Kapitel 4

 

»Was ist mit den Astronauten geschehen?«, fragte Anne Gauvreau.

»Mit wem?«, erwiderte Kirk. Er beobachtete, wie Nogura vorsichtig und mit zuckendem Schwanz über die Ambientenkontrollen kletterte. Jim hatte schon vor einer ganzen Weile herausgefunden, dass die wichtigsten Schaltvorrichtungen mit transparenten Abdeckungen geschützt waren.

Anne griff nach der Katze und nahm sie von der Konsole. »Lautet so nicht die früher verwendete Bezeichnung für Raumfahrer? Man nannte sie Astronauten oder Kosmonauten. Ich meine die beiden Talin in dem primitiven Raumschiff. Befanden sie sich noch immer im lunaren Orbit, als es auf ihrer Heimatwelt zur Katastrophe kam?«

Es klang neutral. Nichts in Gauvreaus Stimme deutete darauf hin, dass sie glaubte, Kirk sei für den nuklearen Holocaust auf Talin IV verantwortlich.

»Ich weiß es nicht«, erwiderte er, streckte sich im Sessel, sah zum Bildschirm und beobachtete, wie Sterne vorbeiglitten. Die Shelton flog nach wie vor mit Warp vier. Nur noch zwei Tage bis nach Hanover – inzwischen wusste Gauvreau praktisch alles über Kirk und Talin. Zwei Wochen an Bord eines Frachters mit automatischen Systemen konnten tatsächlich ziemlich lang sein. »Ich erfuhr kaum etwas von den Ereignissen der nächsten beiden Tage. Die Rettungs-Shuttles der Starbase Neunundzwanzig suchten auch nach dem Talin-Schiff, aber ich habe keine Ahnung, ob die ›Astronauten‹ gefunden und in Sicherheit gebracht wurden.«

Gauvreau kraulte Nogura unter dem Kinn und blickte zu einem Monitor, der über die zur Verfügung stehenden Verbrauchsgüter Auskunft gab. Kirk bewunderte ihre Fähigkeit, Informationen aus mehreren verschiedenen Quellen entgegenzunehmen. Dazu mussten gute Offiziere auf der Brücke eines Raumschiffs in der Lage sein. Die für Personalressourcen zuständigen Starfleet-Spezialisten sprachen in diesem Zusammenhang von ›menschlichem Multitasking‹.

»Vielleicht sind sie abgestürzt«, spekulierte die Kommandantin. »Mit Absicht, meine ich. Nachdem sie beobachten mussten, wie ihre Welt unterging.«

Komacks Kopf kam hinter der Impuls-Station zum Vorschein, und die Ohren zitterten kurz, neigten sich dann nach hinten. Kirk kannte die Geschöpfe gut genug, um zu wissen, dass diese Katze nach einem Schoß Ausschau hielt.

»Ich bezweifle, dass überall auf dem Mond nach den Trümmern eines kleinen abgestürzten Raumschiffs gesucht wurde. Vielleicht landeten die Talin. Wie dem sei: Nichts deutet darauf hin, dass sie den Versuch unternahmen, zum Planeten zurückzukehren.« Komack trat zwischen die Impuls-Kontrollen und richtete einen durchdringenden Blick auf Kirk. »Deshalb kann man ihnen wohl kaum einen Vorwurf machen.«

Gauvreau kam näher und schob Komack beiseite, um sich anschließend an die Konsole zu lehnen. Noch immer streichelte sie Nogura, und hinter ihr leuchteten die Sterne im Projektionsfeld.

»Es ist nicht Ihre Schuld.«

»Danke«, entgegnete Kirk. Sie kannte jetzt die ganze Geschichte, und daher akzeptierte er Gauvreaus Bereitschaft, ihn für unschuldig zu halten.

»Pech für Sie, dass ich nicht zum Untersuchungsausschuss gehörte.« Sie lächelte und versuchte, ihn zu einer von Humor und Heiterkeit geprägten Reaktion zu veranlassen. Während der vergangenen Tage an Bord hatte er oft nachgedacht oder sogar gegrübelt, und mit seiner Stimmung stand es auch jetzt nicht zum besten.

»Davon haben Sie mir bisher kaum etwas erzählt«, meinte die Frau.

