Der Hinterhalt

Von Richard Lee Byers

Der Dornenwald, 608 n.R.

Aus dem Augenwinkel konnte Dragash die Dornenranke sehen, die um den Eisenholzstamm gewunden war. Er bewegte seinen Arm, so dass sich die Dornen nicht in seinem Ärmel verfingen.

Es verärgerte ihn, dass es auch nur die geringste bewusste Anstrengung erforderte, um durch die Bäume zu schlüpfen. Er hatte seine Wildniskenntnisse beim Jagen im Narbenmoorwald erworben, doch erstickte dieses Gelände aus Eichen und Nadelbäumen nicht geradezu vor Gestrüpp und Dornen, wie es der Dornenwald tat.

Und doch kamen er und die Plänkler unter seinem Befehl – verbündete Kossiten in zusammengeflickten, vielfarbigen Gewändern in Grün und Braun, die Elchhornbögen in den Händen hielten – irgendwie zurecht. Manchmal hatte er Schwierigkeiten, jene zu erkennen, die ihm ganz nahe waren, auch wenn er wusste, wo und was er suchen musste.

Die Kossiten rückten weitaus heimlicher vor als der Versorgungskonvoi auf dem schmalen, überwucherten Weg. Achsen quietschten und die Fracht rumpelte, als die von Maultieren gezogenen Wägen über die Straße holperten. Die Soldaten der Wintergarde, die mit Brustharnischen und Schulterplatten gerüstet waren, die sie über ihren Mänteln trugen, Pelzmützen auf dem Kopf und Schrotflinten in den Händen, waren bei ihrer Eskorte der Nahrung und Munition beinahe ebenso laut. Sie plauderten, während sie die Pflanzen auf beiden Seiten beäugten. Sie schauten, doch sahen sie nichts, was ihnen von Bedeutung erschien. Dragash empfand einen Hauch von Verachtung.

Das wiederum ließ ihn zornig auf sich selbst werden. Er war von Natur aus nicht verächtlich. Er spiegelte nur eine Einstellung wider, die man bei vielen der regulären Soldaten der 2. Khadoranischen Armee antraf, die ihre kossitischen Waffenbrüder oft als einen Mob aus »undisziplinierten ländlichen Einfaltspinseln« betrachteten. Dragash hatte gehört, wie Feldwebel Padorin, der Kommandeur der Eskorte, sie genauso genannt hatte. Es war ihm egal gewesen, ob Kossiten anwesend waren und es hören könnten.

Padorins Verachtung war so ausgeprägt, dass er nicht wollte, dass kossitische Plänkler den Konvoi beschatteten, auch wenn zwei weitere verschwunden waren und dringend frische Vorräte benötigt wurden. Er sah dies als angedeutete Herabsetzung der Fähigkeiten seiner eigenen Männer. Glücklicherweise hatte Leutnant Szetka ihn überstimmt.

Dragash war zuversichtlich, dass er und die anderen Bogenschützen diesen Konvoi zur halb aufgebauten hölzernen Festung bringen würden, die das Lager darstellte. Es waren wahrscheinlich die Cryx, die die Versorgungswägen angriffen – Kundschafter hatten ihre wankenden untoten Knechte in der Umgebung gesehen – und auch wenn diese Geschöpfe zäh waren, so waren sie doch weder schnell noch aufmerksam. Eine verstohlene, bewegliche Schar aus Kossiten war gut für die Aufgabe geeignet, sie zu überraschen und zu erschlagen.

Dragash merkte, dass abgesehen vom Lärm des Konvois die Reihen von Eisenholzbäumen und Pappeln vor ihnen sehr still zu sein schienen.

Er zwitscherte wie ein Fink: zwei Töne, eine Pause, zwei weitere. Dann fluchte er leise.

Der Vogelruf hätte Padorin warnen sollen, sich auf Ärger vorzubereiten. Ohne zu offensichtlich zu sein, hätte der Feldwebel seine Männer anweisen sollen, ihre Waffen bereit zu machen. Soweit Dragash erkennen konnte – die Bäume und Büsche versperrten seine Sicht auf den Konvoi – tat Padorin jedoch nichts dergleichen. Entweder erkannt der Idiot das Zeichen nicht oder er hatte nach vorne geblickt, nichts gesehen und beschlossen, dass der kossitische Bauernlümmel sich grundlos Sorgen machte.

