Das mulmige Gefühl wird stärker, je mehr Zeit vergeht. Es zerreißt mich fast von innen, nicht zu wissen, ob ihm etwas passiert ist. Ich kann es mir nicht erklären, im Grunde kann es nur ein Hirngespinst sein. Aber es fühlt sich so an, als wäre Ferenian in Gefahr. Als würde er mich rufen.
Nein, Lou, du sollst hierbleiben und warten. Das hat er gesagt.
Ich beiße mir die Unterlippe blutig vor lauter Anspannung. Es fühlt sich echt beschissen an, nicht zu wissen, was los ist. Klar, Ferenian ist stark. Wahrscheinlich der Stärkste im Feenreich weit und breit. Aber auch er ist nur einer, und wenn Alfran und Belfram noch mehr Geschwister haben, könnte es hässlich werden.
Wieso nochmal soll ich hier warten?
Ich sehe in den Gang zurück. Plötzlich kommt mir der Gedanke, dass Ferenian mich vielleicht als Wachposten einsetzt. Dass ich ihm mitteilen soll, wenn die Patrouille zurückkommt. Das würde Sinn ergeben. Trotzdem fällt es mir schwer, stillzustehen und nichts zu tun.
Ich bin von Lippenknabbern zu Fingernägelkauen übergegangen.
Doch auch das kann meine Anspannung nicht verringern.
Ach scheiß drauf, ich hab noch nie gemacht, was man von mir will!
Ich löse mich von der Wand und taste mich langsam vorwärts in Richtung Licht. Dabei habe ich den Gang hinter mir immer im Auge. Doch die Wachen kommen nicht zurück. Es ist still - zu still.
Der Gang windet sich immer stärker, das Wurzelwerk nimmt zu und hängt kreuz und quer vor meinem Gesicht herum.
Ein Wunder, wie Feen mit ihren Flügeln sich nicht darin verheddern ...
Ich muss sogar ein Stück kriechen, um voranzukommen. Alles kommt mir immer komischer vor. Das Gefühl, dass etwas nicht stimmt, wird immer stärker - greifbarer. Und ich werde schneller.
Plötzlich biegt der Gang scharf nach rechts ab und hört dann mit einem Mal auf.
Ich sehe erst, als ich bereits darin stehe, dass er in eine große Höhle mündet. Es ist ein kuppelförmiges Gewölbe von Stein eingeschlossen und so riesig, dass ich das Ende nicht sehen kann. Ranken und Schlingpflanzen verzieren einfach alles: Decke, Böden, Wände, Möbel und eine thronartige Erhebung.
Alles ist so viel größer und freier als in den modrigen Tunneln davor. In der Luft liegt eine eigenartige Energie, die einem auf die Lungen drückt und eine Gänsehaut hervorruft. Ich brauche kein Hellseher zu sein, um zu erkennen, dass hier jemand Mächtiges lebt.
Von Ferenian fehlt jede Spur
.
Ich bin trotzdem nicht allein. Das sagt mir mein Gefühl und ein Blick nach oben.
Scheiße!
Ich sehe mich eilig nach einem Versteck um. Doch zu spät. Sie haben mich entdeckt. Ich höre Flügelschlagen und überlege, ob es klug ist, einfach zurückzurennen. Diese starke Kraft in mir lässt mich stehenbleiben und warten.
Alfran und Belfram kommen gleichzeitig vor mir auf dem Boden auf. Ich erkenne das fiese Grinsen auf ihren Gesichtern, und auch ihre grotesken behaarten Körper sofort wieder.
Belfram lacht kindisch, während Alfran nur mit der Zunge schnalzt. Beide Reaktionen machen mich wütend.
»Na na, wen haben wir denn da?«, säuselt Alfran sichtlich amüsiert. »Kluges, kleines Menschenwesen. Du hast uns tatsächlich gefunden.«
»Nach euch hab ich nicht gesucht.«
Sie schnappen empört nach Luft.
»Hast du das gehört, Bruder?« Belfram scheint das Lachen vergangen zu sein. »Er hat uns nicht gesucht.«
»Er lügt.« Alfran kommt näher. »Er will unser Freund sein, nicht wahr, kleiner Mensch?«
»Ich verzichte.« Ich fühle mich nicht wohl in ihrer Gegenwart, auch wenn es nur zwei zu sein scheinen. Von ihnen geht so viel Dunkles aus, das ich erst jetzt so richtig nachfühlen kann. Sie sind abgrundtief böse.