»Weil es nicht viel zu erzählen gibt. Die Mitglieder des Ermittlungskomitees konnten mit Hilfe der Logbücher einen Eindruck von der Situation gewinnen. Die Aufzeichnungen betrafen den Zeitraum bis zu unserem Warptransfer in der Atmosphäre …« Kirk sah, wie Gauvreau bei den letzten Worten schauderte. »Sie wussten also, was geschehen war. Sie sahen und hörten sich alles an, stellten außerdem einige Fragen in Hinsicht auf unsere geistige Verfassung. Im Anschluss daran fällten sie ihr Urteil.«

»Ein Urteil oder zwei?«, fragte die Kommandantin.

»Fünf, um ganz genau zu sein«, antwortete Kirk. »Eins für jeden von uns …«

»Nein, ich meine nicht die betroffenen Besatzungsmitglieder – die ›Fünf von der Enterprise‹ wurden häufig genug erwähnt. Es geht mir um folgendes: Betraf das Urteil nur Ihren zweiten Versuch, einen Atomkrieg auf Talin IV zu verhindern, oder bezog es sich auch auf jene erste Intervention, die nach der zufälligen Explosion eines unterirdisch gelagerten Sprengkopfs erfolgte?«

»Der Untersuchungsausschuss vertrat die Ansicht, dass es sich um zwei voneinander abhängige Ereignisse handelte. Wenn ich nicht das erste Mal eingegriffen hätte, so argumentierten sie, wäre der zweite und viel massivere nukleare Schlagabtausch ausgeblieben.«

Nogura sprang zu Boden, zögerte kurz, miaute leise und lief dann zum Verbindungsschacht zwischen den Decks. Gauvreau nahm Kirk gegenüber im Navigationssessel Platz, beugte sich vor und stützte den Ellenbogen aufs Knie.

»Welche Umstände veranlassten das Komitee zu einer solchen Schlussfolgerung?«, fragte sie.

Diesmal lächelte Kirk. »Mein wissenschaftlicher Offizier wies sogar auf die Logik in der Argumentation hin.«

»Jetzt bin ich wirklich neugierig«, kommentierte Gauvreau.

Kirk sah zu den Sternen auf dem Bildschirm. Für ihn waren es schmerzvolle Erinnerungen, aber er wusste auch, dass er sich ihnen stellen musste.

»Man ließ drei Kulturexperten vom Richter-Institut aussagen. Sie meinten, die vom EKA-Außenposten gesammelten Daten wiesen darauf hin, dass die Talin globalen Frieden anstrebten.«

»Obgleich sie bis an die Zähne bewaffnet waren?«

»Viele Welten sind in ähnlichen Situationen gewesen und haben überlebt. Nach Ansicht der Spezialisten hatten die Talin gute Chancen, die kritische Phase in ihrer Entwicklung ohne einen verheerenden Krieg hinter sich zu bringen.«

So etwas wie Empörung zeigte sich in Gauvreaus Gesicht. »Es steckte keine Absicht hinter der unterirdischen Atomexplosion. Und sie hätte alle Hoffnungen der Talin auf eine friedliche Zukunft zerstört, wenn Sie nicht zum Handeln bereit gewesen wären.«

»Ich schildere Ihnen nur die Entscheidungen des Ermittlungskomitees«, sagte Kirk. »Es kam zu folgendem Schluss: Ein erster nuklearer Konflikt hätte den Talin ein Beispiel für die katastrophalen Folgen eines planetenweiten Atomkriegs gegeben, und dadurch wären sie zu ernsthaften Abrüstungsverhandlungen bereit gewesen.«

»Oh, ich verstehe«, murmelte Gauvreau. »Der Untersuchungsausschuss fand, dass Sie den Talin die Möglichkeit zu einer wichtigen Erfahrung nahmen.«

»Ja«, bestätigte Kirk. »Wenn ich bei den ersten Raketenstarts nichts unternommen hätte, wären zwar Dutzende von Städten in Schutt und Asche gelegt, aber nicht die ganze Zivilisation zerstört worden. Und angeblich hätte ein derartiges Trauma genügt, um ähnlichen Katastrophen vorzubeugen.«

Gauvreau runzelte ungläubig die Stirn. »Gehörten Vulkanier zum Komitee?«

»Zwei. Als zivile Mitglieder. Und sie pflichteten dem Urteil bei.«

»Der Grund dafür ist mir ein Rätsel.«

Kirk schloss die Augen und sah sich selbst vor dem Untersuchungsausschuss. Er entsann sich an jedes Wort – weil ihm jede einzelne Silbe einen Teil seines Traums nahm.

