Evangeline
Evangeline kämpfte immer noch gegen die Handschellen an. Sie brauchte nur einen einzigen Tropfen Blut. Sie musste sich und Jacks retten – wenn sie dies hier nicht überlebte, dann wollte sie sich nicht vorstellen, was aus ihm werden würde.
So durfte ihre Geschichte nicht enden.
Evangeline wusste, dass Jacks ihr gesagt hatte, Helden würden nie ein glückliches Ende bekommen, aber das bedeutete nicht, dass es die Schurken haben sollten.
Apollo sah aus, als könnte er sich nach Jacks’ Schlägen kaum noch auf den Beinen halten. Seine Nase war gebrochen und blutete. Sein rechtes Auge war zugeschwollen. Trotzdem brachte er es fertig, sein Schwert hoch über den Kopf zu heben.
Die Klinge glänzte im Mondschein.
Der Boden pulsierte schneller. Winzige Kieselsteine hüpften auf und ab und trafen Evangelines Wangen, als der verstörende Herzschlag des Baums immer intensiver wurde. Pochpochpoch.
Sie hielt den Atem an. Wenn Apollo sie mit dem Schwert durchbohrte, dabei aber nicht tötete, konnte sie sich mithilfe des Bluts endlich von ihren Fesseln befreien.
»Kleine Füchsin!« Jacks warf sich gegen den Griff der Valorensöhne, er schrie und verfluchte jeden in der Höhle. »Kleine Füchsin, es tut mir leid.« Seine gequälte Stimme hallte zum Himmel empor.
Er klang so verstört, dass Evangeline in Tränen ausgebrochen wäre, wenn sie nicht schon geweint hätte. Sie wollte ihm sagen, dass es da nichts gab, was ihm leidtun müsste, sie wollte ihm noch einmal versichern, dass alles gut werden würde – aber nur für den Fall, dass es doch anders kam, rief sie: »Ich liebe dich!«
»Sei still«, brüllte Apollo, und dann schwang er sein Schwert. Zischend schnitt die Klinge durch die Luft.
Aber er ließ sie nicht auf Evangeline niederfahren. Stattdessen hackte er einen der scharlachroten Äste vom Baum ab. Blut schoss aus dem Holz hervor.
Noch nie hatte Evangeline etwas so Schauderhaftes gesehen. Fast erwartete sie, der Baum würde aufschreien, aber er schien nur noch lebendiger zu werden, während immer mehr Blut hervorquoll. Sein Stamm wurde röter, wie erhitzte Haut, und er schien sich auszudehnen, als würde er sich für etwas bereit machen.
»Leb wohl, meine Geliebte«, sagte Apollo. Und dann legte er den Mund an den blutenden Ast.
Es war ein widerwärtiger Anblick. Das Blut lief Apollo über die Lippen und das Kinn, während er trank und trank. Er verschluckte sich und hustete ein bisschen, doch als er fertig war, lächelte er mit roten Zähnen und blutigen Lippen.
Davon abgesehen war er makellos.
Eigentlich hätte er schrecklich aussehen müssen. Doch er hatte sich verwandelt. Apollo leuchtete, genau wie Jacks es manchmal tat. Seine Nase war nicht mehr gebrochen. Seine Augen waren nicht länger geschwollen. Apollos Blick war golden und so strahlend hell wie die Sterne über ihnen.
»Ich fühle mich wie ein Gott.« Er lachte laut auf.
Der Boden pulsierte immer schneller und heftiger. So machtvoll, dass Evangelines ganzer Körper bebte. Erde klebte an ihren Wangen, und sie rollte sich ein Stück fort vom Baum.
Als sie wieder aufsah, stolperte Apollo leicht. Sofort richtete er sich wieder auf, taumelte jedoch erneut, als er versuchte, vor dem Baum zurückzuweichen. Seine leuchtende Haut wurde grau, und sein schönes Gesicht verwandelte sich in eine Grimasse, als er versuchte, einen weiteren Schritt zu gehen.
»Was passiert hier?« Mit schmerzverzerrter Miene richtete er den anklagenden Blick auf Wolfric.
»Ich habe Euch gewarnt«, erklärte Wolfric. »Ich habe Euch gesagt, wenn Euch Euer Leben lieb ist, dann solltet Ihr diesen Baum vergessen.«
Auf einmal fiel Apollo auf die Knie und grub eine Hand in die Erde, als versuchte er, irgendwo Halt zu finden. »Ihr habt mir gesagt, er würde sich das Leben der Person holen, die ich am meisten liebe.«
»Genau das tut er auch«, entgegnete Wolfric. »Er holt Euch.«
Der Boden bebte. Steine und Erdklumpen wurden in die Luft geschleudert, als lange, fingerähnliche Wurzeln daraus hervorbrachen und sich nach dem Prinzen ausstreckten.
»Aufhören!«, schrie Apollo. Die Äste des Baums schlossen sich wie Gitterstäbe eines Käfigs um ihn.
»Nein! Das ist falsch – du solltest nicht mich holen.«
Evangeline sah, wie er wild mit dem Schwert um sich schlug. Tränen liefen Apollo über die Wangen, als er ein weiteres Mal ausholte, doch ein dicker Ast fing die Klinge ab, und sie blieb im Holz stecken. Sofort schleuderte der Baum das Schwert fort, und es landete klirrend neben Evangeline.
Die Gesichter im Stamm bewegten sich. Ihre Lippen kräuselten sich, und sie rissen die Augen immer weiter auf, während sich die Äste enger um Apollo schlossen und ihn auf den Stamm zuzogen.
Apollo krallte die Finger in die Rinde und kreischte: »Du sollst sie nehmen, nicht mich!«
Noch nie hatte Evangeline etwas so Schreckliches gesehen. Der Stamm riss auf wie ein Maul, das den Prinzen verschlingen würde.
Apollo stieß einen panischen Laut aus, der irgendwo zwischen dem Weinen eines Kindes und dem Schrei eines Tieres angesiedelt war.
Evangeline schloss die Augen, aber die Schreie konnte sie nicht aussperren.
»Nein«, heulte Apollo. »Bitte nicht …«
Mitten im Satz verstummte er.
Stille.
Allumfassend.
Ungebrochene Stille erfüllte die Höhle mit derselben Intensität wie Apollos Schrei gerade eben noch.
Kein Kreischen.
Kein Weinen.
Keine knarrenden Äste.
Kein pulsierender Herzschlag.
Vorsichtig öffnete Evangeline die Augen. Der Seelenbaum sah genauso aus wie zuvor. Doch im Stamm war ein weiteres entsetztes Gesicht gefangen.