Kapitel 1
L
aut klackerten ihre hohen Absätze auf dem Asphalt. Sie lief durch eine der kleinen Straßen, die vom Oeder Weg in Richtung Eckenheimer Landstraße führen. Für diese Uhrzeit war ungewöhnlich wenig los. Es nieselte seit Stunden. Die wenigen Menschen, die ihr begegneten, hasteten mit tief unter ihre aufgespannten Regenschirme gesenkten Köpfen durch die Dunkelheit. Sie trug ebenfalls einen Schirm, mit der anderen Hand hielt sie den Kragen ihres Trenchcoats geschlossen. Innerlich fluchte sie, denn das Wetter würde ihre teuren Strümpfe versauen. Um die Schuhe machte sie sich keine Sorgen. Für die hatte sie Ersatz. Ein wesentlich höheres Paar, in der Tasche, die an ihrem Arm hing.
„Ich hätte mir ein Taxi nehmen sollen“, murmelte sie leise vor sich hin. Doch wie üblich war sie mit der U-Bahn gefahren. Sie war sparsam, Taxifahrten strapazierten das Budget zu sehr.
Ihre Blicke wanderten an den Hausnummern entlang bis sie ihr Ziel erreicht hatte. Ein gesichtsloses Appartementhaus, das so gar nicht in diese Straße passte. Sie drückte die Klingel, zweimal kurz, einmal lang. Das verabredete Signal. Mit dem Lift fuhr sie in den fünften Stock. Als sich die automatischen Türen öffneten, wartete er bereits. Er musterte sie kalt.
Einen Moment lang standen sie sich stumm gegenüber. Plötzlich holte er aus und schlug ihr mit der flachen Hand brutal ins Gesicht.
***
„Ich bring die Schlampe um und dich gleich mit!“
Der Mann stand breitbeinig im Flur der kleinen Wohnung am Rohrbrunner Weg. Er hielt den rechten Arm wie zum Schlag erhoben. Mit seiner intensiven Bierfahne und den blutunterlaufenen Augen passte er in das gängige Klischee vom typischen Bewohner des östlichen Spessartviertels, eines Wohnquartiers in Dietzenbach, das über die Stadtgrenzen hinaus berüchtigt war.
„Beruhigen Sie sich!“ Lena Borowskis Stimme zitterte kein bisschen, obwohl innerlich ein Sturm vielfältiger Gefühle tobte. Wut und Zorn ebenso wie Angst vor der unberechenbaren Aggressivität, die ihr hier in Person des angetrunkenen Mannes gegenüberstand.
„Sie haben hier gar nichts zu melden!“, schrie er. „Wer sind Sie überhaupt? Was geht es Sie an, was ich mit meiner Frau mache?“
Sie zeigte auf die Frau, die hinter dem Mann im Flur wie ein Bündel Elend auf dem Boden kauerte.
„Lassen Sie Ihre Frau aus der Wohnung gehen. Sie braucht einen Arzt.“
Die Augen des Angesprochenen spiegelten kurz hintereinander völlig unterschiedliche Emotionen. Schmerz, Wut, Unsicherheit. Lena Borowski rührte sich nicht von der Stelle.
„Wir können alles regeln. Aber lassen Sie jetzt bitte Ihre Frau gehen!“
Alles regeln, daran glaubte Lena nicht. Dieser Mann hatte seine Frau schon früher misshandelt. Während sie äußerlich ruhig blieb, nicht zurückwich, den Mann zwar beobachtete, ihn aber nicht zusätzlich provozierte, überlegte sie fieberhaft, was sie tun sollte. Würde er, wenn sie jetzt von der Tür wegging, um die Polizei zu rufen, seine Frau vollends krankenhausreif prügeln, oder ihr gar Schlimmeres antun? Lena Borowski war seit über zehn Jahren im Jugendamt, hatte schon alles gesehen, was Familienmitglieder einander antun konnten.