»In der Urteilsbegründung hieß es, ich hätte verhindert, dass die Talin aus ihren eigenen Fehlern lernen konnten. Sie mussten nicht mit den Konsequenzen einer durch Zufall ausgelösten nuklearen Explosion fertig werden, und daher waren einige von ihnen verantwortungslos genug, noch größere Risiken einzugehen. Ich nahm Einfluss auf ihre natürliche Entwicklung, und dadurch wurde eine Ereigniskette ausgelöst, die zur Zerstörung der ganzen Kultur führte. Ein klassisches Beispiel dafür, was passiert, wenn man die Bestimmungen der Ersten Direktive verletzt.« Kirk hob die Lider.

Gauvreau wandte den Blick von ihm ab. »Konnten Sie Ihr Verhalten nicht irgendwie rechtfertigen?«

»Hätte ich es abgelehnt, den Dienst zu quittieren, wären Kriegsgerichtsverfahren gegen die einzelnen Brückenoffiziere eingeleitet worden. Bei den entsprechenden Verfahren hätten wir uns verteidigen können, aber es drohten Verurteilungen zu jeweils zwanzig Jahren Haft. So etwas durfte ich auf keinen Fall zulassen.«

»Für die Freiheit Ihrer Freunde und Kollegen haben Sie einen hohen Preis bezahlt.«

»Das ist nicht wichtig.«

»Was ist wichtig?«

»Die Talin.«

»Aber wenn Sie glauben, nicht gegen die Erste Direktive verstoßen zu haben … Warum verschwenden Sie dann Gedanken an das Schicksal der Talin?«

Kirk drehte den Kopf und musterte Gauvreau. Es war untypisch für sie, so kalt und herzlos zu sein. »Eins möchte ich klarstellen, Captain: Als ich nach bestem Wissen und Gewissen beschloss, mich nicht länger auf die Rolle des Beobachters zu beschränken, war ich fest davon überzeugt, meiner Pflicht zu genügen. In der Rückschau betrachtet gelang es mir vielleicht nicht, die Erste Direktive zu achten – trotz meiner besten Absichten. Aber ganz gleich, was auf Talin IV geschah, ganz gleich, ob mir Fehler unterliefen oder nicht: Ich trage zumindest einen Teil der Verantwortung für die Katastrophe.« Kirks Blick klebte an den Zügen der Kommandantin fest, und er fragte sich, ob sie das besondere Konzept der Pflicht verstand, das diesen Bemerkungen zugrunde lag. »Wenn ich den Talin irgendwie geschadet habe, so muss ich alles versuchen, ihnen jetzt zu helfen und damit meine Schuld zu sühnen – ganz gleich, wie schwer es ist und wie lange es dauert.«

Gauvreau stand auf und schob die Hände tief in die Taschen ihrer Pilotenjacke. »Und das sagen Sie, obgleich Ihnen von Starfleet solches Unrecht widerfuhr?«

»Alle Starfleet-Angehörigen, die an den Ermittlungen in Bezug auf Talin beteiligt waren, ließen sich vom Gebot ihrer Pflicht leiten. Ich hege keinen Groll gegen die betreffenden Personen. Mir geht es in erster Linie um eine Antwort auf die Frage nach dem Warum.«

Die Kommandantin blinzelte verwirrt und verärgert. »Wenn Sie wirklich keinen Groll gegen die Leute vom Untersuchungsausschuss hegen … Auf wen sind Sie dann sauer? Von Anfang an habe ich heißen Zorn in Ihnen gespürt und befürchtet, dass Sie irgendwann nach meinen Katzen treten. Wenn Sie nichts gegen Starfleet und das verdammte Ermittlungskomitee haben … Wer hat dann Ihre Wut zu fürchten?«

»Captain Gauvreau …«, erwiderte Kirk ernst. »Ich gebe Ihnen Auskunft, sobald wir Talin erreichen. Denn gleichgültig, auf wen ich sauer bin – dort befinden sich die wahren Schuldigen.«

 

Zwei Tage später stand Kirk in einer leeren Frachtkammer der Ian Shelton und klemmte sich die Reisetasche unter den Arm. Wenn Gauvreau zurückkehrte und ihn für seine Tätigkeit als Frachtaufseher bezahlte, konnte er sich zum Raumdock von Hanover beamen und dort einen Shuttleflug zu den Verladestationen buchen. Anschließend wollte er versuchen, noch einmal einen Job als Frachttechniker zu finden. Vielleicht fand er einen Transporter, der ihn noch etwas näher zum Talin-System bringen konnte. Und wenn nicht … Es spielte keine Rolle: Jim hielt in jedem Fall an seiner Entschlossenheit fest, zu jenem Planeten zurückzukehren, der ihn die Enterprise und den Rang des Captains gekostet hatte.

