Evangeline
Obwohl Evangeline das Schloss nicht verlassen durfte, um Mr Kristof Knightlinger einen Besuch abzustatten, wurde ihr am folgenden Morgen eines seiner Skandalblätter mitsamt dem Frühstückstablett serviert.
Das war es nicht, was Evangeline wollte. Sie wollte Mr Knightlinger immer noch persönlich besuchen und ihn darum bitten, ihr alles zu sagen, was er über ihre Vergangenheit wusste.
Sie hätte sich sogar damit zufriedengegeben, wenn der Klatschreporter zu ihr ins Schloss gekommen wäre. Da Mr Knightlinger jedoch nicht auf ihren Brief vom Vortag geantwortet hatte, rollte sie sich stattdessen auf dem Sofa zusammen, um das Skandalblatt zu lesen.
Das Gerücht des Tages
MITTERNÄCHTLICHER AUFBRUCH
Von Kristof Knightlinger
Gestern schwirrte in Wolf Hall das Gerücht umher, dass Garrick of the Greenwood, der Anführer der Gilde der Helden, zu einer privaten Unterredung mit Prinz Apollo ins Schloss gekommen sei. Natürlich hat es mich nicht überrascht zu hören, dass sich Prinz Apollo mit dem geheimnisvollen Helden trifft, um den heimtückischen Lord Jacks zu finden. Was mich allerdings durchaus überrascht hat, war die Nachricht von Prinz Apollos mitternächtlichem Aufbruch nur wenige Stunden später.
Meinen eifrigen Quellen zufolge wurde der Prinz dabei gesehen, wie er Punkt Mitternacht mit nur einem seiner vertrautesten Wachsoldaten vom Schloss fortritt.
Wohin wollte er?
Soweit ich weiß, ist er noch nicht zurückgekehrt, weshalb uns nur Fragen bleiben. Hat er beschlossen, sich selbst auf die Jagd nach Lord Jacks zu machen? Oder gibt es ein weiteres Geheimnis, das ihn von Wolf Hall und seiner geliebten Evangeline Fox fortlocken konnte?
Evangeline wollte nicht neugierig werden. Sie wollte weiter sauer auf Apollo sein – und das war sie auch. Ihre Schulter tat dort, wo Garricks Vogel ihr die Haut aufgerissen hatte, immer noch weh, und ihr Herz schmerzte, wenn sie daran dachte, dass Apollo eben nur manchmal der liebevolle Prinz von der Turmspitze war. Trotzdem, ob sie nun wollte oder nicht, sie fragte sich doch, wohin er gegangen war.
Während sie in ein durchschimmerndes pfirsichfarbenes Kleid schlüpfte, das mit kleinen rosa, weißen und violetten Blumen bestickt war, fragte sie Martine, ob sie irgendetwas über die Abreise des Prinzen wusste. Doch die Zofe hatte genau wie sie nur aus dem Skandalblatt davon erfahren.
Dann würde sie also ihre Wachen fragen müssen. Evangeline zupfte die Bänder zurecht, die ihre gerafften Ärmel hielten, und wappnete sich für eine mögliche Auseinandersetzung, bevor sie auf die Tür ihrer Gemächer zuschritt. Als sie in den Korridor hinaustrat, entdeckte sie, dass zwei neue Wachen in schimmernder Rüstung sie dort erwarteten.
»Hallo, Eure Hoheit.« Die Wachen begrüßten sie mit einer tiefen Verbeugung und schenkten ihr ihre gesamte Aufmerksamkeit.
»Ich bin Hansel.«
»Und ich heiße Victor.«
Evangeline vermutete, dass sie Brüder waren – sie hatten das gleiche Grübchen am Kinn und sogar den gleichen roten Schnurrbart. Kurz fragte sie sich, ob wohl alle Wachsoldaten Schnurrbart tragen mussten.
»Was können wir für Euch tun?«, fragte Hansel lächelnd.
Kurz hatte Evangeline vergessen, warum sie die Tür überhaupt aufgemacht hatte. Beide Wachen waren neu, und bisher schienen sie wirklich nett zu sein.
Apollo hatte Wort gehalten.
Natürlich war es für ihn sicher ein Leichtes, ein paar Soldaten auszutauschen. Wahrscheinlich standen ihm Tausende davon zur Verfügung. Trotzdem wurde Evangelines Herz ein kleines bisschen weicher.
»Kann mir einer von Euch sagen, wohin Prinz Apollo gegangen ist?«
»Es tut uns leid, Eure Hoheit, Seine Hoheit hat uns nicht gesagt, wohin er wollte«, erklärte Hansel.
