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Evangeline

Aurora Valors schillernde Röcke breiteten sich in einem perfekten Kreis um sie aus, als sie anmutig zu Boden sackte. Strähnen ihres violetten Haars fielen ihr in die Stirn, auf der nur eine schwache Sorgenfalte zu erkennen war. Ihre Miene wirkte beinahe abgeklärt. Aurora erinnerte Evangeline an eine Jungfrau in Nöten, die geduldig auf ihren Prinzen wartete.

Als sie jedoch genauer hinsah, erkannte sie, dass Auroras Gefasstheit nur eine hauchdünne Fassade war und nicht ihre wahren Gefühle widerspiegelte.

Ihre hübschen Augen wurden hart und ihre melodische Stimme klang bitter, als sie zu Evangeline aufsah und fragte: »Wie hast du das gemacht? Warum hat er sich ausgerechnet in dich verliebt?«

»Na ja, sie ist jedenfalls kein durchgedrehtes Miststück wie du«, antwortete LaLa.

Aurora zuckte zurück. Ein weiteres Stück ihrer Fassade splitterte ab, als sich ihr Mund zu einer hässlich finsteren Fratze verzog.

»Wo ist Jacks?«, verlangte Evangeline zu erfahren. »Und was hast du mit seinem Herzen gemacht?«

Aurora lachte auf. »Du glaubst, ich bin daran schuld, dass er das da getan hat?« Sie griff nach dem Fuchsschwanz und wedelte damit achtlos hin und her, während die arme Füchsin mit leeren Augen dort lag. »Sosehr ich die Symbolik auch zu schätzen weiß, ich hatte damit nichts zu tun.«

»Das glaube ich dir nicht, denn ich weiß, dass du ihn verflucht hast«, gab Evangeline zurück. »Ich habe dein altes Zauberbuch gefunden. Du bist der Grund, warum er seine erste große Liebe getötet hat, die junge Frau, die sich in einen Fuchs verwandeln konnte.«

»Schon, aber ich bin nicht der Grund für das hier.« Aurora ließ den Schwanz des toten Fuchses fallen. »Das hat Jacks ganz allein getan, für dich.« Ihre Stimme klang verzerrt vor Eifersucht, als wollte sie Jacks ebenso sehr wehtun, wie sie sich nach seiner Liebe sehnte.

»Du bist diejenige, die ihm sein Herz genommen hat«, widersprach Evangeline.

»Ich habe es ihm nicht genommen! Er hat es mir freiwillig gegeben. Aber ich habe es nicht mehr.«

»Wie kannst du es nicht mehr haben?«, fragte LaLa misstrauisch.

Aurora warf den Kopf zurück und ließ ihn in einer weiteren dramatischen Pose gegen den Baumstamm sinken. »Jacks ist vorhin zu mir gekommen und hat sein Herz zurückverlangt. Als ich es ihm nicht geben wollte, hat er mich niedergeschlagen.« Sie deutete auf den immer größer werdenden Bluterguss an ihrer Schläfe. »Als ich wieder zu mir gekommen bin, war Jacks fort. Genau wie sein Herz.«

»Das ergibt keinen Sinn«, widersprach Evangeline. »Wenn Jacks sich sein Herz zurückgeholt hat, warum sollte er das alles hier dann tun?« Sie deutete auf den toten Fuchs.

Aurora lachte erneut auf. »Glaubst du, er hat sich sein Herz geholt, weil er es zurückhaben will?« Ihr Lachen wurde noch fröhlicher und lauter.

»Ich glaube, wir sollten lieber machen, dass wir hier wegkommen«, murmelte LaLa.

»Das solltet ihr«, bestätigte Aurora immer noch lachend. »Sobald Jacks sein Herz zerstört hat, wird er zurückkommen, und dann wird er nicht nur eine wilde Füchsin töten.«

Wieder begann Aurora, mit dem Fuchsschwanz zu spielen. Sie ließ ihn hin und her fegen, immer hin und her, während das Blut immer schneller und heißer in Evangelines Ohren rauschte.