»Wo ist der Prinz?«, frage ich direkt, weil ich keine Lust mehr auf ihre Spielchen hab. Ich hoffe, dass es Ferenian geschafft hat, an ihnen vorbeizukommen, und ich sie nur noch lange genug ablenken muss
.
»Ein Prinz, hier?«, fragt Belfram übertrieben dämlich. »Bruder, weißt du, wen er meinen könnte?«
»Warte ... lass mich nachdenken.« Alfran entblößt seine scharfen Reißzähne, die in der Dunkelheit glänzen. Das soll wohl ein Grinsen darstellen. »Nein. Hier ist kein Prinz.«
»Verarscht mich nicht. Ihr habt uns beide gefangen genommen!« Mit meiner Geduld bin ich am Ende.
»Ach, du warst das?« Belfram legt den Kopf schief. »Wir haben dich nicht erkannt. Du stinkst nach Natur.«
Ich kann über diesen Ausspruch nur lachen.
»Das hat echt noch nie einer zu mir gesagt.«
»Nein?« Alfran kriecht in mich rein.
Ich weiche nicht zurück. Ich will nicht nachgeben.
»Was wird das?«, frage ich warnend. »Behalt bloß deine Finger bei dir, Arschloch.« Er soll nicht wissen, dass mir die Pumpe geht.
»Zeit zu spielen«, raunt Alfran und breitet seine ledrigen Schwingen aus. Gemeinsam steigen sie vor mir in die Luft. Ich sehe sie grinsen, bevor sie plötzlich im Affenzahn in die Höhe sausen. Wie Fledermäuse flattern sie davon, kreisen an der kuppelartigen Decke und sind verschwunden. Meine Augen sind zu langsam, um sie fokussieren zu können. Ich drehe den Kopf, erhasche mal hier einen Fetzen, mal da. Ich spüre, wie sie mich fast streifen, fühle den Wind, den sie mit ihren Flügelschlägen erzeugen, aber sehen kann ich sie nicht.
Plötzlich kommen mir Ferenians Worte in den Sinn, die er bei unseren vielen Trainingsstunden gebraucht hat. Ich erinnere mich an das Gefühl, mit geschlossenen Augen sehen zu können und mache sie einfach zu. Obwohl es vollkommen bekloppt ist, weil ich nichts mehr sehen kann, fühle ich
mich sicher. Denn so fällt es mir leichter, eine Verbindung aufzubauen zu dem energetischen Teil in mir. Ich nehme den Raum wahr, spüre die Schwingungen der Zwillinge und erkenne das Gefühl wieder, das sie in mir auslösen.
Ach du scheiße ... das ist dieselbe dunkle Energie wie bei diesem Knotenpunkt.
Ich bin mir ganz sicher. Nein, ich weiß, dass ich nur recht haben kann. Da gibt es eine Verbindung. Die Zwillinge sind verdorben. Aber da ist noch mehr.
Einer der beiden kommt direkt auf mich zu. Ich spüre, wie er die Luft verdrängt. Er bremst nicht ab, zieht nicht vorbei, sondern hält auf mich zu.
Fuck!
Ich reiße die Augen auf, will ihn anbrüllen, aber dafür ist keine Zeit mehr. Alfran packt mich unter den Achseln und hebt ab. Ich kann nur mit den Füßen in der Luft strampeln und schreien. Alfran saust mit mir umher, fliegt wilde Kreise um die Kuppel, stürzt sich in die Tiefe, um kurz vor dem Boden wieder zu steigen.
Ich hab solche Angst, dass er mich fallenlässt, dass ich ernsthaft zu beten beginne. Da ich nie gläubig war und mir nichts Besseres einfällt, richte ich es direkt an die Schöpferin der Feenwelt.
Mutter Erde, ich weiß, dass es dich gibt. Hilf mir! Lass mich nicht sterben. Nicht heute. Nicht jetzt!
Aun gle falias
!
Plötzlich wird es heiß um mich herum. Alfran gibt einen markerschütternden Schrei von sich und lässt mich los.
