Kapitel 3

 

»Die Leute müssen verrückt gewesen sein, finden Sie nicht, Mister?« Das Mädchen runzelte wie missbilligend die Stirn. Es mochte etwa acht Standardjahre alt sein, war jedoch recht groß, was bedeutete: Wahrscheinlich stammte es aus einer der kleineren marsianischen Kolonien, deren Bewohner die natürliche Schwerkraft bevorzugten. Doch die Kleidung – ein Lacrosse-Trikot der Intersystem-Meisterschaft über einem weiten Overall, dazu Skorcher-Mokassins – entsprach der anderer Kinder: Sie war in den Kuppeln der Venus ebenso gebräuchlich wie in den Hohlzellen von Triton. Das Solsystem hatte einst mit Abenteuern gelockt, doch inzwischen stellte es eine große Stadt dar, die nur eine Millionstel Subraum-Sekunde durchmaß.

Leonard McCoy kratzte sich an sechs Wochen alten Stoppeln, die allmählich zu einem Bart zusammenwuchsen. Es war eine Sache, wieder daheim zu sein und in einer Blockhütte zu wohnen, umgeben von der wie unberührt wirkenden Natur eines Schutzgebietes, aber dies hier … Die Zivilisation weckte Unruhe in ihm, und er fragte sich, wann der Mond so sehr ausgebaut und zivilisiert worden war. Vor einigen Jahrzehnten hatte hier alles ganz anders ausgesehen.

»Finden Sie nicht, Mister?«, ertönte es noch einmal.

McCoy sah zu dem Kind, das neben ihm am Geländer stand. »Hat dir deine Mutter nie gesagt, dass man nicht mit Fremden reden soll?«

Das Mädchen blinzelte kurz. »Sie sind kein Fremder, Mister«, behauptete es. »Ich habe einmal mit einem Andorianer gesprochen. Sie hören durch die Fühler-Dinger auf ihren Köpfen. Sehen aus wie zwei blaue Würmer, die sich durch die Schädeldecke gebohrt haben.« Das Kind schüttelte den Kopf. »Andorianer sind seltsam. Auf sie trifft die Bezeichnung ›Fremde‹ zu.«

»Nun, junge Dame … Andorianer halten uns für seltsam, weil unsere Ohren flach an der Seite des Kopfes sitzen. Sie fragen sich, wie wir überhaupt etwas hören können. Und im Vergleich mit ihnen hören wir kaum etwas.« McCoy ersparte dem Kind einen Hinweis auf den Frequenzbereich der akustischen Wahrnehmung von Andorianern.

»Meine Güte …!«, staunte das Kind. »Kennen Sie einige Andorianer?«

Das Mädchen ließ sich offenbar von dem Umstand beeindrucken, dass McCoy den einen oder anderen Extraterrestrier kennengelernt haben mochte. Leonards Reaktion darauf bestand aus einem Hauch Niedergeschlagenheit. Was war die Bekanntschaft einiger Andorianer im Vergleich mit der Bedeutung, die diesem Ort zukam? Sie standen hier am Aussichtsgeländer des Parks der Ruhe. Fünfzig Meter jenseits der Wand aus transparentem Aluminium erhob sich die fragil anmutende zweite Stufe des ersten bemannten Raumschiffs, das den Mond der Erde erreicht hatte: Schon seit zweihundert Jahren reflektierte sie ungefilterten Sonnenschein. Der Boden unter den Füßen McCoys und des Mädchens hatte einst absolutes Neuland dargestellt, eine letzte Grenze, die mit Abenteuern lockte, maßgeblichen Einfluss auf die Träume mehrerer Generationen hoffender Menschen ausgeübt hatte.