Vielleicht hatte LaLa etwas gesagt, doch Evangeline konnte es über die Worte hinweg nicht hören, die ihr immer und immer wieder durch den Kopf rauschten. Sobald Jacks sein Herz zerstört hat.

Sie wollte glauben, dass Aurora nur fies zu ihr war. Dass Aurora versuchte, sie zu quälen. Sie wollte erwidern, Jacks würde sein Herz niemals zerstören, aber sie hätte auch niemals geglaubt, dass Jacks mit seinem Herzen handeln würde. Zu den Dingen, die sie an Jacks liebte, gehörten seine Entschlossenheit, seine Tatkraft und seine Hartnäckigkeit, mit der er die Dinge verfolgte, die er sich am meisten wünschte. Sie wollte nicht glauben, dass er sich nun vor allem wünschte, nichts mehr zu empfinden. Dass er sein Herz so sehr hasste. Dass er die Liebe und mit ihr einfach alles aufgeben würde, und zwar endgültig.

Sie wollte schreien und fluchen. Sie wollte auf die Knie fallen und weinen.

Jacks war der Prinz der Herzen – fast sein ganzes Leben lang hatte er nach der Liebe gesucht. Und hier war sie nun – und er gab einfach auf?

»Wohin ist er gegangen?«, fragte sie Aurora. »Und wie kann ich ihn aufhalten?«

»Gar nicht.« Aurora seufzte und ließ den Kopf ermattet zur Seite sinken, als wäre sie diejenige, der dies alles die größten Unannehmlichkeiten bereitete. »Ich habe euch doch schon erklärt, dass ihr zu spät kommt.«

»Sag mir einfach, wohin er gegangen ist!«

Aurora rollte mit den Augen. »Er hat mir seine Pläne nicht detailliert erklärt, bevor er mich niedergeschlagen hat.«

»Ich weiß, wohin er gegangen ist«, sagte LaLa leise. »Es gibt nur eine Möglichkeit, sein zweites Herz zu zerstören.«

»Wie?«, fragte Evangeline.

LaLa schluckte schwer und sah sie schuldbewusst an. »Es tut mir leid, Evangeline.«

»Was tut dir leid?«

»Wenn ich nicht gewesen wäre, dann könnte Jacks jetzt nirgendwohin. Das zweite Herz ist sehr mächtig, und es kann nur im Feuer vernichtet werden. Und nicht in irgendeinem gewöhnlichen Feuer.«

»Woher weißt du das?«, fragte Evangeline.

LaLa wirkte immer noch gequält. »Nachdem Dane in den Valorien eingesperrt wurde, wollte ich mein Herz auch zerstören.«

»Du wolltest dein Herz wegen Dane zerstören?« Aurora kicherte.

LaLa funkelte sie an. Einen Moment lang vermutete Evangeline, dass sie sich die Sache mit dem Foltern noch einmal durch den Kopf gehen ließ.

»Du kannst sie quälen, nachdem du mir gesagt hast, wo Jacks deiner Meinung nach sein Herz zerstören will«, fuhr Evangeline dazwischen.

»Die einzige Möglichkeit, sein zweites Herz zu vernichten, ist das Feuer eines königlichen Phönixbaums.«

»Du hast einen Phönixbaum gepflanzt? Bist du irre?« Aurora stemmte sich auf die Füße hoch, und auf einmal sah sie aus, als hätte sie wirklich Angst. Ihre Wangen brannten zornesrot. Offenbar hatte sie im Grunde nicht daran geglaubt, es könnte Jacks tatsächlich gelingen, sein Herz zu zerstören. Sie hatte mit Evangeline gespielt und sie zum Vergnügen verhöhnt.

»Wo hast du den Baum gepflanzt?«, wollte Aurora wissen.

»Als ob ich dir das verraten würde«, gab LaLa zurück.

Aurora wandte sich an Evangeline. »Weißt du, wo er ist?«

Evangeline hatte so eine Ahnung, aber das würde sie Aurora bestimmt nicht verraten. Sie hatte den Baum an ihrem allerersten Abend im Fantastischen Norden gesehen.