Nach einer Weile hörte er das Echo seines Namens in der großen Kammer, drehte sich um und sah Gauvreau am Beobachtungsfenster neben dem Kontrollabteil. Sie winkte ihm zu.

Wird auch Zeit, dachte Kirk. Jetzt können wir es endlich hinter uns bringen. Zwei Wochen hatte er mit dieser Frau im All verbracht, aber er wusste noch immer nicht, was er von ihr halten sollte. Gehörte sie aufgrund ihrer Kompetenz in den Kommandosessel eines Starfleet-Schiffes? Oder verbarg sich in ihr eine gefühllose, egoistische Perfektionistin, für die es keinen Platz in der Flotte gab?

An der zur Beobachtungsplattform emporführenden Leiter stellte Kirk zufrieden fest: Unter den Behältern und Taschen, die Gauvreau mitgebracht hatte, befand sich auch das Zahlmeister-Terminal der Shelton. Bargeld verlor auf vielen Föderationswelten immer mehr an Bedeutung, weil die Produktionstechnik zunehmend automatisiert wurde – bis sich Fabriken und ähnliche Anlagen selbst warteten und reparierten. Wenn die notwendigsten Dinge zum Leben keinen Wert mehr besaßen und fast unerschöpfliche interplanetare Ressourcen zur Verfügung standen, um praktisch alle Wünsche der Bevölkerung zu erfüllen … Unter solchen Voraussetzungen entstand ein System des Tauschhandels, das auf Geld verzichtete. Aber auf Randwelten in den peripheren Bereichen der Föderation sah die Sache anders aus: Das Handelsvolumen dort war derart gering, dass man auf Bargeld als Zahlungsmittel nicht verzichten konnte.

Gauvreau trat zurück, und Kirk kletterte die Leiter hoch. Die drei Katzen hockten im Kontrollabteil und starrten durchs Fenster. Ganz gleich, wie sehr sie miauten und ihre Rücken an der Luftschleuse rieben – ihre Herrin weigerte sich, sie in die Frachtkammer zu lassen.

»Tut mir leid, dass es so lange gedauert hat«, sagte die Kommandantin. »Es freut Sie sicher zu hören, dass der Frachttransfer ohne irgendwelche Schäden bewerkstelligt wurde. Dafür bekomme ich einen Bonus, an dem ich Sie beteilige.«

»Danke«, sagte Kirk. Eins stand fest: Anne Gauvreau war fair. »Hatten Sie Gelegenheit, sich nach dem öffentlichen Transportersystem zu erkundigen?«

»Ja«, lautete die Antwort. »Ich kann Ihnen alle Verbindungen nennen. Aber vorher … Warum kommen Sie nicht für einige Minuten herein?« Gauvreau deutete zur Schleuse des Kontrollabteils.

Kirk hatte es eilig, und er versuchte nicht, seine Unruhe zu verbergen.

Doch die Frau wirkte recht entschlossen. Sie hob ein kleines braunes Paket, und ein charakteristischer Geruch wies auf den Inhalt hin. »Echter Kaffee«, verkündete Gauvreau in einem triumphierenden Tonfall. »Stasis-Bohnen von der Erde. Hier geröstet. Ein solches Angebot können Sie unmöglich ablehnen.«

Damit behielt sie recht. Kirk folgte ihr in die Mannschaftssektion des Schiffes.

Als der Duft von frisch gekochtem Kaffee durch den kleinen Aufenthaltsraum wehte, griff Gauvreau nach einem anderen Paket und öffnete es. »Es hat deshalb länger gedauert, weil ich versucht habe, Zugang zum Starfleet-Nachrichtenkanal zu bekommen.« Sie sah kurz auf. »Das ist keineswegs illegal. Immerhin handelt es sich um einen öffentlichen Kom-Kanal.«

Das stimmte. Aber um entsprechende Sendungen zu empfangen, brauchten Zivilisten von Starfleet lizenzierte Kommunikatoren, und an Bord der Shelton gab es kein solches Gerät.

»Ich habe noch immer einige Freunde in der Flotte«, fuhr Gauvreau fort. »Einer von ihnen arbeitet im Starfleet-Büro des Raumdocks. Er erlaubte es mir, diverse Update-Dateien zu speichern.«

Kirk hörte, wie der Kaffee durch den Osmose-Umkehrer blubberte. Seine Reaktion auf die Aussicht, die neuesten Starfleet-Nachrichten kennenzulernen, erstaunte ihn: Es war weder interessiert noch desinteressiert, spürte fast so etwas wie Gleichgültigkeit. Allerdings: Eine subtile Veränderung in Gauvreaus Gesichtsausdruck deutete darauf hin, dass sie wichtige Neuigkeiten für ihn hatte.