Jene Pioniere flogen zu einer toten, sterilen Welt, benutzten dabei ›Schiffe‹, die mit chemischen Triebwerken ausgestattet waren und von binären Computern kontrolliert wurden, deren Leistungsvermögen kaum über das Elaborationspotenzial eines Abakus hinausging. Sie kamen hierher, obwohl sie nicht länger als einige Stunden bleiben konnten – und obwohl ihnen keine Technik zur Verfügung stand, die sich sinnvoll auf dem Mond einsetzen ließ. Aus welchem Grund? Um einige Minuten lang in klobigen Schutzanzügen umherzuhüpfen, die aus Dutzenden von einzelnen, per Hand zusammengenähten Schichten bestanden. Um mehrere Kilogramm schwere Bodenproben zu nehmen, Steine und Staub, deren Auswahl dem Zufall überlassen blieb. Tausende von Menschen hatten zusammengearbeitet, um es Armstrong und Aldrin zu ermöglichen, den Mond zu erreichen. Inzwischen waren rund zweieinhalb Jahrhunderte vergangen, und der Landeplatz von Apollo 11 wurde zu einem Ausflugsort insbesondere für Hochzeitsreisende und Schüler von der Erde.

Zivilisation, dachte McCoy betrübt. Tod aller Träume. Er sah auf das Kind hinab und kniff die Augen zusammen. »Wie heißt du?«

»Glynis.«

»Na schön, Glynis. Weißt du, um was es sich bei dem Objekt handelt, das dort draußen neben der alten Fahne steht?«

Das Mädchen nickte sofort. »Es ist die untere Stufe des Lunar Excursion Module Eagle«, verkündete es. »Der Start fand am 16. Juli des Jahres eins neun sechs neun der alten Zeitrechnung statt. Es war die erste von insgesamt zwölf erfolgreichen Mondlandungen vor dem Bau von Basis Eins. Die zuständige Behörde hieß National Space … nein, National Aeronautics and Space Administration. Der entsprechende Staat trug die Bezeichnung Vereinigte Staaten von Nord … von Amerika.« Glynis lächelte fröhlich. »Kommandant: Neil A. Armstrong. Pilot des Landemoduls: Edwin E. Aldrin. Pilot des Zentralmoduls: Michael Collins. Motto: ›Wir kommen in Frieden – für die ganze Menschheit.‹«

McCoy hob verblüfft die Brauen. Es erstaunte ihn nicht, wenn Kinder die Namen aller Lacrosse-Spieler im Solsystem kannten, außerdem ihre jeweiligen Vorlieben in Hinsicht aufs Frühstück und dergleichen. Er hatte sich auch daran gewöhnt, dass Jungen und Mädchen in Glynis' Alter alle Einzelheiten der neuesten Holo-Serien kannten. Aber dieses Kind schien seine Erinnerungskapazität vor allem dem Studium der Geschichte gewidmet zu haben. »Ausgezeichnet«, lobte er. »Woher weißt du das alles?«

Das Lächeln im Gesicht des Mädchens wich würdevollem Ernst. »Ich benötige solche Kenntnisse.«

»Warum denn?«

»Man muss über diese Dinge Bescheid wissen, wenn man die Akademie besuchen möchte.«

»Meinst du die Starfleet-Akademie?«

Glynis nickte und blieb ernst.

»Wie alt bist du?«, fragte McCoy.

»Fast neun.«

»Und du hast dich bereits definitiv für Starfleet entschieden?«

Das Mädchen musterte den Mann verwirrt und schien nicht zu verstehen, worauf er hinauswollte. »Natürlich.«

»Warum ›natürlich‹?«

Glynis straffte die Gestalt, und jetzt zeigte sich Stolz in ihren Zügen. »Ich werde an Bord eines … Raumschiffs arbeiten.«

McCoy hörte deutlich das kurze Zögern und wusste, dass es nicht etwa auf Unsicherheit zurückging, sondern auf Respekt. Einerseits verstand er, aber andererseits …

»Du möchtest also an Bord eines Raumschiffs arbeiten? Obgleich du die Mond-Pioniere für ›verrückt‹ hältst?«

Glynis blickte durchs Panoramafenster und sah zum Landemodul in der ansonsten leeren grauweißen Landschaft. »Das Ding da draußen hat keine große Ähnlichkeit mit einem Raumschiff, oder? Es ist zu klein. Ihm fehlen Strahlenschilde und künstliche Gravitation. Außerdem brauchten die Bordsysteme einfache Elektrizität, um richtig zu funktionieren. Und …«