In einer der oberen Etagen klappte eine Tür, eilige Schritte kamen
über die Treppe nach unten. Eine Frau, sie mochte Anfang dreißig sein, in ihrem Alter. Als sie Lena bemerkte, hielt sie kurz inne und maß sie und den schwankenden Mann in der halb offenen Tür. Die Augen der Nachbarin weiteten sich, als sie das heftige Schluchzen aus der Wohnung hörte. Lautlos formte ihr Mund ein Wort. Lena signalisierte ihr mit einem Lidschlag ein „Ja“. Die Frau würde jetzt nach unten gehen und die Polizei anrufen, dessen war sie sich sicher.
Der Mann vor ihr hielt seine Fäuste geballt, er schien die Nachbarin nicht wahrgenommen zu haben.
„Ich lass mir das nicht bieten“, zischte er. „Erst hängt sie mir das Kind an, dann haut sie ab zu einem anderen Kerl und ich soll zahlen.“
„Wir werden das alles regeln“, wiederholte Lena. Sie verschob die Erörterung seiner Einkommenssituation lieber auf einen anderen Tag. Ihrer Erfahrung nach brachte es gar nichts, in solch einer aufgeheizten Situation auf Gesetze zu pochen. Das musste in einer beruhigten Atmosphäre stattfinden. Aber zunächst wollte sie die Frau herausholen, bevor ihr Schlimmeres zustieß. Das leise Weinen im Hintergrund stockte erschrocken, als der Mann sich einige Schritte in den Flur hineinbewegte und auf seine Noch-Ehefrau zuging.
„Du bist schuld an allem. Konntest den Hals nicht voll genug kriegen. Als ich noch Geld nach Hause gebracht habe, war ich gut genug für dich. Und jetzt …“ Wieder hob er die Faust. Die Frau schrie auf und hielt die Arme schützend über den Kopf, blieb jedoch am Boden hocken.
„Herr Jahnke, hören Sie auf!“ Lena spürte, wie das Adrenalin durch ihren Körper schoss. Sie würde nicht zusehen können, wenn der Mann auf seine Frau einschlug. Sie wägte ab, ob ihre Kenntnisse in Selbstverteidigung in dieser Situation ausreichen würden, um dazwischen gehen zu können, wenn es zum Äußersten käme. Der Mann war groß und schwer gebaut. Und er hatte getrunken, war also nur bedingt berechenbar.
„Herr Jahnke!“, rief Lena noch einmal. Sie wagte sich einen Schritt vor, übertrat die Schwelle zur Wohnung. Der Mann wirbelte herum und fauchte, mit Schaum vor dem Mund.
„Bleiben Sie, wo Sie sind!“
Die Entscheidung, ob und was sie tun konnte, wurde Lena in der nächsten Sekunde abgenommen, als zwei Polizisten, ein grauhaariger Mann und eine jüngere Frau mit einem wippenden roten Pferdeschwanz unter der Mütze, die Treppe heraufgerannt kamen. Lena trat sofort zur Seite und überließ es den beiden, die Situation unter Kontrolle zu bringen. Erst jetzt merkte sie, dass ihre Knie zitterten. Der Dienstausweis, den sie noch in der Hand hielt, flatterte und sie steckte ihn entschlossen weg. Die Nachbarin tauchte am Treppenabsatz auf und schaute mit großen Augen herauf.
„Danke, dass Sie so schnell reagiert haben“, sagte Lena. „Keine Ursache, ich hatte Glück, die Streife war ganz in der Nähe. Da unten ging es seit dem Auszug der Frau regelmäßig laut zu.“
Lena konnte sich schon vorstellen, was das bedeutete. Eine Frau, die aus unerfindlichen Gründen immer wieder zu ihrem Ehemann zurückkehrte. Um ihn um Geld zu bitten? Wollte sie die Hoffnung auf Versöhnung nicht aufgeben, trotz der Prügel, die sie bezog? Oder spielten ganz andere Gründe eine Rolle? Lena war kaum etwas Menschliches fremd, und sie hatte erkannt, wie schwierig es war, die Beweggründe ihrer Klienten zu verstehen.
Wenig später verließen die Polizisten mit dem Mann die Wohnung, während ein Notarzt sich um die heftig weinende Ehefrau kümmerte.
