Evangeline
Evangeline rührte ihren Wein nicht an, auch wenn sie die Einzige zu sein schien, die nichts trank. Die Abendgesellschaft feierte auch nach Apollos Fortgang noch fröhlich weiter, und schon bald waren es nicht nur die Höflinge, die tranken. Auch eine ganze Reihe der Wachsoldaten sprach dem Wein zu.
Im Säulenhof gab es keine Uhr, doch der Mond war ein ganzes Stück über den Himmel gewandert, seit Apollo gegangen war. Es schien also genug Zeit verstrichen zu sein, um zu erahnen, dass es etwas Wichtiges war, was den Prinzen fernhielt.
Kurz fragte sich Evangeline, ob man Lord Jacks gefunden hatte. Diese Nachricht hätte den Prinzen jedoch sicher gefreut, während er vor seinem Aufbruch nicht gerade glücklich gewirkt hatte. Nein, da musste noch etwas anderes sein.
Bis zum dritten Gang grübelte sie darüber nach, als jemand ein Stück die Tafel hinunter einen weiteren Trinkspruch ausbrachte. Offenbar waren die Nordländer ganz verrückt nach Trinksprüchen. Dieses Mal wurde auf den Bogenschützen getrunken, der die Vögel erlegt hatte, die sie gerade verspeisten, und auf einmal fiel es Evangeline wieder ein. Der Bogenschütze.
Ihr Magen schien einen Salto zu schlagen. Erneut sah sie sich im Saal um in der Hoffnung, er wäre endlich eingetroffen. Aber sie entdeckte immer noch keine Spur von ihm.
Eigentlich hatte sich Evangeline nie als sonderlich leichtsinnig betrachtet. Andere würden ihr da vielleicht widersprechen, doch ihnen würde Evangeline entgegenhalten, dass sie nur stets auf das hoffte, was sein könnte, wohingegen sich andere vor dem fürchteten, was schiefgehen könnte.
Ihr war durchaus bewusst, dass es im Lichte der jüngsten Ereignisse am Brunnen nicht ungefährlich sein konnte, sich ohne ihre Wachen auf der Suche nach dem Bogenschützen davonzuschleichen. Allerdings war nun, da Apollo nicht da war und so viele der Gäste abgelenkt waren, vielleicht der perfekte Zeitpunkt, um den Bogenschützen zu finden und mit ihm hoffentlich auch ihre Erinnerungen.
Sie überlegte, wie sie für weitere Ablenkungen sorgen könnte, um sich dann unbemerkt davonzuschleichen. Erst überlegte sie, am Tischtuch zu ziehen, bis das ganze Essen zu Boden fiel. Sie stellte sich vor, wie sie allen Wein verschüttete. Dann setzte jemand zu einem weiteren Trinkspruch an, und sie begriff, dass dies ihre Gelegenheit war.
Es war Lord Vale, der das Glas erhoben hatte. Tatsächlich lieferte er eine fantastische Vorstellung ab und erklärte lebhaft, wie gern er Merrywood wiederaufbauen wollte, zweifellos in der Absicht, auch andere für diese Sache zu gewinnen. Selbst Evangeline fiel es schwer, den Blick von ihm abzuwenden.
Lord Vale zog alle Aufmerksamkeit auf sich, als er aufstand und das Glas noch höher über sein stattliches Haupt hob. »Dieser Wiederaufbau ist für den gesamten Norden!«, verkündete er mit Donnerstimme. »Wir tun es, um die Geister der Vergangenheit zu vertreiben, die uns noch immer heimsuchen. Denn wir sind Nordländer! Wir fürchten uns nicht vor Mythen und Legenden! Wir sind Mythen und Legenden!«
Überall im Saal erhob sich der Ruf: »Wir sind Legenden!«
»Wer wird Merrywood an meiner Seite wiederaufbauen?«, rief Lord Vale.
»Auf mich könnt Ihr zählen!«
»Mein Haus wird dort sein!«
Ein Chor aus leidenschaftlichen Stimmen schwoll an, während überall im Saal Männer und Frauen und sogar Wachsoldaten die Gläser hoben und in Jubel ausbrachen.
»Sobald die Jagd vorüber ist, fangen wir an!«, bellte Lord Vale.
Diesen Moment wählte Evangeline, um sich von der Tafel fort- und durch die nächstgelegene Tür davonzuschleichen. Dabei achtete sie eher darauf, schnell als leise zu sein. Der Tumult im Saal hätte sogar Kampfeslärm übertönen können.
Weshalb es eine Weile dauerte, bis Evangeline das Geräusch von Schritten hinter sich wahrnahm.