Am ersten Abend der Nimmer Endenden Nacht hatte Apollo auf einem Ast eines Phönixbaums für ein Porträt posiert. Damals war ihr der eindrucksvolle Baum sogar noch vor dem Prinzen ins Auge gefallen.

Ihre Mutter hatte ihr die Legende der Phönixbäume erzählt, genau wie ihre ehemalige Tutorin Madame Voss. Die Blätter eines Phönixbaums brauchten tausend Jahre, um sich langsam in Gold zu verwandeln – in echtes Gold – , doch wenn man auch nur eines dieser Blätter pflückte, bevor sie sich alle verwandelt hatten, ging der gesamte Baum in Flammen auf.

Das musste es sein, was Jacks vorhatte. Er wollte ein Goldblatt pflücken und damit den Baum in Brand stecken, und dann wollte er sein Herz ins Feuer werfen. Sie hatte keinen Zweifel daran, dass er es tatsächlich tun würde. Wenn sie ihn nicht aufhielt.

»Ich will nicht, dass Jacks sein Herz tatsächlich vernichtet«, sagte Aurora. »Wenn du mir verrätst, wo du den Baum gepflanzt hast, kann ich Evangeline zeigen, wie sie mithilfe eines Bogens dorthin kommt.«

»Ich will deine Hilfe nicht«, entgegnete Evangeline. »Ich traue dir nicht.« Glücklicherweise konnte sie darauf hoffen, Auroras Hilfe auch gar nicht zu brauchen. Sie glaubte zu wissen, wo LaLa den Phönixbaum gepflanzt hatte – sie musste nur dorthin kommen, bevor Jacks den Baum erreichte.

»LaLa, wo befindet sich der nächste Bogen?«, fragte sie.

Wenn LaLa ihr sagen konnte, wo der Bogen war, würde sie den Bogen bestimmt dazu bringen können, sie auf die Lichtung mit dem Baum zu bringen. Ihr Blut öffnete jede Tür, und ganz besonders die Bögen reagierten immer auf sie.

»Ich komme mit dir«, sagte LaLa.

»Danke«, erwiderte Evangeline. »Aber ich glaube, dieses Mal muss ich allein gehen. Wenn ich Jacks retten will, dann geht das nicht mit Gewalt.«

»Und wie willst du ihn dann retten?«, wollte Aurora wissen.

»Durch die Liebe.«

Wieder lachte Aurora. Und der Klang wurde immer hässlicher.

Evangelines Wangen wurden heiß, aber sie würde sich nicht schämen. »Liebe ist nichts, worüber man lachen sollte.«

»Heute schon. Denn weißt du, Evangeline, selbst wenn du Jacks Herz retten kannst, wird das nicht reichen, um dich auch selbst zu retten. Wenn du ihn jemals küsst, dann wirst du sterben. Es spielt keine Rolle, ob deine Liebe die wahrhaftigste Liebe aller Zeiten ist.«

Evangeline rief sich in Erinnerung, dass Aurora eine Lügnerin war. Bis gerade eben war diese ganze Situation eine einzige Scharade gewesen. Nun jedoch machte Aurora nicht den Eindruck, als würde sie ihr etwas vorspielen. Sie wirkte verstörend triumphal.

»Als ich erkannt habe, dass Jacks das Fuchsmädchen niemals töten würde, habe ich ihn mit einem weiteren Fluch belegt«, erzählte Aurora. »Aber der Geschichtenfluch hat die Wahrheit verdreht. Nicht Jacks wahre Liebe wird es sein, der sein Kuss nichts anhaben kann und die sein Herz wieder zum Schlagen bringt. Nur eine Frau, die Jacks niemals lieben wird, kann seinen Kuss überleben. Deine Liebe kann vielleicht sein Herz retten, aber wenn du beschließt, ihn zu küssen, dann wirst du nur eine weitere Füchsin sein, die Jacks getötet hat.«