»Hat sich in der Galaxis etwas Besonderes ereignet?«, fragte er wie beiläufig.

»Sie kennen die Antwort bereits.«

Kirk hatte immer wieder die Gelegenheit genutzt, Updates zu lesen, und daher wusste er: Seit der von Starfleet verhängten Blockade – sie diente dazu, Plünderer fernzuhalten – war im Talin-System nichts geschehen. Die letzten Berechnungen ließen den Schluss zu, dass der Planet mindestens fünfhundert Jahre lang isoliert bleiben musste – so lange würde es dauern, bis die Bewohner wieder das ursprüngliche technische Entwicklungsniveau erreichten. Während der letzten beiden Monate war Talin nur dann in den öffentlichen Nachrichten erwähnt worden, wenn es um die Bereitstellung finanzieller Mittel für Systemblockaden ging. Starfleets Plan, diesen speziellen Fall zu den Akten zu legen, ohne etwas zu verschleiern, war ganz und gar erfolgreich gewesen.

Doch jetzt schien Gauvreau der Meinung zu sein, dass sich daran etwas geändert hatte.

»Was ist los?«, fragte er.

»›Ein guter Kommandant bringt soviel wie möglich in Erfahrung‹«, zitierte die Frau. »›Um anschließend alle Informationen zu nutzen.‹«

»Wovon berichten die Update-Dateien?« Kirk wollte sich keine Akademie-Weisheiten anhören, sondern die Shelton verlassen.

»Offenbar sind Sie nicht der einzige, der nach Talin zurückkehren möchte.« Gauvreau nahm ein Datenmodul und schob es in den Abtaster des Tischterminals. »Kennen Sie diese Namen? Palamas, Carolyn. Frietas, Jorge. Und weiter: M'Benga, Chapel, Fisher … Außerdem noch etwa hundert andere.«

Kirk sah auf den Bildschirm. Zwar fehlte ein Flottensymbol, aber die Namen betrafen ausschließlich Angehörige von Starfleet – frühere Besatzungsmitglieder der Enterprise.

»Was hat es damit auf sich?«, fragte Kirk und fühlte, wie Ärger in ihm keimte. Es gefiel ihm ganz und gar nicht, wenn sich etwas anbahnte, ohne dass er darüber Bescheid wusste. »Dies stammt wohl kaum von einem öffentlichen Kom-Kanal.«

»Es ist eine Rückrufliste. Die hier genannten Offiziere und Spezialisten werden zu ihren früheren Posten zurückbeordert.«

In Kirk erstarrte etwas. »Meinen Sie die Enterprise?«, hauchte er. Aber wenn sein Schiff überhaupt noch existierte, so nur als Wrack. Er hatte es zerstört.

Gauvreau nickte.

»Wer hat den Rückruf angeordnet? Und wo befindet sich die Enterprise?«

Gauvreau fügte dem ersten Datenmodul ein zweites hinzu. »Unterzeichnet wurde die Order von Vizeadmiral Hammersmith, Starbase 29. Unter der Rubrik ›Antragsteller‹ wird ein gewisser Lieutenant Commander Scott genannt, Chefingenieur der Enterprise, derzeit stationiert im Talin-System.«

Kirk las die Daten des zweiten Speichermoduls, und seine Hände zitterten plötzlich. »Man hat mir gesagt, das Schiff sei nicht mehr zu reparieren«, brachte er hervor. »Es hieß, die Enterprise würde nie wieder fliegen …« Aber warum befand sich Scott selbst jetzt noch an Bord, fast vier Monate später? Dafür konnte es nur eine Erklärung geben …

»Woher haben Sie diese Aufzeichnungen? Wie alt sind sie?«

»Höchstens einige Tage, Kirk. Und meine Quelle in der Kommunikationsabteilung von Starfleet kann ich nicht preisgeben. Ich bekomme nie als geheim eingestufte oder militärische Informationen, doch die eine oder andere Frage beantwortet man mir – vor allem dann, wenn ich mich dafür mit echtem Kaffee erkenntlich zeigen kann.«

Kirk blickte zu den Datenmodulen, die Gauvreau ihm noch nicht gegeben hatte. Als Zivilistin war es ihr verboten, solche Dinge zu besitzen, aber in diesem besonderen Fall …

»Keine Bestechung?«, vergewisserte er sich. »Kein Verrat von Geheimnissen?«

»Zumindest nicht von wichtigen«, entgegnete die Frau. »Eigentlich ist es kaum mehr als der Klatsch in einer Bar.«

Kirk nahm die übrigen Speichereinheiten entgegen. Gauvreau und ihre Freund hatten sich ganz offensichtlich große Mühe gegeben, um alle Info-Dateien zu speichern, in denen die Stichwörter ›Enterprise‹ oder ›Talin‹ erschienen. Dutzende von Nachrichten erfüllten diese beiden Bedingungen und erzählten eine verblüffende Geschichte.