»Aber wir haben eine Nachricht für Euch«, warf Victor ein. »Eure Tutorin ist gerade hier gewesen und hat uns gebeten, Euch dies hier zu geben.« Damit reichte er Evangeline eine mit einer weinroten Schnur zusammengebundene Schriftrolle.
Es gab kein Wachssiegel, weshalb es kein vertraulicher Brief war. Und schon war sie wieder auf der Hut.
Fast hätte sie die Nachricht ihrer Tutorin nicht gelesen – eine anständige Gefangene würde sich nicht begierig auf weitere Anweisungen stürzen. Doch da sie die Schnur schon gelöst hatte, las sie nun auch den Brief.
Unter der Unterschrift der Tutorin war eine gewissenhafte Karte der Gärten von Wolf Hall gezeichnet. Dann, in einer so kleinen Schrift, dass Evangeline es fast übersehen hätte, stand dort noch: Bitte kommt!
Evangeline wusste nicht, ob es das Wort »Bitte« oder das Ausrufezeichen war, was sie so verdutzte. Vielleicht lag es auch an beidem zusammen, aber sie hatte das Gefühl, dass hinter dieser Nachricht mehr steckte, als es den Anschein hatte.
Die Turmglocken schlugen elfmal, als Evangeline aus dem Schloss trat.
Der Himmel war samtig grau und voller wirbelnder Wolken, die mit weiterem Regen drohten und Evangeline dazu trieben, eilig den Kopfsteinpflasterpfad entlangzulaufen, der von Hecken und helllila Blumen gesäumt wurde.
Auf den Ländereien von Wolf Hall gab es vier große Gärten – den Versunkenen Garten, den Wassergarten, den Blumengarten und den Alten Garten. In der Mitte dieser Gärten waren wiederum vier kleinere Gärten angelegt worden: der Feengarten, der Moosgarten, der Geheime Garten und der Wunschgarten.
Der sorgfältig gezeichneten Karte der Tutorin zufolge befand sich der Wunschgarten mit dem Wunschbrunnen in der Mitte des Blumengartens. Offenbar war der Garten ummauert und von einem Burggraben eingefasst, über den eine Zugbrücke führte.
Es dürfte nicht schwer werden, ihn zu finden. Die Karte war ziemlich gut, und der Blumengarten war perfekt gehegt und gepflegt.
Der Regen des gestrigen Tags hatte die Schlossländereien in tiefe, feuchte Farben getaucht, so intensiv, dass Evangeline glaubte, ihre Handschuhe würden Flecken bekommen, wenn sie über die Blütenblätter strich. Es war so schön, dass sie es sich fast anders wünschte. Evangeline wollte sich nicht von der Schönheit bezaubern lassen. Es wäre ihr so vorgekommen, als würde sie Apollo nachgeben.
Trotzdem war es schwer, sich dem Zauber völlig zu verschließen. Der Silbernebel wirbelte wie Magie über den Boden und hüllte die Bäume und Büsche in dunstiges Funkeln. Der Nebel war so hübsch, dass Evangeline gar nicht merkte, wie dicht er war, bis ihr plötzlich auffiel, dass sie nichts mehr sehen konnte außer dem Steinpfad direkt vor ihren Füßen. Sie konnte nicht einmal mehr die Umrisse ihrer Wachen hinter ihr ausmachen.
Fast hätte sie nach ihnen gerufen, um sich zu vergewissern, dass sie ihr immer noch folgten. Doch dann überlegte sie es sich anders.
Eigentlich wollte sie ja gar nicht von Wachen verfolgt werden … und da kam ihr eine verwegene Idee.
Vielleicht war es ja Teil des Plans ihrer Tutorin, dass sie ihre Wachen abschüttelte. Vielleicht hatte sie Evangeline allein treffen wollen. Die Frau war angeblich eine Expertin, was Wolf Hall und die Königsfamilie betraf, also musste sie geahnt haben, dass der Garten so nebelverhangen sein würde. Vielleicht hatte die Tutorin dies arrangiert, um Evangeline etwas zu sagen, das sonst niemand hören sollte.
Möglicherweise war es ja zu viel, darauf zu hoffen, dass ihr dieses Etwas dabei helfen konnte, ihre Erinnerungen wiederzufinden, trotzdem lief sie unwillkürlich schneller.
»Prinzessin, könntet Ihr bitte langsamer gehen?«, rief Hansel. Oder vielleicht war es Victor. Sie konnte die Stimmen nicht auseinanderhalten, sie hörte nur, dass sie nun beide nach ihr riefen.
»Wir scheinen Euch verloren zu haben!«, brüllte einer von ihnen.