Rasch griff sie nach dem Dolch des Bogenschützen und fuhr herum.
»Ich bin es nur.« Abwehrend hob Aurora Vale die Hände. »Tut mir leid, ich wollte Euch nicht erschrecken. Als ich Euch davonschleichen sah, wollte ich einfach gern mit Euch kommen. Die Trinksprüche meines Vaters können Tage dauern. Ich weiß noch, dass er bei einer Hochzeit einmal von Sonnenunter- bis Sonnenaufgang geredet hat.«
»Hat denn niemand versucht, ihn aufzuhalten?«
Aurora lachte. »Niemand versucht, meinen Vater aufzuhalten. Ich glaube allerdings nicht, dass seine Rede heute Abend auch so lange dauern wird, weil er schon genug der Gäste für seine Sache begeistert hat. Trotzdem sollten wir uns lieber beeilen, bevor irgendjemand merkt, dass wir weg sind.« Aurora hüpfte fast vor Begeisterung, und ihr violettes Haar schwang hin und her. »Wohin wollt Ihr denn? Habt Ihr einen geheimen Liebhaber? Oder wollt Ihr Eure persönliche Hexe besuchen, damit sie Euch die Zukunft vorhersagt?«
»O nein«, gab Evangeline rasch zurück. »Ich habe keinen Liebhaber und ich kenne keine Hexen. Ich wollte nur zurück in meine Gemächer.«
»Tja, das ist allerdings enttäuschend.« Aurora seufzte. »Trotzdem ist es vermutlich immer noch lustiger, Euch zu Euren Gemächern zu begleiten, als meinem Vater zuzuhören.« Sie hakte sich bei Evangeline unter.
Zuvor hatte Evangeline das Mädchen gemocht, nun jedoch kam ihr irgendetwas an Aurora komisch vor. Oder vielleicht lag es auch nur daran, dass sie Evangelines Plan, den Bogenschützen zu finden, vereitelt hatte.
»Danke für das Angebot«, sagte sie vorsichtig. »Aber eigentlich möchte ich lieber allein sein.«
Argwöhnisch sah Aurora sie an, bevor ihr strahlendes Lächeln wieder aufblitzte. »Dann habt Ihr also doch einen geheimen Liebhaber?«
»Nein«, gab Evangeline ruhig zurück. »Ich bin verheiratet.«
Aurora verzog den Mund. »Was andere auch nicht davon abhält. Es gibt also wirklich keinen Wachmann oder einen schönen Stallburschen, der Eure Aufmerksamkeit erregt hat?«
»Es gibt nur Apollo«, erklärte Evangeline fest. Obwohl ihre Gedanken zum Bogenschützen wanderten, noch während sie das sagte. Sie stellte sich vor, wie er im Regen auf der Brücke gestanden hatte. Wie sich sein Hemd an seine Brust geschmiegt und sein Blick sie nicht losgelassen hatte. Doch sie wollte ihn nicht als Liebhaber. Er war rücksichtslos und unzivilisiert, und er hatte gelogen, als sie ihn gefragt hatte, ob sie einander kannten. Sie wollte ihn nur finden, damit er vielleicht eine neue Erinnerung in ihr auslöste.
Ganz offensichtlich schien es dazu an diesem Abend jedoch nicht mehr zu kommen.
Das Geräusch weiterer schwerer Schritte erklang im Korridor. Aurora hatte sie so lange aufgehalten, bis ihre Wachen ihre Abwesenheit bemerkt und sie schließlich eingeholt hatten.
Die Enttäuschung machte sie müde. Während ihre Wachen ihr zu ihren Gemächern gefolgt waren, hatte sie sich ständig nach dem Bogenschützen umgesehen. Sie wusste nicht, ob sie wirklich glaubte, er könnte jeden Moment auftauchen, oder ob sie sich einfach nur so sehr wünschte, er würde kommen, dass sie glaubte, ihn vielleicht allein durch die Kraft ihrer Gedanken heraufbeschwören zu können.
Sie stellte sich vor, wie sie im Korridor mit ihm zusammenstieß, auf einen Schlag ihr Gedächtnis zurückbekam und ihre auf den Kopf gestellte Welt plötzlich wieder einen Sinn ergab.
Aber, ach, leider kam sie nach einem vollkommen ereignislosen Fußmarsch einfach nur in ihren Gemächern an, wo sie sich für das Bett umzog und Dinge wie »aber, ach« dachte.