Menoth zum Dank, dass die Plänkler schneller voran kamen als die Wägen. Wenn ein Hinterhalt auf sie wartete, dann konnten die Kossiten das herausfinden, ehe der Konvoi in die Falle tappte.

Dragash schlich weiter und seine Männer taten es ihm gleich. Sie hatten den Verstand, das Zeichen zu erkennen. Während sie vorrückten, schlichen sie weiter weg vom Pfad, um sicherzustellen, dass sie den Gegnern, die den Hinterhalt gelegt hatten, in den Rücken fallen konnten.

Die Kossiten auf der anderen Seite des Pfads würden das Gleiche tun. Dragash konnte sie nicht sehen, kannte jedoch viele von ihnen seit seiner Kindheit und vertraute ihnen blind – er vertraute darauf, dass sie kurzen Prozess mit dem Feind machen würden. Er erblickte einige dieser Feinde, die hinter von Ranken erstickten Pappeln lauerten, und ein Teil seiner Zuversicht verließ ihn.

Sie waren keine geistlosen Leichen. Sie waren lebende Frauen, die Wurfspeere in Händen hielten, mit Fellköchern auf dem Rücken und Bucklern, an denen lange Tierklauen angebracht worden waren, an den Unterarmen.

Ihr Geschlecht, ihre Waffen und ihr allgemein wildes Aussehen legte nahe, dass es sich um Blutjägerinnen der Tharn handelte. Dragash war den Tharn-Frauen nie zuvor begegnet, doch man sagte, dass sie schreckliche Gegner waren. Ihre fürchterlichen Götter schenkten ihnen unheimliche Geschwindigkeit und Sinne, die so scharf waren wie die von Tieren. Bei aller Wildniskunde der Plänkler hätten die Blutjäger sie wahrscheinlich längst entdeckt, wären sie nicht so sehr auf den Pfad konzentriert.

Dragash trat ins Freie. Er fühlte sich entblößt und verwundbar, aber er musste sicher sein, dass seine Männer ihn sehen konnten.

Er machte ein Zeichen für alle, sich weiter zurück zu bewegen. Die Blutjäger mochten gewisse übernatürliche Vorteile besitzen, aber sie konnten ihre Wurfspeere nicht so weit schleudern wie ein Bogen einen Pfeil verschießen konnte. Größere Entfernung sollte diesen Vorteil ausnutzen, so gut es ging, selbst gegen Feinde, die mit der Geschwindigkeit eines Blitzes spurten konnten.

Der Nachteil war, dass die Kossiten durch mehr Bäume schießen mussten, doch ihre Schießkunst war der Herausforderung gewachsen.

Dragashs Herzschlag beschleunigte sich, als er und die anderen sich in Position brachten. Das leiseste Geräusch könnte den Feind warnen. Doch das Geräusch kam nicht. Als die Plänkler sich weit genug bewegt hatten – noch weiter, und sie würden ihre Ziele verlieren – gab er das Signal zum Stillstand. Dann drehte sich der Wind.

Die Blutjäger wirbelten herum. Jede von ihnen starrte einen der Plänkler an. Dann stürmten sie los, die Gesichter vor Wut verzerrt. Auch wenn er eine Vorstellung gehabt hatte, was zu erwarten war, war Dragash entsetzt von ihrer Schnelligkeit – und ihrer Anzahl. Es waren mehr, als er gedacht hatte.

Er und seine Kameraden schossen. Ihre Pfeile pfiffen durch die Luft. Die Tharn, die auf Dragash zu rannte, drehte sich zur Seite, und sein Pfeil ging ins Leere. Er legte einen weiteren auf und ließ die Sehne los. Sie wich erneut aus. Ein weiterer Sprung nach vorne und sie schleuderte ihren Wurfspeer. Er warf sich hinter einen Baum und die Waffe schlug in der anderen Seite ein.

Während er zurück um den Baum spähte, zog er schon das nächste Geschoss aus seinem Köcher, und sie tat dasselbe. Ihre Hand war schneller, aber sein Pfeil war kürzer als ihr Wurfspeer und er war zuerst bereit. Er feuerte und der Schaft durchbohrte ihre Brust.

