Jacks
Jacks hatte genug gesehen.
Wenn er noch länger auf dem Balkon blieb und weiter zusah, würde er Apollo töten oder zumindest dafür sorgen, dass er Evangeline nie wieder anrühren konnte.
Jacks rief sich in Erinnerung, dass sie bei Apollo sicher war. Als Prinzessin würde sie alles haben, was sie sich nur wünschen konnte.
Aber sie sollte ihn nicht küssen wollen. Es war nicht fair von Jacks, sie dafür ein bisschen zu hassen. Doch ohne dieses Gefühl wäre es ihm nicht möglich zu gehen. Und er musste gehen.
Evangeline war sicher. Das war das Einzige, was zählte.
Wenn Jacks blieb, würde er über kurz oder lang in ihre Gemächer stürmen und seine Kräfte einsetzen, um Apollo zu zwingen, dabei zuzusehen, wie er Evangeline erklärte, dass sie keineswegs nichts für ihn war. Sondern alles. Dass er die Zeit zurückgedreht hatte, um ihr Leben zu retten, und dass er dieselbe Entscheidung wieder treffen würde. Wenn Jacks ihr ins Gedächtnis rief, dass er es war, den sie küssen wollen sollte, dann wäre sie nicht mehr sicher. Dann wäre sie nicht einmal mehr am Leben.
Wenn Evangeline eine Zukunft haben sollte, dann durfte Jacks nicht dazugehören.
Leise sprang er vom Balkon. Seine Stiefel verursachten keinen Laut, als er im dunklen Hof darunter landete. Allerdings hätte er den Zeitpunkt wohl besser abpassen sollen. Er hörte, wie sich zwei Wachsoldaten auf Patrouille näherten.
Normalerweise hätte er seine Fähigkeiten eingesetzt, um ihre Gefühle zu kontrollieren, damit sie kehrtmachten. Aber er war immer noch erschöpft von ihrem Einsatz bei den Wachen zuvor. Außerdem hörte er die Unterhaltung dieser beiden Soldaten, und die Begriffe »Blut« und »Massaker« ließen ihn aufhorchen.
Er rückte an die Steinmauern von Wolf Hall heran und versteckte sich im Schatten, während die Soldaten näher kamen und der größere der beiden sagte: »Quixton war dort, und er hat gesagt, dass ein Mann allein unmöglich so viele Menschen ermordet haben kann. Er sagt, es sieht aus, als wäre es ein Dämon gewesen.« Schaudernd hielt der Soldat inne. »Ich mochte Haus Fortuna noch nie besonders, aber niemand hat es verdient, dass ihm das Herz herausgerissen und die Kehle zerfetzt wird.«
In diesem Punkt stimmte Jacks ihm nicht zu, doch dass ein königlicher Soldat über ein so irrational weiches Herz verfügte, machte ihm weniger zu schaffen als dessen Gebrauch des Worts »Dämon«.
Dämonen gab es nicht.
Doch Jacks wusste von einer Kreatur, die von den Menschen oft fälschlicherweise für einen Dämon gehalten wurde, besonders im Norden, wo es der Geschichtenfluch praktisch unmöglich machte, realistische Berichte über Vampire in Umlauf zu bringen. Und selbst wenn es gelang, brachte der Fluch die Menschen dazu, nicht die angemessene Furcht zu empfinden. Wann immer ein Mensch also wirklich Angst hatte, redete er von Dämonen, obwohl er eigentlich Vampire meinte.
Und Jacks fürchtete, dass er ganz genau wusste, von welchem blutdürstigen Dämon die Wachen in dieser Nacht sprachen. Castor.
Die Valoren hatten den Geschichtenfluch damals gewirkt, um ihren Sohn Castor zu schützen, nachdem dieser in einen Vampir verwandelt worden war. Eigentlich hätte er sich nur auf Berichte über Vampire auswirken sollen, doch der Fluch war in wilder Angst erschaffen worden, und in solchen Fällen neigten Flüche dazu, sich zu verändern oder viel schlimmer zu werden, als es ursprünglich beabsichtigt gewesen war.
Jacks fragte sich, ob die Valoren nun, da sie wieder da waren, vielleicht versuchen würden, den Fluch zurückzunehmen. Es wäre interessant zu sehen, ob Honora und Wolfric wohl beschließen würden, den Norden umzugestalten, oder ob sie einfach ein stilles Leben im wiederaufgebauten Merrywood Manor führen wollten.
Er hatte ihnen noch keinen Besuch abgestattet. Die meisten der Valoren hatte er zwar gesehen, nachdem der Bogen geöffnet worden war, aber da war er dank Castors Appetit halb tot gewesen. Und seither war er nur Aurora begegnet. Er wusste, dass sie ihn nicht an Apollo oder seine Soldaten verraten würde, doch was ihre Eltern betraf, war er sich da nicht so sicher.