»Man hat die Backbord-Warpgondel vom Rumpf gelöst«, las Kirk. »Mir gegenüber behauptete man, das sei völlig unmöglich.« Er betätigte Tasten und blätterte durch die Bildschirmseiten. »Aus den von Scott übermittelten Berichten geht hervor, dass es nicht zu einem Katapult-Effekt kam. Neue Warpgondeln sind unterwegs … Die Crew wird zurückgerufen …« Einige Sekunden lang stockte ihm der Atem. »Die Enterprise … Sie …«

Gauvreau berührte Jims Hand. »Ich weiß«, sagte sie sanft. »Jemand anders bekommt das Kommando über Ihr Schiff.«

Kirk zog die Hand zurück. Es war eine Sache, sowohl den Rang des Captains als auch die Enterprise verloren zu haben – was nützte ihm das eine ohne das andere? Aber als er sich nun vorstellte, wie jemand anders seinen Platz im Kommandosessel einnahm … Er spürte eine schier unerträgliche Mischung aus Neid und Eifersucht.

»Angeblich waren alle Transtatoren an Bord durchgebrannt. Es hieß, die Backbord-Gondel zöge allmählich das ganze Schiff in den Warpraum …«

»Hier ist eine von Scott erstellte Schadensanalyse«, sagte Gauvreau und reichte Kirk ein weiteres Datenmodul.

Kirk schob es in den Abtaster und sah zum Schirm. »Nur zwanzig Prozent aller Schaltkreise defekt … Selektiv fokussierter Subraum-Impuls …« Er sah auf, und in seinen Augen funkelte es. »Es war ein Angriff. Ein Angriff, der weit über die technischen Möglichkeiten der Talin hinausging.« Jim richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf das Ergebnis der Analyse. Es fehlte Hammersmith' Unterschrift, und es wurde deutlich darauf hingewiesen, dass es sich um einen vorläufigen Bericht handelte, aber er bedeutete: Vielleicht gab es einen anderen Grund für das, was mit der Enterprise und Talin IV geschehen war. »Wie konnte dieses Schadensmuster überhaupt entdeckt werden?«, fragte er. »Jemand hätte durch alle Wartungsschächte des Schiffes kriechen müssen …«

Plötzlich wusste er, warum sich der Chefingenieur nach wie vor an Bord befand. Scotty hat nie aufgegeben …

Die übrigen elektronischen Dokumente betrafen Versorgungsgüter, Ausrüstungsmaterialien und den Personaltransfer. Kirk überflog sie, gewann allmählich eine Vorstellung von Hammersmith' Zeitplan und presste die Lippen zusammen. Es dauerte nur noch eine knappe Woche, bis die Enterprise wieder einsatzfähig war. Mit anderen Worten: Ihm blieben weniger als sieben Tage, um Talin zu erreichen, bevor jemand anders mit seinem Schiff aufbrach, um die beiden neuen Warpgondeln zu synchronisieren.

»Danke, Captain«, sagte Kirk und stand mit einem Ruck auf. »Ich weiß, was dies alles bedeutet.«

»Ich habe Ihr Gesicht gesehen, als Sie begriffen, dass Sie die Enterprise einem anderen Kommandanten überlassen müssen. Ich kann mir vorstellen, was Sie dabei empfinden.«

»Meine Gefühle sind nicht wichtig«, erwiderte Kirk. »Im Gegensatz zu Scotts Bericht. Wenn die Enterprise tatsächlich von einem genau fokussierten Subraum-Impuls außer Gefecht gesetzt wurde, so gibt es noch einen weiteren Faktor, der bisher unberücksichtigt blieb.« Er hob seine Reisetasche. »Kann ich mich von der Brücke aus mit dem Transporterzentrum des Raumdocks in Verbindung setzen?«

Gauvreau ging zum Osmose-Umkehrer und füllte zwei Tassen mit Kaffee. »Setzen Sie sich. Noch besteht kein Grund für Sie, irgendeinen anderen Ort aufzusuchen.« Sie kehrte zum Tisch zurück und reichte Kirk eine der beiden Tassen.