Lenas Einsatz für heute war beendet. Sie ging zu ihrem Auto, das sie wie üblich ein ganzes Stück entfernt in einer Seitenstraße geparkt hatte. Sie kannte solche Diskussionen zur Genüge. Im Jugendamt hatten sie es alle naslang mit säumigen Zahlern zu tun. Wenn die Ehefrau ging, hielten es manche Männer für ihr Recht, auch den Unterhalt für die gemeinsamen Kinder zu verweigern. Besonders, wenn neue Partner oder Partnerinnen im Spiel waren oder das
Einkommen ohnehin knapp war.
Was für Zustände, dachte Lena, als sie den Zündschlüssel drehte und davonfuhr.
***
Sieglinde Brohm kritzelte nervös auf dem Block herum, der vor ihr auf dem Tisch lag. Ihr Chef, Jugendamtsleiter Märkle, hatte an diesem Montagmorgen kurzfristig eine außerordentliche Sitzung mit allen Abteilungsleitern einberufen. Zu diesem Kreis zählte auch seit kurzer Zeit Sieglinde Brohm.
„Die Politik hat wieder Wünsche geäußert.“ Bei diesen Worten verdrehte Märkle die Augen nach oben. In die Richtung, in der sich, von dem kleinen Konferenzraum aus gesehen, die Büros des Landrats und der Dezernentin befanden. Es war kein Geheimnis, dass sich der Amtsleiter und die Sozialdezernentin – Märkles Vorgesetzte – nicht leiden konnten. Das lag nicht nur an den unterschiedlichen politischen Lagern, zu denen sie gehörten. Der Jugendamtsleiter war gebeten worden, zu prüfen, ob er einige Mitarbeiter für ein Spezialprojekt abstellen konnte.
„Querschnittsaufgaben“, schnaubte er, als handele es sich dabei um etwas Unanständiges.
„Wo und was genau?“, fragte sein Stellvertreter Mielke, ein engagierter und hungriger Sozialarbeiter, der schon viel zu lange darauf wartete, befördert zu werden, und gleichzeitig wusste, dass auf absehbare Zeit der Aufzug nach oben blockiert war. Wer heute im öffentlichen Dienst auf einer Amtsleiterstelle saß, ging nicht so schnell weg. Wohin auch? Die viel beschworene freie Wirtschaft bot trotz der besser verhandelbaren Gehälter nach den rasanten Talfahrten der Konjunktur kein sicheres und warmes Plätzchen
mehr.
Märkle erklärte langatmig das Projekt. Personal verschiedener Ämter sollte im größten sozialen Brennpunkt der Stadt Dietzenbach, im Spessartviertel, ein Team bilden. Circa dreitausend Menschen der unterschiedlichsten Nationalitäten lebten dort in fünf Hochhausblocks. Mit vereinten Kräften bemühten sich die Stadt Dietzenbach, der zuständige Landkreis Offenbach und engagierte Bürger seit vielen Jahren, den Ruf des Viertels und das Zusammenleben der Bewohner zu verbessern.
Bei dem anstehenden Pilotprojekt ging es darum, vor Ort Präsenz zu zeigen und ämterübergreifend Präventivmaßnahmen zu entwickeln.
„Und an wie viele Leute aus unserem Amt wird gedacht?“ Mielke war gewohnt pragmatisch bis zur Gefühllosigkeit, vielleicht konnte er nur so den Gedanken an die vielen Stellvertreterjahre ertragen, die noch vor ihm lagen. Ein paar Kollegen scharrten schon mit den Füßen, es wurde leise gehüstelt. Auch Sieglinde war etwas tiefer in ihren Stuhl gerutscht und hatte kurz gedankenverloren aus dem Fenster geschaut. Das Projekt interessierte sie nicht die Bohne, sie hatte genug zu tun mit der Organisation ihrer Abteilung, nachdem drei Stellen bereits einen „K.w.-Vermerk“ im Personalplan trugen – die Abkürzung für „künftig wegfallend“. Das bedeutete, dass die Stellen nicht wieder besetzt werden würden, sollten die jetzigen Stelleninhaber, egal aus welchen Gründen, ausscheiden.