Ich falle. Tief. Ich habe genug Zeit, um Ferenian in Gedanken Lebewohl zu sagen, weil ich gleich tot bin.
Doch es kommt anders
.
Ich pralle auf dem Boden auf. Seltsamerweise aber nicht so hart, dass es mir die Knochen bricht.
Was passiert hier?
Ich kann aufstehen, sehe auf meine Hände. Sie glühen. Es ist dasselbe goldene Licht, das zwischen Ferenian und mir entsteht, wenn wir uns berühren.
»Krass ...«
Ich sehe mich um, habe es im Gefühl, dass Ferenian in der Nähe ist.
Alfran steigt vor mir zu Boden, er schüttelt sich die krummen Beine. Mit dem Grinsen ist es vorbei.
»Wer bist du?«, ertönt seine dunkle Stimme viel zu laut in meinen Ohren.
Jetzt spinnt der völlig!
»Das Gleiche könnte ich dich fragen. Aber viel lieber würde ich wissen, wo Silyan ist.«
»Du bist kein Mensch.« Alfran klingt überrascht, als er mir langen Schritten auf mich zukommt. »Was bist du dann?«
»Ein Gott«, hauche ich ihm entgegen. Innerlich lache ich ihn aus. Äußerlich ist es nur ein leichtes Grinsen. »Ihr solltet euch nicht mit mir anlegen. Ich hab Superkräfte.«
Okay, das war vielleicht etwas viel ...
»Ein Gott?« Alfran legt den Kopf schief. Belfram hat es in der Zwischenzeit auch geschafft, seinen haarigen Körper auf den Boden zu befördern.
»Jap, der Gott ... des Knospengemüses
. Ihr solltet lieber machen, was ich sage. Sonst ...« Ich lasse meine Fingerknöchel knacken. Das warme Leuchten geht immer noch von mir aus. »Sonst werde ich sie euch wegnehmen.«
Lou, halt die Klappe
!
Alfran hebt vorsichtig die Hand. Seine langgliedrigen Finger bewegen sich auf meine Nase zu. Plötzlich stoppen sie, als würde er gegen eine Wand stoßen. »Mutter Natur?«
Auch Belfram versucht sein Glück, will mich antatschen und kann es nicht.
Mir wird im Bruchteil einer Sekunde klar, dass es Ferenians Zauber ist, der mich beschützt. Nicht das göttliche Knospengemüse.
»Scheiße, wa?« Mutig gehe ich auf sie zu. Sie weichen zurück - zwangsläufig. Ich kann fühlen, wie sich eine unsichtbare Blase aus Energie um mich bildet. Sie verdrängt die Dunkelheit, wie Feuer Eis zum Schmelzen bringt. Und sie wird stärker - viel stärker. Fast ein bisschen zu krass, um mich nicht verrückt zu machen.
»Weichet, Ungläubige. Ich befehle Euch ... mir meinen ... Untertan zu bringen. Prinz Silyan, der Erste seines Namens«, rufe ich geschwollen.
Wenn das funktioniert, geh ich auf eine Theaterschule ...
Alfran und Belfram sehen sich an und verfallen keine Sekunde später in abgrundtief böses Gelächter.
Das war wohl nix.
»Darf ich ihn behalten?«, bettelt Belfram seinen Bruder an. »Müssen wir ihn denn umbringen? Er ist so niedlich.« Beim Wort Umbringen
brennt was in meinem Hirn durch.
»Ich fürchte, wir haben keine Wahl, Bruder.«
»Ich bin bestimmt ein gutes Haustier!«, plappere ich drauf los. »Ich bin sauber und erzogen. Meistens jedenfalls mache ich auch das, was man mir sagt. Und ich kann echt nett sein und still und ...«
Was tue ich hier eigentlich
?
»Und wenn wir ihn verstecken?«, schlägt Belfram vor. »Die Herrin hat doch schon zwei.«
»Zwei?«, frage ich mit einer furchtbaren Ahnung.
»Ja, zwei«, bestätigt Belfram. »Bruder, müssen wir ihr denn auch den Menschen geben?«
»Das liegt nicht in unserer Entscheidung.« Alfran sieht zu seinem dämlichen Bruder und drosselt die Stimme. »Und du weißt das.«
Belfram seufzt wie ein trotziges Kind.