McCoy ging neben dem Kind in die Hocke, sah ihm tief in die Augen und brachte es zum Schweigen, indem er den Zeigefinger hob. »Vielleicht gelingt es den Technikern irgendwann, Erde und Mond mit einem Wellenleiter zu verbinden, und dann können sich Besucher hierherbeamen. Dann dauert die Reise nicht mehr zwei Stunden, sondern nur noch zwei Sekunden. In hundert Jahren sprechen Kinder vielleicht von uns und meinen, wir seien verrückt gewesen, weil wir altmodische Impulsshuttles benutzten, um nach Luna zu fliegen.«

Glynis wirkte skeptisch. »Glauben Sie?«

»Ja«, bestätigte McCoy. Er deutete zur Landefähre. »Wenn du das Objekt dort draußen betrachtest … Du darfst keine primitive, strahlentransparente Maschine darin sehen.«

»Nein?«

McCoy schüttelte den Kopf. »Wenn vor zweieinhalb Jahrhunderten die Kinder zur Eagle sahen, so erkannten sie ihr Raumschiff darin. Und sie träumten davon, damit zu den Sternen zu fliegen – so wie du von den heutigen Schiffen träumst.«

Glynis blickte erneut durchs Panoramafenster des Parks der Ruhe. »Die damaligen Menschen hatten nichts Besseres, oder?«

»Als sie den Adler starteten, war er das Beste.«

»Und in hundert Jahren sind die heutigen Raumschiffe veraltet?«

McCoy nickte.

»Aber was wir jetzt haben … Es ist das Beste, nicht wahr?«

»Ja, das stimmt.« Plötzliche Trauer durchflutete McCoy, und sie überraschte ihn nicht.

Glynis überlegte eine Zeitlang, und Leonard konnte fast beobachten, wie sie die Fakten miteinander verglich, wie sie etliche altmodische Raumkapseln hochmodernen Sternschiffen der Constitution-Klasse gegenüberstellte.

»Wie die Menschen damals wohl gelebt haben …«, murmelte sie schließlich.

McCoy richtete sich wieder auf. »Genauso wie heute.« Er lächelte, als er das Erstaunen im Gesicht des Mädchens sah. »Raumschiffe verändern sich, aber Menschen nicht. Diese Weisheit gehört zu den Dingen, die man an der Akademie lehrt.«

Er lauschte dem mentalen Echo der eigenen Stimme und stellte fest, dass er ebenfalls gezögert hatte, vor dem Wort ›Akademie‹ – es schien mehr für ihn zu sein als nur eine Summe von Silben.

Die kurze Pause entging der Aufmerksamkeit des Mädchens nicht. »He, Mister … Welchen Beruf üben Sie aus?«

McCoy kratzte sich einmal mehr am Bart. »Ich? Oh, gar keinen. Ich habe mich in den Ruhestand zurückgezogen.«

»Und vorher?«

Leonard kaute auf der Unterlippe. Fünf Minuten mit diesem Kind waren lehrreicher als zwei Wochen im Yosemite-Tal von Kalifornien – er hatte sie damit verbracht, den Bäumen beim Wachsen zuzusehen. »Vorher gehörte ich zu Starfleet.«

Glynis' Kinnlade klappte nach unten, und sie riss die Augen auf. »Warum? Warum sollte jemandem daran gelegen sein, ausgerechnet … Starfleet zu verlassen?« Sie konnte es nicht fassen.

McCoy starrte über die Mondlandschaft hinweg. Hinter dem, was einst die ›letzte Grenze‹ gewesen war, ragten nun die Kuppeln des zivilen Raumhafens auf. Ihr weißer Glanz bildetet einen scharfen Kontrast zum Schwarz des lunaren Himmels, an dem zahllose Sterne glühten.

»Warum, Mister?«, fragte Glynis erneut. »Warum haben Sie sich in den Ruhestand zurückgezogen? So alt sind Sie doch noch gar nicht, oder? Warum haben Sie Starfleet verlassen? Warum?«

Aber darauf hatte McCoy keine Antwort. Zumindest jetzt noch nicht.