„Zwei Leute sollen wir abstellen“, hatte Märkle auf Mielkes Frage geantwortet und damit Sieglinde Brohms Gedankengänge unterbrochen. Man einigte sich darauf, dass der Stellvertreter die weitere Organisation des Projektes übernahm. Insbesondere auch die Verteilung der Tagesarbeit auf das restliche Personal. Keine angenehme Aufgabe, die Personaldecke war so dünn, dass man schon hindurchsehen konnte.
„Freiwillige vor“, hieß es jetzt. Doch zunächst hatte sich keine der fünf anwesenden Abteilungsleitungen gerührt.
„Es gibt sicher ein paar Jungs von der Suchtberatung, die ganz scharf darauf sind, von ihren verwaltungslastigen Schreibtischen wieder in die freie Wildbahn hinaus zu dürfen“, flüsterte Sieglinde Brohms Nachbarin ihr grinsend zu. Märkle hatte es wohl gehört, seine Augenbrauen zuckten, dennoch hob er nicht den Blick von seinen Notizen, als er fortfuhr.
„Die Suchtberatung ist schon mit im Boot, das Sozialamt ebenfalls. Wir kommen also nicht darum herum, bald unsere Vorschläge einzureichen. Sonst heißt es womöglich, wir würden innovative Sozialpolitik boykottieren.“
Sieglinde Brohm schoss ein Gedanke durch den Kopf. In letzter Zeit hatte sie einige unliebsame Diskussionen führen müssen. Es ging um die Frage der Eignung von Tagesmüttern und Pflegefamilien, über die sie mit einer bestimmten Person aus ihrem Team häufig in Auseinandersetzungen geriet, was ihr lästig war. Und ihre Stelle als Abteilungsleiterin konnte sie nur dann effizient ausfüllen, wenn solche Diskussionen nicht an der Tagesordnung waren. Neulich schon war sie von einer Kollegin auf die „leichte Unruhe“ in ihrer Abteilung angesprochen worden. Sicher war es nicht verkehrt, die betreffende Person befristet in die Querschnittsabteilung wechseln zu lassen. Dadurch würden wieder mehr Ruhe und Stringenz in ihren Laden zurückkehren, und sie wäre in der Lage, auch unliebsame Entscheidungen schneller durchzuboxen. Die Renitenz hatte einen Namen … Vorsichtig räusperte sie sich.
„Ja, Sieglinde?“ Märkles und Mielkes Augen ruhten in seltener Eintracht auf ihr.
„Also – ich wüsste da jemanden.“
Alle schauten sie erstaunt an, als sie den Namen nannte.
„Das ist eine deiner besten Sozialarbeiterinnen. Sie hat doch erst letzte Woche wieder bewiesen, wie gut sie auch schwierige Situationen im Außendienst meistern kann.“ Das war Märkles hohe Stimme.
„Eben, darum. Dieses Projekt braucht die besten Leute.“
Mielke schob seine Unterlippe nach vorn, nickte und machte sich einen entsprechenden Vermerk für das Besprechungsprotokoll.
„Gut, vielen Dank für diesen schnellen Vorschlag, Sieglinde. Die anderen bitte ich, mir bis übermorgen Bescheid zu geben.“
Gleich darauf zerstreute sich die kleine Gruppe und auch Sieglinde Brohm eilte mit zielstrebigen Schritten zurück in ihr Büro.
***
Das kleine Mädchen mit der rot-weiß geringelten Strickmütze und der für diese Jahreszeit viel zu schweren, steifen Jacke lief neugierig hinter dem bunt gescheckten, dreibeinigen Hund her. Er humpelte so schnell er konnte, um die Ratte zu erwischen, die indes uneinholbar davoneilte, bis sie schließlich unter einem Berg von Abfall, Schutt und Gerümpel verschwand. Vor ein paar Tagen waren hier, in Sichtweite des Spessartviertels, illegale Gartenhütten auf behördliche Anordnung abgerissen worden. Eine Menge Gerümpel wartete auf den Abtransport. Samantha hätte sich gar nicht so weit von zu Hause entfernen dürfen und schaute sich unsicher um. Mama hatte sie weggeschickt. „Nur bis zum Spielplatz, hörst du!“ Aber dort hatte sie ganz alleine gesessen und kühl war es auch, weil der Spielplatz nachmittags im Schatten der großen Hochhäuser lag. Und dann kam dieser kleine Hund. Die Kleine liebte Tiere, aber Mama hatte ihr nie erlaubt, eines zu haben. Er schaute sie so treuherzig an und sie hatte Mitleid mit ihm, weil ihm eine Pfote fehlte und er so unbeholfen wirkte. So wie sie selbst manchmal auch.