Sie stürzte, doch zwei weitere stürmten hinter ihr vor. Er schoss der einen durch den Bauch, doch dann war die andere nahe genug heran, um ihm den krallenbewehrten Buckler ins Gesicht zu treiben.

Wieder warf er sich zur Seite und brachte den Baum zwischen sie und sich, um die Zeit zu haben, seine Axt bereit zu machen. Sie schoss um den Baum herum und versuchte wieder, ihn zu erstechen. Er wich aus und hieb nach ihrem Kopf.

Sie riss das Schild hoch, um den Angriff abzuwehren, doch er wirbelte die Axt auf die Riposte herab und schlug ihr die Beine unter dem Körper weg. Sie fiel und er vergrub die Waffe in ihrem Rückgrat. Schwer atmend nahm sich einen Augenblick Zeit, um zu bestimmen, wie der Rest der Schlacht verlief.

Es war schwer zu sagen. Es waren zu viele Sträucher im Weg, und was auf der anderen Seite des Pfades vor sich ging, war nicht zu erkennen. Aber es sah aus, als würden die Plänkler gewinnen. In der Zwischenzeit hatten auf dem Pfad Donnerbüchsen zu donnern begonnen.

Der Kampflärm hatte Padorins Soldaten aufgeschreckt und sie feuerten ihre Waffen mit ihrer geringen Reichweite blind in die Pflanzen hinein. Dragash schnaubte und schüttelte den Kopf.

Dann begann zu seiner Rechten ein Kossite zu schreien. Einen Augenblick später begann ein Gesang.

Dragash späte in die Richtung. Die Schatten waren dort tief und sie schienen sich rötlich verfärbt zu haben.

Dragash hatte von den Blutwebern gehört, Hexen der Tharn, die in den Schatten lauerten und dort ihre verderbte Blutmagie ausübten. Er wusste in seinen Eingeweiden, dass eine von ihnen mit den Blutjägern zusammenarbeitete. Er stellte sich vor, wie sie von Schütze zu Schütze schlich, einen nach dem anderen massakrierte und das Blut verwendete, um ihre abstoßende Magie anzutreiben. Er wusste, dass er sie aufhalten musste.

Er legte einen Pfeil auf. Sein Mund war trocken, als er in ihre Richtung schlich, doch er konnte sie nicht entdecken. Er ließ den Pfeil trotzdem fliegen, doch hörte er keinen Schrei, der gezeigt hätte, dass der Pfeil sein Ziel gefunden hatte.

Die Schatten verschluckten ihn. Es war dunkel wie die Nacht. Nein, dunkler. Furcht erfüllte ihn, doch er drängte sie zurück. Er legte einen weiteren Pfeil auf, wandte sich langsam um, schaute, lauschte, schnüffelte, fühlte nach jedem Hinweis auf den Aufenthaltsort der Blutweberin.

Der kupferartige Geruch von Blut stieg ihm in die Nase. Er wirbelte herum. Eine dunkle Gestalt stand nur einen Schritt von ihm entfernt, die gekerbte Klinge erhoben, um ihn auszuweiden.

Dragash schoss seinen Pfeil ab, der durch Hals der Blutweberin fuhr. Sie ging zu Boden, aus den Schatten heraus, die sie verborgen hatten, und zuckte in ihrem Todeskampf. Die Blutweberin war eine ausgemergelte Frau, die sich mit beschmiert hatte, so dass ihre Haut fleckig rot war.

Die Plänkler hatten es bald geschafft, die verbleibenden Blutjäger auszuschalten. Dann führte Dragash seine Männer um den Konvoi herum zur anderen Flanke. Seine Kameraden waren auch hier erfolgreich gewesen.

Der narbengesichtige Stoyan grinste ihn an. »Was jetzt?«

Dragash erwiderte das Lächeln. »Kümmerte euch um die Verwundeten. Ich werde Padorin auf einen kleinen Spaziergang mitnehmen und ihm all die toten Tharn zeigen. Er sollte sehen, was die ‚undisziplinierten ländlichen Einfaltspinsel‘ gerade geleistet haben, um seinen zivilisierten Arsch zu retten.«