»Es wäre ohnehin zu spät. Sie ist hier.«
Plötzlich geschieht es. Eine gewaltige Energiewelle erscheint - wie aus dem Nichts - drückt mich zu Boden, dringt in meinen Körper, in meinen Kopf, hinterlässt nur Schatten und Verzweiflung.
Ich schreie, weil ich glaube, dass mein Hirn gleich explodiert.
WAS IST DAS???
Ein Wesen aus reinsten Schatten nähert sich. Eine gewaltige, energetische Welle flutet die Höhle. Ich kann nicht aufstehen, nur mit reiner Willenskraft atmen. Ich sehe nichts, außer unendliche Finsternis.
Dann plötzlich spüre ich es. Es greift nach mir, ohne mich zu berühren. Eine dunkle, verderbte Energie - wie damals bei dem Knoten, den ich mit Ferenians Hilfe neutralisiert habe - aber viel stärker. Viel, viel stärker. Ein Haus im Gegensatz zu einer Nuss-stärker.
Ich kann mich nicht bewegen, sehe nichts, höre nichts, bin vollkommen willenlos. Ich schwebe und falle, ich lebe und bin gleichzeitig tot. Ich bin nichts.
Ferenian
.
Es ist der erste und einzige Gedanke, der mir kommt.
Ferenian.
Es ist das einzige Wort, der einzige Name, der noch da ist.
Ferenian.
Es ist das kräftige Grün seiner Augen, das in der Dunkelheit leuchtet. Ich sehe sein Gesicht vor mir, will die Hand nach ihm ausstrecken. Aber ich kann mich nicht bewegen.
Ferenian, hilf mir.
Es sind drei Worte, die ich denke, in einer endlos langen Schleife. Immer und immer wieder, bis sie Gestalt annehmen.
»Ferenian, hilf mir«, sagt eine Stimme, die sich nach meiner anhört.
Lou
, sagt er in meinen Gedanken. Ich spüre, dass er da ist. Ganz nahe.
Ich bin hier, Lou.
Er kommt näher. Ich fühle ihn in meinem ganzen Körper. Sein Licht verdrängt die Dunkelheit.
Ich bin da.
Ich öffne die Augen, sehe ihn auf mich zukommen, spüre, wie er das Böse beiseite drückt, um zu mir zu gelangen. Als würde er ein Meer trennen.
Konzentrier dich auf mich.
Spätestens nach dieser Ansage weiß ich, dass er es ist. Ich weiß genau, was er von mir will. Wir haben das bis zum Erbrechen geübt. Ich beginne, mich zu konzentrieren, alles auszublenden und fühle nur ihn.
Die Dunkelheit versiegt mit einem Schlag, als würde man Rauch einsaugen. Doch die Präsenz des Bösen bleibt bestehen
.
Ich sehe wieder den Raum, erkenne Alfran und Belfram. Sie knien vor einer Frau mit drei Paar schwarzen Schwingen. Ihre Haare sind wild und schweben neben ihrem Kopf in der Luft. Sie ist wunderschön und so dunkel, dass ich fürchte, allein bei ihrem Anblick den Verstand zu verlieren.
Doch sie ist nicht der einzige Neuankömmling. Hinter ihr tauchen noch ganz viele Alfrans und Belframs auf, Dutzende, Hunderte. Sie fluten den Raum mit ihren verderbten Auren. Und mitten unter ihnen zwei helle Punkte.
Ferenian ... Silyan!
Ich erkenne sie sofort wieder. Obwohl ihre Körper so sehr von Schlingpflanzen eingeschnürt sind, dass nur ihre Köpfe und Flügelspitzen herausgucken. Sie schweben über allem, werden von einem gigantischen Pflanzenmonster getragen, das noch viel mehr solcher Fangarme besitzt.
Ferenian, nein, nicht du auch noch.
Die Erkenntnis, dass sie ihn erwischt haben, frisst sich in mein Herz wie eine Krankheit. Ich fühle mich hilflos angesichts dieser Übermacht. Wenn selbst Ferenian Silyan nicht retten kann. Wie sollte ich das schaffen?