Doch Evangeline lief noch schneller und verließ den Pfad, damit ihre Stiefelschritte gedämpft wurden und die Wachen ihr noch schlechter folgen konnten. Der Boden unter ihr war aufgeweicht und nass. Blütenblätter klebten an ihrem Mantelsaum und an ihren Stiefeln.
Ding-Dong!
In der Ferne schlug die Turmuhr halb zwölf.
Evangeline fürchtete, sie würde zu spät kommen, doch dann sah sie die Brücke, die in den ummauerten Wunschgarten führte. Rasch eilte sie darüber und hinterließ eine Spur aus Schlamm und Blütenblättern, die es den Wachen leicht machen würde, ihr zu folgen, sobald sie ihr wieder näher kamen. Hoffentlich würden ihr wenigstens ein paar Momente allein mit Madame Voss bleiben.
Am anderen Ende der Brücke lichtete sich der Nebel leicht und enthüllte eine altersfleckige abgerundete Tür. Evangeline hatte den Eindruck, dass sie einmal in einem leuchtenden Bronzeton geschimmert hatte, doch im Laufe der Zeit war diese Farbe verblasst wie eine Erinnerung, die eines Tages ganz verschwinden würde.
Der Türknauf war mit einer grünen Patina überzogen, die sie an eine Geschichte erinnerte, die sie einmal über einen Türknauf gelesen hatte, der an den Händen jener, die sich um ihn schlossen, erkennen konnte, was für ein Herz diese Person hatte. Danach entschied der Türknauf, wen er einlassen sollte.
Evangeline konnte sich nicht daran erinnern, wen dieser Türknauf beschützte, aber sie wusste noch, dass jemand mit einem bösen Herzen sich dieses Herz aus der Brust genommen und den Türknauf so überlistet hatte. Was danach geschehen war, wusste sie nicht mehr, aber sie wollte sich jetzt auch nicht die Zeit nehmen, um innezuhalten und darüber nachzudenken. Sie musste den Garten erreichen, bevor die Wachen sie einholten.
Nebel wirbelte um ihre Stiefel, als sie den Garten betrat. Im Gegensatz zum Rest der königlichen Ländereien wurde dieser rechteckige Fleck von rebellischen Blumen und trunkenen Ranken überwuchert, die sich um die ausladenden Bäume wanden und von den Ästen herabhingen wie Girlanden auf einem Fest. Der Pfad war vollkommen überwachsen von blaugrünem Moos, das sich vor ihr erstreckte wie ein Teppich und zu einem kleinen Brunnen führte, der wundersamerweise unberührt von den verwilderten Pflanzen geblieben war.
Er war weiß, und darüber spannte sich ein Steinbogen, an dem ein Seil mit einem goldenen Eimer hing. Während sich Evangeline näherte, begann es wieder zu regnen.
Sie sah sich nach ihrer Tutorin um. Ihr Blick huschte von Baum zu Baum und zurück zu der seltsamen Tür, doch sie konnte niemanden sehen. Still lag der Garten da, abgesehen von dem allmählich lauter werdenden Prasseln des Regens. Was als leises Tröpfeln angefangen hatte, verwandelte sich rasch in einen ausgewachsenen Wolkenbruch.
Evangeline schlug die Kapuze ihres Mantels hoch und wünschte sich ihre Tutorin herbei. Dann fiel ihr wieder ein, was ganz unten auf der Nachricht gestanden hatte.
Natürlich werde ich versuchen, pünktlich zu sein, sollte ich aber zu spät kommen, dann zögert nicht, Euch etwas zu wünschen.
Evangelines erster Gedanke war, sich zu wünschen, ihre Tutorin würde endlich erscheinen. Was aber eine alberne Verschwendung eines Wunsches gewesen wäre. Sie fragte sich außerdem, ob ihre Tutorin dies vielleicht im übertragenen Sinn gemeint hatte.
Vielleicht war da etwas an diesem Brunnen, das Evangeline finden sollte. Sie sah ihn sich genauer an und machte sich auf die Suche nach einem Hinweis. Da schien etwas in die Ziegelsteine geritzt zu sein.
Sie konnte die Worte »Anweisung für Wünsche« entziffern, doch alles andere war so verblasst, dass sie sich weiter vorbeugen musste …
Da versetzte ihr jemand von hinten einen Stoß.
Evangeline schrie und versuchte, sich am Brunnenrand festzuklammern, doch der Stoß war zu kraftvoll gewesen und hatte sie vollkommen unvorbereitet getroffen.
Sie fiel nach vorn und stürzte wie ein Stein hinab …