Nun standen Kind und Hund ratlos vor einem riesigen Berg von
Schutt, zerborstenen Holzbrettern und Teilen verrosteter Maschendrahtzäune. Das Mädchen wollte gerade umdrehen und zum Spielplatz zurücklaufen, als irgendetwas erneut die Aufmerksamkeit des Hundes erregte. Er zitterte auf einmal am ganzen Leib und zog seinen braun-weiß gescheckten Schwanz ein. Ein heiseres Bellen, ein Blick zu ihr und dann sah sie es auch. Mitten aus dem Gerümpel ragte eine steife weiße Hand, sie gehörte zweifellos einer Frau! Und diese Frau, das sah Samantha sofort, konnte nicht mehr am Leben sein!
***
Während Sieglinde Brohm in ihrem Büro ein Fenster öffnete und frische, kühle Luft in das Zimmer strömen ließ, dachte sie noch einmal kurz an die Besprechung. Es war überdeutlich gewesen, wie wenig motiviert die meisten Kolleginnen und Kollegen momentan waren. Personalkürzungen, wiederholte Angriffe der Presse, sobald im sozialen Bereich etwas schieflief, dazu das Hin und Her der Politik in Fragen von sozialer Bedeutung. Geldbeutel wurden auf- und wieder zugemacht, je nachdem, wie es parteipolitisch gerade passte. Es ging auf die Landratswahlen zu, in einem Jahr würden sich der Amtsinhaber und die Sozialdezernentin vermutlich einen harten Wahlkampf liefern. Die Positionen waren verteilt, die Strategien kristallisierten sich langsam heraus, bereits jetzt wurden die Soldaten in Stellung gebracht. Nichts anderes waren die Beschäftigten des Landratsamtes in diesem Moment. Sie wusste genau, worauf dieses neue Projekt hinauslaufen würde. Ohne jemandem guten Willen absprechen zu wollen, sollte es vor allem dazu dienen, die aufgeschreckte Bevölkerung zu beruhigen. Zu viele Dinge waren in den vergangenen Monaten in einigen sozialen Brennpunkten in dem aus dreizehn Kommunen bestehenden Landkreis geschehen. Das größte Problemviertel lag hier, quasi direkt vor der Haustür. Dietzenbach war im Grunde eine schöne Kleinstadt, mitten im Landkreis gelegen. In der Altstadt standen
schöne Fachwerkhäuser, es gab gute Einkaufsmöglichkeiten und mehrere ruhige und gutbürgerliche Wohnviertel, die durchaus Lebensqualität boten. Auch der in angrenzenden Kommunen allgegenwärtige Fluglärm, eine lästige Begleiterscheinung des nordwestlich liegenden Rhein-Main-Flughafens, war hier kein Thema. Trotz alledem machte die Stadt vorwiegend negative überregionale Schlagzeilen. Im Spessartviertel waren in den siebziger Jahren mehrere Wohnblöcke mit Eigentumswohnungen entstanden, ursprünglich gedacht für Menschen, die im nördlich gelegenen Frankfurt arbeiten. Nachdem bereits von Anfang an mehr und mehr sozial schwache Menschen dort eingezogen waren, war inzwischen ein Quartier daraus geworden, das für soziale Unruhe sorgte. Genau dort lebten offiziell ungefähr zehn Prozent der Einwohner der Stadt, inoffiziell vermutlich wesentlich mehr. Ein Thema also, an dem auch die Sozialpolitik sich seit Jahrzehnten abarbeitete. Man hatte hoffnungslos überbelegte Wohnungen gefunden. Unter der Hand vermietet an illegale Einwanderer, Tagelöhner aus Osteuropa, Kriminelle. Dazu kamen in letzter Zeit häufig Straßenschlachten zwischen der örtlichen Polizei und einer Jugendgang, eine extrem hohe Arbeitslosenquote, verwahrloste Kinder, Alkoholismus und Drogengeschäfte. Das waren die Schlagworte, an denen sich nicht nur die Presse ständig hochzog. Mit der geplanten Querschnittsabteilung sollte ein Signal gesetzt werden. Jeder von ihnen hatte heute früh jedoch nur an eines gedacht: dass nach der engagierten Anfangsphase stets das Damoklesschwert der Einstellung des Projektes nach der Landratswahl über ihnen schweben würde. Ein verlorenes Jahr hatte es jemand genannt. Zu lange für die Beteiligten, um wieder reibungslos an den eigenen Schreibtisch im jeweiligen Amt zurückkehren zu können. Zu kurz, um wirklich etwas zu bewegen. Augenwischerei zur politischen Profilierung der Dezernentin, so sah Sieglinde es auch.