Zunächst war es eine Frage der Ehre, und sie beide hielten große Stücke auf ihre Ehre. Außerdem hatte Apollo ihnen den Stand eines Großen Hauses verliehen und ihnen Merrywoodwald, Merrywood Manor und Merrywood Dorf geschenkt.
Kein sonderlich eindrucksvolles Geschenk, wie Jacks fand. Merrywoods Geschichte war so hässlich, wie man es sich nur vorstellen konnte. Die meisten Leute behaupteten, der Wald, das Haus und das Dorf seien verflucht oder dort würde es spuken. Nicht einmal Jacks reiste gern durch diese Gegend.
Doch dann musste er wieder daran denken, dass die Soldaten von einem mörderischen Dämon gesprochen hatten. Er sah vor sich, wie dieser mörderische Dämon Evangeline die Kehle aufriss und sie noch einmal tötete.
Jacks stieg auf sein Pferd und ritt im Eiltempo nach Merrywood.
Er spürte die Veränderung, sobald er den Wald erreichte. Er hörte das Leben, das zu beiden Seiten des Pfads wimmelte. Kaninchen, Frösche, Vögel, Rehe und Bäume, die wieder zu wachsen begannen.
Die Valoren mochten erst vor wenigen Tagen zurückgekehrt sein, doch es gab einen Grund dafür, dass sie die Valoren waren; einen Grund, dass die Sagen und Legenden überdauert hatten und immer größer geworden waren, lange nachdem sie selbst längst verschwunden waren; einen Grund, dass sie in diesen Legenden als fast gottgleiche Wesen dargestellt wurden.
Jacks wusste, dass sie das nicht waren.
Die Valoren konnten bluten und sterben wie alle anderen auch, doch sie lebten nicht wie alle anderen. Sie gaben sich nicht damit zufrieden, einfach nur zu überleben. Jacks war nicht mal sicher, ob sie dazu überhaupt in der Lage wären. Bevor sie in den Valorien eingesperrt worden waren, hatten sie über ein Königreich regiert, das den halben Kontinent umspannte, und er hatte keinen Zweifel daran, dass die Valoren die Welt auch dieses Mal unumkehrbar verändern würden.
Er sprang von seinem Pferd und band es an einen Pfahl knapp außerhalb von Merrywood Dorf. Die Valoren hatten noch nicht damit begonnen, das Herrenhaus wiederaufzubauen. Sie hatten mit dem Dorf angefangen. Vermutlich hielten sie sich irgendwo ganz in der Nähe auf, weshalb Jacks davon ausging, dass auch Castor hier und nicht mehr in seiner alten Krypta in Valorfell war.
Wie schon der Wald kehrte auch Merrywood Dorf bereits ins Leben zurück. Als Jacks den Dorfplatz betrat, roch es nach frisch geschlagenem Holz. Es war ein alter Platz um einen großen Brunnen, um den sich einmal Geschäfte gereiht hatten – ein Schmied, eine Apotheke, eine Bäckerei, ein Metzger, ein Kerzenmacher. Außerdem war der tägliche Obst- und Gemüsemarkt auf diesem Platz abgehalten worden.
Einen Moment lang dachte Jacks daran, wie er sich nachts davongeschlichen hatte, um sich auf dem Dach der Apotheke mit seinen Freunden zu treffen. Sie hatten sich auf den Rücken gelegt, zu den Sternen hinaufgeschaut und mit all den Dingen angegeben, die sie einmal tun würden, als hätten sie alle Zeit der Welt. Als wären ihre Tage nicht gezählt gewesen.
Er sah auf, auch wenn er nicht erwartete, Castor auch heute auf dem Apothekendach vorzufinden. Aber es überraschte ihn auch nicht sonderlich, als er ihn tatsächlich sah.
Einer der Nachteile der Unsterblichkeit war die Neigung, in der Vergangenheit festzuhängen. In der Zeit, bevor der Unsterbliche aufgehört hatte zu altern. Ganz gleich, wie viele Jahre Jacks lebte, die Tage, in denen er ein Mensch gewesen war, standen ihm immer am klarsten vor Augen und schienen nie zu verblassen. Was ein weiterer Nachteil der Unsterblichkeit war – diese endlosen, verstörenden Erinnerungen, die der Sterblichkeit immer die Illusion verliehen, lebendiger zu sein als die Unsterblichkeit. Manchmal hasste Jacks die Menschen dafür, doch in Castor weckte es vermutlich den Wunsch, wieder ein Mensch zu sein.
»Kommst du runter, oder muss ich erst die Apotheke abfackeln?«, rief Jacks hinauf.