Evangeline wusste nicht, wann genau sie ins Bett gekrochen war oder wie lange sie schon dort lag. Sie befand sich in einem Zustand irgendwo zwischen Schlafen und Wachen, als sie plötzlich die Bodenbretter knarren hörte. Es klang nicht nach Apollos selbstbewussten Schritten. Sondern eher so, als würde sich jemand hereinschleichen. Sie wagte, sich auszumalen, es wäre der Bogenschütze, dann schlug sie die Augen auf …
Eine breite, schwerfällige Gestalt beugte sich über ihr Bett.
Weder der Bogenschütze noch Apollo.
Sie versuchte zu schreien.
Doch der Angreifer war schneller. In dem Moment, den sie brauchte, um den Mund zu öffnen, war er über ihr, schlug ihr eine große behandschuhte Hand auf den Mund und drückte sie mit dem ganzen Gewicht seines Körpers hinab.
Er roch nach Schweiß und Pferden. Evangeline konnte sein Gesicht nicht erkennen – er trug eine Maske, die nur seine stumpfen Augen freiließ.
Noch einmal versuchte sie zu schreien. Dann wollte sie ihn in die Hand beißen. Der Bogenschütze hatte ihr nicht gezeigt, was sie in so einer Lage tun konnte. Doch sie hatte noch im Ohr, was er an diesem Morgen zu ihr gesagt hatte. Wenn du aufhörst zu kämpfen, dann verlierst du.
Sie trat zu und zielte dabei zwischen die Beine ihres Angreifers.
»Ich an deiner Stelle würde lieber stillhalten.« Er zog ein Messer, dessen Klinge so lang war wie ihr Unterarm.
Hilfe! Hilfe! Hilfe, rief sie wortlos und kämpfte panisch darum, ihn von sich zu stoßen.
Er senkte das Messer, schlitzte den Ausschnitt ihres Nachthemds auf, dann fühlte sie, wie die scharfe Spitze des Messers eine schmerzhafte Linie unter ihrem Schlüsselbein zog.
»Das soll ja wohl ein Scherz sein«, knurrte der Bogenschütze.
Evangeline hatte nicht einmal bemerkt, wie er hereingekommen war, doch auf einmal war er da – golden und finster und vielleicht das Schönste, was sie jemals gesehen hatte. Grob packte er den Angreifer am Hals, riss ihn vom Bett und drückte ihn gegen einen der Bettpfosten, sodass seine Beine nutzlos wie die einer Puppe durch die Luft strampelten.
Evangeline rappelte sich vom Bett auf. »Ich habe versucht, mich zu wehren.«
Blut strömte über ihre Brust, und sie hielt ihren Morgenmantel fest zusammen, wobei ihre Hände jedoch nicht aufhören wollten zu zittern.
Beim Anblick des Bluts wurden die Augen des Bogenschützen schmal, und Evangeline hätte schwören können, dass sich das Blau in geschmolzenes Silber verwandelte. Er richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf den Attentäter und knurrte.
Der Laut, der aus seinem Mund drang, war der eines wilden Tiers. Er riss die Maske herunter, zog einen Dolch und drückte dem Mann die Klinge ans linke Auge. »Wer hat dich angeheuert, um sie anzugreifen?«
Der Mann wurde blass, biss jedoch die Zähne zusammen.
»Ich frage dich noch einmal, dann verlierst du das Auge. Und ich hoffe fast, dass du nicht antwortest, weil ich dir nur zu gern das Auge herausschneiden würde. Wer hat dich angeheuert, um sie zu töten?«
»Es war ein anonymer Auftrag«, stieß der Mann hervor.
»Wie schade für dich.« Der Bogenschütze ließ den Dolch sinken.
»Ich schwöre, ich weiß nichts«, spie der Angreifer aus. »Mir wurde nur aufgetragen, dass ich es möglichst langsam, schmerzhaft und blutig machen soll.«
Evangeline wurde ganz benommen. Es war schon schlimm genug, dass jemand sie tot sehen wollte, jedoch zu erfahren, dass sie gefoltert werden sollte, war etwas ganz anderes.
»Und warum?«, fragte sie.
Ihr Angreifer presste die Lippen aufeinander.
»Sei nicht so unhöflich. Die Prinzessin hat dir eine Frage gestellt.« Der Bogenschütze hob den Mann noch höher und schüttelte ihn grob am Hals, bis sein Kopf zur Seite kippte. »Antworte.«
»Ich weiß nicht, warum«, knurrte er. »Mir wurde nur gesagt, dass es wehtun soll.«
Die Nasenflügel des Bogenschützen bebten.
»Dein Glück, dass ich gnädiger bin als dein Auftraggeber.« Fast nachdenklich neigte er den goldenen Kopf. »Das wird zwar wehtun, aber nicht lange.« Dann hob er den Dolch und stach ihn dem Attentäter ins Herz.