»Sie verstehen nicht: In spätestens einer Woche muss ich im Talin-System sein.«

»Die Shelton kann es in fünf Tagen erreichen.«

»Ich muss unbedingt … Was?«

»Starren Sie mich nicht so an, Kirk. Muss ich mich noch deutlicher ausdrücken? Ich bin der Captain dieses Schiffes, und hiermit entscheide ich: Unser nächstes Ziel heißt Talin IV.«

Jim stellte seine Kaffeetasse ab. Er hatte es jetzt nicht mehr annähernd so eilig wie vorher, den Frachter zu verlassen – zuerst wollte er herausfinden, was Gauvreau plante. »Das Talin-System ist isoliert.«

Die Frau öffnete eine kleine Tasche und entnahm ihr zwei kleine, gelbe Datenscheiben. »Diese hier enthalten Meldungen des öffentlichen Nachrichtenkanals.« Gauvreau hob die kleinen Scheiben, machte jedoch keine Anstalten, sie Kirk zu geben. »Wissen Sie, im Starfleet-Büro konnte ich eine Suche veranlassen, die allen Informationen in Zusammenhang mit Ihrem Schiff oder Talin IV galt – beides fällt in den Zuständigkeitsbereich der Flotte. Doch was die sogenannten ›Fünf von der Enterprise‹ betrifft, musste ich auf die Dienste der öffentlichen Update-Zentren zurückgreifen.«

Sie ließ die Datenscheiben sinken und blickte darauf hinab. Kirk widerstand der Versuchung, die Hand danach auszustrecken. Er wollte der Frau noch ein oder zwei Minuten lang gestatten, ihr Spiel fortzusetzen – ganz deutlich erinnerte er sich daran, was es bedeutete, ein fasziniertes Publikum zu haben.

»In Hinsicht auf Chekov ergab sich nicht viel«, sagte Gauvreau. »Er hat den Dienst quittiert, und zum letzten Mal sah man ihn an Bord eines Kreuzfahrtschiffes, das nach Eisners Welt flog. Sulu leistete ihm Gesellschaft und verschwand zusammen mit dem früheren Navigator der Enterprise. Die Kommunikationsspezialistin Uhura wurde nach drei Monaten Haft auf dem Mond entlassen und traf sich mit … Leonard McCoy – jenem Mann, der Hammersmith einen Fausthieb verpasste. Sie begaben sich erst zur Erde und dann zum Mars. Im Anschluss daran reisten sie ausgerechnet nach Rigel II – um dann ebenso spurlos zu verschwinden wie zuvor Chekov und Sulu.«

»Damit bleibt nur Spock übrig«, stellte Kirk fest.

»Und Sie«, fügte Gauvreau hinzu. »Nun, James Kirk hat man praktisch auf allen Randwelten gesehen, und wenn man den Gerüchten glauben kann, nimmt er jeden Job an. Mit zwei Ausnahmen: Asteroidenmontage und das Verstauen von Fracht. Da Sie gerade Spock erwähnt haben … Er ist einer der Gründe dafür, warum bald die Blockade des Talin-Systems aufgehoben werden könnte.« Erst jetzt überließ sie Jim die Datenscheiben.

Kirk nahm sie ruhig entgegen und versuchte, nicht zu deutlich zu zeigen, wie sehr er sich Nachrichten in Bezug auf seinen vulkanischen Freund wünschte. Er gab das Modul in den Abtaster und beobachtete, wie die ersten Worte auf dem Bildschirm erschienen …

Einige Sekunden später riss er die Augen auf. Dreimal las er den Bericht – und konnte es selbst dann noch nicht fassen.

»Spock verklagt die Föderation?«

»Darauf wies er in der Medienkonferenz hin.«

»Und auch Starfleet?« Kirk blinzelte mehrmals. »Im Namen der Studenten für Sterne und freie Völker? Was soll das denn bedeuten?«

»Lesen Sie den letzten Abschnitt«, sagte Gauvreau. »Die SFSFV – offenbar eine radikale Studentenorganisation in Berkeley.«

»Berkeley?«, wiederholte Kirk. Seine Verwirrung wuchs. »Auf der anderen Seite der Bucht von San Francisco – Berkeley?«

Gauvreau nickte.