»Diese Drohung wäre wirkungsvoller, wenn du eine Fackel oder etwas in der Art dabeihättest«, antwortete Castor. Einen Moment später landete er leichtfüßig auf dem Boden vor Jacks und lehnte sich mit dem Ellbogen gegen die Wand der verfallenen alten Apotheke. Nun, da sein Helm verschwunden und seine Familie zurückgekehrt war, wirkte er wieder mehr wie Castor, der noble und vollkommen sorglose Prinz, und nicht mehr so sehr wie Chaos, der leidgeprüfte, hinter seinem Helm gefangene Vampir, der kein Blut trinken konnte.
Für den Bruchteil eines Augenblicks durchzuckte Jacks so etwas wie Eifersucht.
»Was hat dir denn die Laune verdorben?«, fragte Castor. »Hast du wieder Evangeline beobachtet?«
»Ich bin nicht ihretwegen hier«, gab Jacks scharf zurück.
»Aber du bist ganz schön empfindlich, wenn es um sie geht.«
Finster sah Jacks ihn an. »Für jemanden, der gerade eine ganze Familie abgeschlachtet hat, hast du verstörend gute Laune.«
Sofort verdüsterte sich Castors Miene. Hitze sickerte in seinen Blick, der nun weniger hungrig und dafür immer bedrohlicher wirkte.
Wenn Jacks sein eigenes Leben wichtig gewesen wäre, dann hätte er sich vielleicht erschreckt. Doch Jacks empfand in letzter Zeit nicht mehr sonderlich viel, es sei denn, es ging um Evangeline, und auch die Gedanken an sie versuchte er, so gut es ging, zu vermeiden.
Alles, was ihn von ihr ablenkte, war besser – abgesehen von dem hier vielleicht. Castor war sein ältester Freund, und Jacks wollte ihn nicht hassen, doch wenn er Castor betrachtete, sah er immer noch vor sich, wie sich seine Zähne in Evangelines Hals gebohrt und ihr das Leben entrissen hatten.
Castor hatte keine Ahnung, dass diese Version der Vergangenheit überhaupt existierte, daher war es nicht ganz fair, ihn dafür zu verurteilen, doch es war Jacks schon lange nicht mehr wichtig, was fair war und was nicht.
»Wenn du hier bist, um mir Vorwürfe zu machen«, sagte Castor, »dann will ich sie nicht hören.«
»Ich werd’s kurz machen. Du musst dich in den Griff bekommen. Sonst werden es deine Eltern herausfinden, und vielleicht setzen sie dir dieses Mal keinen Helm auf, sondern schaufeln dir dein Grab.«
Castor rieb sich das Kinn. »Das würden sie nicht tun.«
»Sie sind immer noch Menschen, Castor. Menschen tun viele dumme Dinge, wenn sie Angst haben.«
Genau wie Jacks damals. Und am schlimmsten war, dass er dabei geglaubt hatte, das Richtige zu tun. Wie an dem Tag, an dem Castor gestorben war.
Jacks war derjenige gewesen, der von Castors Mutter Honora verlangt hatte, ihn von den Toten zurückzuholen.
Castor, Lyrik und Jacks waren beste Freunde gewesen. Mehr wie Brüder. Lyrik war gerade gestorben, und Jacks konnte nicht auch noch Castor verlieren. Er hatte nicht darüber nachgedacht, was es kosten würde, ihn ins Leben zurückzubringen. Er hatte sich nicht vorgestellt, wie viel Blut vergossen werden würde. Einer der Gründe, warum er zugelassen hatte, dass er sich in eine Schicksalsmacht verwandelte, war der, dass Castor dann nicht allein bleiben musste. Dann hatte er das Gerücht in die Welt gesetzt, Castor wäre Chaos und Chaos wäre eine Schicksalsmacht, damit niemand dahinterkam, dass er in Wahrheit der Letzte der Valoren war.
»Ich versuche nur, auf dich aufzupassen«, erklärte Jacks. »Du bist den Helm endlich los, und du hast deine Familie zurück. Ich will nicht zusehen, wie du diese Chance zerstörst.«
Castor schnaubte höhnisch. »Ich bin hier nicht derjenige, der sein Leben zerstört.«
»Was soll das denn heißen?«
»Ich habe mit meiner Schwester gesprochen. Aurora hat mir erzählt, was du willst und was du dafür zu opfern bereit bist.«
»Deine Schwester …« Jacks hielt sich zurück. Sogar er wusste es besser, als die Zwillingsschwester eines Vampirs mit Selbstbeherrschungsproblemen zu beleidigen. Auch wenn es verlockend war. Er fühlte, wie sich seine Hände zu Fäusten ballten, doch es war nicht Castor, den er schlagen wollte. »Ich weiß, was ich tue.«
Wieder musterte der Vampir ihn durchdringend. »Falls Evangeline ihre Erinnerungen jemals zurückbekommt, wird sie dir das hier nie verzeihen.«
»Wenigstens wird sie am Leben sein, um mich hassen zu können.«