***
Berthold Wagner stellte das Teleskop noch eine Spur schärfer. Die kleine Maus von Gegenüber, die vor ein paar Minuten nach Hause gekommen war und sich gerade umzog, präsentierte ihm wieder einmal das volle Programm. Seit sie in die Wohnung im benachbarten Hochhaus gezogen war, brauchte er sich kaum noch durch einen der vielen Schmuddelkanäle im Fernsehen zu zappen. Welch ein Segen, dass die jüngere Generation es uncool fand, Gardinen an den Fenstern anzubringen, die waren alle so gedankenlos. Die junge Frau hatte zwar offenbar keinen Kerl, aber so oft, wie die sich umzog, lechzte sie doch geradezu danach, Beachtung zu finden! Gierig fuhr er sich mit der Zunge über die trockene Unterlippe, als die junge Frau ihren Büstenhalter aufhakte und einen Moment lang barbusig zu sehen war. Gleich darauf schlüpfte sie sogar aus ihrem Höschen, warf es achtlos auf das breite, trotz der Nachmittagsstunde noch ungemachte Bett, stellte sich einen Moment lang vor den großen Spiegel ihres Kleiderschranks und präsentierte ihm ihren knackigen Hintern. Dort drehte und wendete sie sich kurz, um sich von allen Seiten zu betrachten. Berthold Wagners Hand glitt in seine graue schmuddelige Jogginghose, gleich darauf fing er an, schwer zu atmen. Die Frau legte einen Moment lang die rechte Hand auf ihren flachen Bauch, als wollte sie seine Festigkeit prüfen, und steckte sich danach die Haare auf. Gleich würde sie ins Badezimmer hinübergehen und damit aus seinem Sichtfeld verschwinden. Zu früh, er war noch nicht soweit.
„Komm, Kätzchen, dreh dich noch einmal um und lass mich deinen geilen Körper von vorne sehen“, murmelte er und als habe sie ihn gehört, ging sie noch einmal auf das Bett zu. Die Kleine war aber auch zu scharf! Vor ein paar Tagen waren sie sich zufällig im Supermarkt begegnet, wobei sie natürlich keine Ahnung hatte, wer da eine ganze Weile unauffällig hinter ihr hergeschlichen war. Bei dieser Gelegenheit konnte er sie genauer und aus der Nähe beobachten, ihre zarte Haut betrachten und ihren Duft riechen. Den Duft einer jungen Frau, der ihn schließlich dazu animierte, sich an der Kasse ganz dicht hinter sie zu stellen. Doch die blöde Kuh hatte nur in ihr Handy gequatscht und sich nicht einmal nach ihm umgedreht. Jetzt tastete sich sein Objektiv von ihren weichen Brüsten nach unten. Sie
war teilrasiert, und als der heftig schnaufende Mann sein Objektiv genau auf ihren Schoß richtete, überflutete ihn die Erregung, und er ergoss sich grunzend in seine Jogginghose. Schwer atmend sank er auf einen alten Küchenhocker und stierte ein paar Minuten vor sich hin, während er die feuchte Hand am Hosenbein abwischte. Dann trat er erneut an sein Teleskop, das durch seine heftige Bewegung von eben verdreht stand und ein völlig neues Szenario zeigte.