»Aber das ist in unmittelbarer Nähe der Starfleet-Akademie. Und seit mehr als hundert Jahren gilt Berkeley als eine der konservativsten Universitäten auf der Erde. Warum sollte sich Spock auf … so etwas einlassen?«

»Auf ›so etwas‹? Meinen Sie damit Dilettanten und Amateure?«

»Ja.«

»Nach dem, was Sie mir von Spock erzählt haben … Vermutlich hat er gute Gründe für seine derzeitigen Aktivitäten.«

»Davon bin ich überzeugt.« Kirk las den Bericht zum vierten Mal.

»Die Sache hat eine Menge Staub aufgewirbelt«, sagte Gauvreau. »Überall finden Diskussionen über den Sinn der Ersten Direktive statt, und es werden Stimmen laut, die Hilfe für Talin verlangen.«

Kirk lehnte sich zurück und fühlte sich von den vielen Neuigkeiten fast überwältigt. Er war so sehr darauf konzentriert gewesen, nach Talin IV zu gelangen, dass er gar nicht mehr daran gedacht hatte, wie sehr er die Crew und seine Freunde vermisste.

»Wenn Spock mit seiner Initiative dafür sorgen will, dass Talin IV Hilfe bekommt …« Jim schüttelte skeptisch den Kopf. »In diesem Zusammenhang ist es völlig gleichgültig, welches Ereignis den Ausschlag gab: Der Planet wurde von den Waffen der Bewohner in ein nukleares Inferno verwandelt. Weder Starfleet noch die Föderation werden zulassen, dass man erneut die Bestimmungen der Ersten Direktive verletzt.«

»Vielleicht haben Sie recht«, erwiderte Gauvreau. »Aber Sie könnten sich auch irren. Ich persönlich neige dazu, die zweite Möglichkeit für wahrscheinlicher zu halten. Und deshalb setze ich mein Geld auf Spock.« Sie aktivierte das Zahlmeister-Terminal und drückte die Taste für den aktuellen Kontostand – der Bildschirm zeigte nur einige wenige Credits an.

»Auf der Haben-Seite müsste eine sechsstellige Zahl stehen«, sagte Kirk. Er hatte das Frachtdokument und die Versicherungsbestätigung von Lloyds gesehen.

»Das Geld ist bereits überwiesen, um unsere neue Ladung zu bezahlen«, erklärte Gauvreau. »Sie müsste innerhalb der nächsten Stunde im Raumdock eintreffen.«

»Was haben Sie gekauft?«, erkundigte sich Kirk.

»Notausrüstungen. Hauptsächlich Medo-Artikel: Medikamente zur Behandlung von Strahlungsfolgen, Trinkwasserfilter und so weiter. Dafür sollte es einen guten Markt geben, wenn Starfleet die Blockade aufhebt.«

»Sie meinen es ernst, nicht wahr?«

»Nicht nur ich, wie aus den letzten Nachrichten hervorgeht. Etwa zweihundert Schiffe sind bereits nach Talin unterwegs. Hinzu kommen die von Starfleet angeforderten Patrouillenboote – sie sollen den Verkehr regeln. Alles deutet darauf hin, dass die Isolation des Talin-Systems bald zu Ende geht, und wenn es soweit ist … Dann sind nicht nur wir zur Stelle, sondern auch die meisten Besatzungsmitglieder der Enterprise

Gauvreau schaltete das Terminal aus. »Trinken Sie jetzt Ihren Kaffee, damit ich mir keine Klagen mehr über geschmacklose Syntho-Würfel anhören muss.«

Kirk hob die Tasse zu den Lippen und genoss das würzige Aroma der schwarzen Flüssigkeit. Scott hat nicht aufgegeben, überlegte er. Spock unternahm etwas Haarsträubendes. McCoy, Uhura, Chekov und Sulu waren verschwunden – Jim hielt die Annahme für plausibel, dass sie irgendwo zusammen waren und etwas planten. Ein Lächeln zuckte in seinen Mundwinkeln, als er an die jüngsten Ereignisse dachte. Er hatte beschlossen, allein nach Talin zurückzukehren, weil er von seinen Gefährten nicht erwarten konnte, dass sie die Risiken einer solchen Reise mit ihm teilten. Aber sie alle waren zu den gleichen Schlussfolgerungen gelangt wie er – und machten sich ebenfalls auf den Weg. Wir bleiben selbst dann ein Team, wenn wir voneinander getrennt sind.

Kirk schnupperte an dem Kaffee. Echte Bohnen, frisch geröstet. Eine wahre Köstlichkeit – die jedoch nicht halb so gut schmeckte wie der synthetische Kaffee an Bord der Enterprise.

Irgend etwas sagte ihm, dass er sein Schiff nicht verloren hatte, dass es noch eine Chance gab, es zurückzubekommen.