Das war`s dann wohl ...
Ich bleibe sitzen, sehe mich resignierend um. So hatte ich mir meinen Tod nicht vorgestellt. Ehrlich nicht. Ich habe immer geglaubt, irgendwann als Suffie und Obdachloser auf der Warschauer Brücke zu erfrieren. Aber das?
Diese Welt, diese gesamte Szene ist so grotesk wie die Zwillinge hässlich sind. Mittlerweile haben sie sich erhoben und holen sich von der Obermutti Befehle ab. Wahrscheinlich darüber, wie sie mich zerteilen sollen.
Jetzt könnte ich eine rauchen ..
.
Zu dumm, dass ich aufgehört habe. Aber auch eine Kippe würde mir nicht helfen. Ich bin erledigt - wir alle sind erledigt. Ich habe keine Ahnung, wer diese Frau ist, doch alleine ihre Anwesenheit entzieht mir jegliches, gutes Gefühl. Es ist, als würde sie meine schönen Emotionen in sich einsaugen und nur den modrigen Grund zurücklassen: Angst, Verzweiflung, Hoffnungslosigkeit, Resignation.
Ich bin so antriebslos, dass ich nicht einmal aufstehen kann.
Wozu auch? Es ist vorbei.
Alles ist gelaufen. Ich bin schon so gut wie tot und kann nichts dagegen tun.
Lou.
Ich sehe auf meine Finger, die es nicht mal schaffen, sich zu einer Faust zu schließen. Selbst dafür fehlt mir die Kraft.
Lou, ich bin hier.
Ich halluziniere schon. Wahrscheinlich gibt es Silyan und Ferenian nicht mal und ich bilde mir das alles ein.
Lou, hier oben.
Doch dieser komische Gedanke bleibt hartnäckig. Er fühlt sich echt an, obwohl er nicht von mir kommt.
Lou, ich weiß, dass du mich spürst. Tief in dir.
Ich sehe auf, begegne Ferenians Blick. Er nickt leicht.
Ich kann mich immer noch nicht bewegen, spüre aber, dass sich etwas in mir erwärmt.
Hör mir zu, du musst mir ganz genau zuhören, Lou. Es ist von großer Wichtigkeit.
Ich blinzle dreimal langsam. Keine Ahnung, ob er es sehen kann.
Und auch nicht, ob es ihn überhaupt gibt. Das ist alles so verwirrend.
Lou, ich brauche deine Hilfe. Hörst du mich? Wir können es schaffen.
Ich weiß, dass er lügt. Gar nichts können wir. Sie sind beide gefangen und ich kann meinen Körper nicht bewegen. Ich bin keine Hilfe, das muss er sehen.
Lou ... vertrau mir. Vertrau dir selbst.
Ich spüre, wie sich mein Herz vor Zorn ballt. Das ist so typisch Ferenian - er kommt wieder mit so einem pseudo-intellektuellen Spruch daher und ich muss reagieren.
Vergiss es, es ist vorbei
, denke ich so klar und laut wie möglich. Ich weiß nicht, ob es bei ihm ankommt. Anscheinend nicht, denn eine Weile bleibt es still.
Lou, denk an meine Worte. Du bist stark. In dir steckt so viel mehr, als man von außen sieht.
Ich erinnere mich an gar nichts Positives. Ich sehe nur die vielen Situationen vor mir, in denen er mich zur Sau gemacht hat, er hasst mich und benutzt mich nur. Ich habe keinen Grund ihm zu vertrauen.
Lou, es tut mir leid.
Ich starre ihn an, warte ab. Sein Entschuldigungsversuch kommt reichlich spät und zum ungünstigsten Zeitpunkt.
Ich habe mich in dir getäuscht.
»Ach, was du nicht sagst«, murmle ich vor mich hin.
Im Augenwinkel bekomme ich mit, wie sich Alfran und Belfram von der Oberlady trennen. Sie nimmt mich ins Visier und sofort bricht der Kontakt zu Ferenian ab.
Ein stechender Schmerz durchzuckt mich, lässt mich willenlos zittern.
Ich krümme mich auf dem Boden, fühle, wie das Leben aus mir dringt.
Die Dunkelheit wird übermächtig. Sie ist in mir und schluckt alles, was ich bin.
