Apollo
Apollo stand in seinem privaten Studierzimmer vor dem Kaminfeuer, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, das Kinn gehoben, den Blick nach unten gerichtet. Es war eine Pose, die er schon oft für Porträts eingenommen hatte, wie auf dem Gemälde, das derzeit über dem Kaminsims hing. Natürlich war er auf dem Porträt noch jünger gewesen. Es war gemalt worden, bevor er Evangeline begegnet war, bevor er verflucht und innerhalb einer Woche von einem Hochstapler ersetzt worden war. Und noch dazu von einem ziemlich wenig beeindruckenden Hochstapler.
Apollo war bewusst, wie jung er noch war. Er hatte gerade mal zwanzig Jahre gelebt – und es waren zwanzig friedliche Jahre gewesen, was es nicht einfach machte, ein Leben zu führen, das als Inspiration für Barden und Minnesänger dienen konnte. Er redete sich gern ein, dass er nicht so rasch in Vergessenheit geraten wäre, wenn er vor seinem angeblichen Tod ein wenig länger gelebt hätte. Trotzdem war er enttäuscht von sich selbst, weil er so viel Zeit vertrödelt hatte.
Seine Rückkehr von den Toten hatte ihm einen Vorteil verschafft, auf dem er ein Erbe aufbauen konnte, das man nicht so leicht vergessen würde. Doch er wusste, dass dies allein nicht genügen würde, um die Zukunft zu schmieden, die er sich wünschte, und um sicherzustellen, dass man ihn nie wieder verfluchen oder auf irgendeine Weise einsetzen würde, um Evangeline zu schaden.
Er musste mehr tun.
Er entrollte die Schriftrolle, die Lord Slaughterwood ihm vor zwei Tagen überreicht hatte. Genau wie jedes Mal zuvor fing sie Feuer, nicht genug, um ihn zu verbrennen, aber genug, um die Seite zu vernichten und in Asche zu verwandeln. Es begann mit den Worten ganz unten auf der Rolle, sie verbrannten immer schon, bevor er sie lesen konnte, doch mittlerweile hatte er genug entziffert, um genau zu wissen, was er zu tun hatte.
Zuerst aber musste er dafür sorgen, dass Evangeline in Sicherheit war.
Das Klopfen an der Tür kam genau im richtigen Moment.
Apollo holte tief Luft und wappnete sich für das, was er, wie er fürchtete, als Nächstes tun musste.
»Herein«, sagte er und zog die Mundwinkel hinab, als die Tür aufschwang und Havelock eintrat.
Sofort bemerkte der Soldat die brennende Schriftrolle in Apollos Hand und die Asche auf dem Boden. »Habe ich Euch bei etwas unterbrochen?«
»Bei nichts Wichtigem.« Apollo ließ das verglimmende Papier zu Boden fallen. Wie alle Geschichten des Nordens unterlag sie dem Geschichtenfluch. Diese bestimmte Geschichte ging jedes Mal in Flammen auf, wenn man sie entrollte.
Die Seite brannte zu einem Häuflein Asche herunter. Dann fügte sie sich wieder zusammen – ganz ähnlich wie das, was Apollo mit seinem und Evangelines Leben versuchte.
»Welche Nachrichten bringst du über den Angriff auf Prinzessin Evangeline?«, fragte Apollo.
Der Wachmann verbeugte sich und atmete schwer durch. »Die Tutorin der Prinzessin besteht weiterhin darauf, dass sie unschuldig ist. Madame Voss schwört, sie habe der Prinzessin niemals einen Brief geschickt, um sie zum Brunnen zu locken. Sie behauptet, die Wachen würden lügen.«
Apollo fuhr sich durchs Haar. »Was sagen Victor und Hansel?«
»Sie bleiben bei ihrer Geschichte. Sie behaupten, es habe eine Nachricht von der Tutorin gegeben und sie hätten Evangeline im Nebel verloren, als sie sich mit Madame Voss treffen wollte. Sie schwören, dass sie in keine Verschwörung verwickelt sind.«
Apollo schnitt eine Grimasse. »Glaubst du, sie sagen die Wahrheit?«
»Sie kommen mir aufrichtig vor, Eure Hoheit. Aber es ist schwer zu sagen. Auch die Tutorin scheint ehrlich zu sein.«
Apollo seufzte und sah zu Boden, dorthin, wo die Seite inzwischen fast vollständig verbrannt war.
»Wahrscheinlich arbeiten Victor, Hansel und die Tutorin zusammen«, mutmaßte Apollo.
Sobald er sie ausgesprochen hatte, wollte er die Worte wieder zurücknehmen.
Doch nun war es zu spät. Es war schon zu spät gewesen, sobald er Victor und Hansel befohlen hatte, Evangeline den gefälschten Brief ihrer Tutorin zu übergeben, sie dann im Garten scheinbar aus den Augen zu verlieren und sie schließlich in den Brunnen zu stoßen. Doch Evangeline hatte ihm keine Wahl gelassen. Sie hatte sich geweigert, daran zu glauben, sie würde in Gefahr schweben. Er hatte ihr zeigen müssen, dass sie sich irrte.
Eigentlich hatte die Lektion jedoch nicht so traumatisch sein sollen. Er hatte erwartet, dass die Wachen, die im Garten patrouillierten, sie früher fanden. Das war ein Fehler gewesen, doch er hatte nicht mehr Leute in seinen Plan einweihen wollen als unbedingt nötig.
»Foltere die Tutorin weiter – ich habe das Gefühl, sie könnte einknicken. Besonders wenn du ihr sagst, dass du Victor und Hansel getötet hast.«
Havelock wurde blass.
Apollo klopfte ihm auf die Schulter, und wieder einmal hätte er am liebsten seinen Plan geändert und Havelock aufgetragen, Victor und Hansel einfach im Gefängnis zu lassen. Er fand es grässlich, ausgerechnet diese beiden Soldaten zu verlieren, die sich auf so bewundernswerte Weise bewährt hatten. Doch er konnte nicht wissen, wie weit ihre Loyalität reichen würde. Und das Letzte, was er brauchte, waren Gerüchte darüber, dass er derjenige war, der hinter dem jüngsten Anschlag auf Evangelines Leben steckte. »Ich weiß, dass Victor und Hansel deine Freunde sind, aber sie haben Evangeline verraten. Wir müssen es tun, um ein Exempel zu statuieren.«
Havelock nickte niedergeschlagen. »Ich werde dafür sorgen, dass es heute Nacht geschieht.«
Apollo verspürte so etwas wie einen schuldbewussten Stich. Er fand es abscheulich, dass er dies tun musste. Dass es so weit gekommen war. Dass Evangelines Mangel an Vertrauen ihn dazu gezwungen hatte, zu so drastischen Maßnahmen zu greifen. Trotzdem tat er das Richtige.
Er beschützte seine Frau vor allen, auch vor ihr selbst.