann hob er die Stimme, um die Aufmerksamkeit seiner versammelten Gäste zu erregen. »Meine Freunde! Ich fürchte, mein Hof hat vergessen, wie man feiert. Das meiste, was ich heute Abend zu Ohren bekommen habe, waren fade Komplimente und fantasielose Gerüchte. Also lasst uns die Gläser auf die ruhmvolle Rückkehr von den Toten und die Magie der Liebe erheben!«