Lou!
Ferenian ist wieder da, ganz leise und extrem weit entfernt. Ich weiß, dass mein Leben jetzt vorbei ist.
Ferenian
, schicke ich zu ihm zurück, Ich liebe dich.
Kaum ist der Gedanke ausgesprochen, erlischt alles um mich herum. Sekunden verstreichen so quälend langsam, dass ich nachfühlen kann, wie mein Herz einfach aufhört zu schlagen.
Ich bin im unendlichen Nichts.
Ich bin tot.
Ich ... lebe?
Plötzlich erscheint Helligkeit um mich herum, als hätte jemand einen Lichtschalter gedrückt. Ich reiße die Augen auf, schnappe nach Luft, fühle die Wärme, die in meinen Körper dringt.
Goldenes Licht?
Ich bin von ihm umgeben, sehe nichts anderes mehr. Es ist so verdammt grell, dass ich kaum die Augen aufhalten kann. Es fühlt sich gut an - großartig. So mächtig und gleichzeitig leicht, dass ich einfach aufstehen kann. Ich steige immer höher, hebe vom Boden ab.
Und endlich nehme ich auch wieder meine Umgebung wahr. Ich bin nicht allein. Ich bin auch nicht tot. Ich bin noch genau da, wo ich eben gewesen bin. In einer Höhle, umgeben von sehr viel Dunkelhei
t. Doch sie macht mir nichts mehr aus.
Lou ...
Ich weiß, dass es Ferenian ist, er ist in mir. Ich spüre ihn in meinem gesamten Körper. Ich teile ihn mit ihm.
Wir brauchen mehr.
Obwohl ich keine Ahnung habe, was er damit meint, passiert etwas. Ganz automatisch. Ich strecke die Arme aus, verbreite damit den Radius des Lichts, das wie eine Blase um mich herum wabert.
Dahinter ist das dunkle Nichts. Und sehr viel Unruhe. Ich sehe es und höre alles, aber ich blende es aus, weil ich nur Ferenian höre.
Noch mehr
, sagt er. Und ich gebe ihm mehr. Das Licht wird stärker, breitet sich aus, bedrängt die Finsternis. Ich höre sie kreischen, es quält sie.
Mehr.
Es ist so leicht. Ich muss gar nichts groß tun und der Kreis wird weiter. Da ist eine Kraft in mir, die ich nicht greifen - nicht benennen kann - aber sie ist echt und sie ist so stark, dass ich alles schaffen kann.
Das hast du gut gemacht. Und jetzt ... kehr sie um.
Ich sehe Ferenian in die Augen, blicke tief in sein Innerstes, das sich vor mir entblättert wie eine junge Blüte. Ich sehe Schmerz und Leid, Verzweiflung und Angst. Und ... Liebe.
Mehr muss ich nicht sehen.
Mein Blick wendet sich auf die dunkle Königin - das Wesen puren Schattens - das mit seinen krallenartigen Klauen nach mir greift.
Ich ziele mit beiden Händen auf sie und atme ein letztes Mal tief aus, bevor ich die Lichtblase mit einem Ruck zerplatzen
lasse. Goldener Staub erfüllt die Luft, legt sich um mich wie eine zweite Haut.
Ich sehe die Dunkelheit auf mich zurasen, ziehe sie zu mir hin und lasse sie hinein. Ich spüre unendliche Kälte, als sie in mich eindringt. So stark, so viel, so heftig, dass ich wieder auf dem Boden ankomme. Ich könnte jederzeit daran zerbrechen. Ich könnte, aber ich werde nicht.
Das ist für dich, Ferenian.
Ich hebe den Kopf, stehe aufrecht, lasse all die Dunkelheit in meinen Körper dringen. Ich weiß, dass ich es aushalten kann. Ich spüre die Macht des Lichts in mir. Sie ist noch da. Er ist noch da. Er wird immer da sein.
»Mehr hast du nicht drauf, Bitch?!«, rufe ich ihr entgegen. Die Dunkelheit nimmt immer weiter zu. Sie strengt sich an, ich fühle es. Und ich höre es.
Sie kreischt.
Sie tobt.
Sie kann es nicht glauben.
Dann plötzlich ist alles vorbei.