Zwischen den Schutthaufen der abgerissenen Gartenhütten am Rande der Siedlung, hinter den rot-weißen Markierungsbändern, standen ein paar Jugendliche herum. Wagner wollte das Teleskop schon wieder zurückdrehen, um sich wieder seiner Nachbarin zu widmen, als er aus einem Impuls heraus sich anders entschied und die Szene noch ein bisschen näher heranzoomte. Es ging eine nervöse Energie von den Jugendlichen aus, die selbst er auf die Entfernung spürte. Die drei halbwüchsigen Jungen gestikulierten wild, während sie etwas diskutierten. Mit ihren uniformen Kapuzenshirts sahen sie für ihn alle gleich aus, er hätte noch nicht einmal sagen können, ob einer von ihnen im selben Hochhaus wohnte wie er. Am Rande des Geschehens stand ein kleines Mädchen mit einer rot-weiß gestrickten Mütze auf dem Kopf. Wagner erkannte in ihr die Kleine, die mit ihrer Mutter ein paar Häuser weiter wohnte. Ein dürres, schüchternes Ding, das so gar nicht nach seiner Mutter kam, die für ihren lockeren Unterleib und ihr Schlappmaul im ganzen Viertel bekannt war. Neben der Kleinen saß ein kleiner Hund, den Wagner noch nie gesehen hatte.
Die drei Jungs schienen über etwas uneins zu sein, das mit dem Abfallberg zu tun hatte. Einer deutete wiederholt darauf und dann auf die kleine Schrebergartensiedlung in Sichtweite. Dort standen die legalen Hütten. Einer seiner Begleiter holte nun ein Handy hervor und wollte telefonieren, wurde aber von seinen beiden Kumpels daran gehindert. Einen Moment lang glaubte Berthold Wagner, er würde gleich Zeuge einer Prügelei, doch dann beruhigten die Gemüter sich wieder. Nun schauten plötzlich alle drei zu dem Mädchen, dessen Anwesenheit sie anscheinend über ihre Diskussion ganz vergessen hatten. Einer der Drei redete nun eindringlich und
aggressiv auf die Kleine ein. Danach schickten sie das Mädchen weg. Wagner beobachtete, wie sie mit dem Hund im Schlepptau davontrottete, zwei vom Leben Geschlagene. Einmal noch drehte sie sich um, nur um von den drei Jungs mit eindeutigen Handbewegungen davongejagt zu werden. Dann, als die Kleine außer Hörweite war, lachten die Drei und schlugen sich gegenseitig auf die Schultern. Das Mädchen verschwand aus Wagners Gesichtsfeld. Kurz darauf kam der kleine Hund alleine zurück. Er humpelte auf drei Beinen und schien nach etwas zu suchen. Einer der Jugendlichen warf einen Stein nach ihm und das Tier verschwand, sichtbar vor Schmerz aufjaulend.
„Blöde Töle“, knurrte Wagner, der in der einsetzenden Dämmerung nicht mehr so gut sehen konnte, was da hinten abging. Die hellen Sweatshirts der Jungs und ihre glühenden Zigaretten zeigten ihm noch eine ganze Weile ihre Anwesenheit an, doch er verlor das Interesse und setzte seine Beobachtungen im Haus gegenüber fort. Zwei Reihen neben der schnuckeligen Kleinen, deren Wohnung jetzt im Dunkeln lag, wohnte ein Paar, das gerne ausgefallene Spielchen im Schlafzimmer veranstaltete. Die Jalousie, die dort hing, war nur halb geschlossen, vermutlich dachten die beiden, das würde reichen, um ihre Intimsphäre zu wahren. Doch wenn im Zimmer Licht brannte, erkannte man mehr als genug. Als die Frau in einem hautengen schwarzen Latexkleidchen den Raum betrat und das Bett mit einem Gummituch abdeckte, ging Berthold Wagner schnell noch einmal zum Kühlschrank, um sich ein frisches Bier zu holen. Es sah so aus, als sollte dieser Abend noch lange interessant bleiben.