Kapitel 4
L
enas Außendiensttermin hatte sie nach Rodgau-Dudenhofen geführt, zu einer Familie, die ein Pflegekind aufgenommen hatte. Ein angenehmer Besuch, sie konnte beruhigt sein, hatte sich die Familie doch als ganz besonders liebevoll und zuverlässig erwiesen. Erst am späten Nachmittag, als Lena wieder in ihr Auto einstieg, fiel ihr auf, wo sie war.
Jürgen hatte ihr gestern am Telefon Sabrinas vorherige Adresse in einem anderen Stadtteil Rodgaus genannt. Sie hatte sie sogar noch im Kopf. Es war kein großer Umweg für sie und es konnte sicher nicht schaden, dort einmal vorbeizufahren und die ehemaligen Mitbewohnerinnen von Sabrina Marx nach der jungen Frau zu fragen.
Die Straße, die sie suchte, führte am Ortsausgang des Stadtteils Jügesheim von der Hauptstraße ab. Viele freistehende Ein- und Zweifamilienhäuser gab es hier, dazwischen ein paar Reihenhäuser. Überall gepflegte Gärten, viel Grün. Das Viertel war vermutlich in den dreißiger Jahren erbaut worden, und es sah nicht so aus, als habe es damals schon einen verpflichtenden Bebauungsplan gegeben. Kreuz und quer standen die Gebäude auf unterschiedlich geschnittenen kleineren und größeren Grundstücken. In den letzten Jahrzehnten war munter aufgestockt, ausgebaut oder sonst wie verändert worden, sodass die Gegend insgesamt ein buntes, unkonventionelles und dennoch bürgerlich geprägtes Bild abgab.
Nach circa zweihundert Metern machte die Straße einen sanften Knick und genau in dieser Kurve befand sich die gesuchte Adresse. Lena stellte ihr Auto ab und ging auf das Haus zu. Ein brauner Jägerzaun umgab das Gebäude und den daran angrenzenden großen Garten. Man sah einige Büsche entlang der Straße und eine kleine, erhöhte Steinterrasse, auf der ein paar Gartenmöbel standen. In der gegenüberliegenden Ecke erhob sich ein imposanter
Komposthaufen, und an der Grenze zum Nachbargrundstück hatte jemand Sträucher gepflanzt. Himbeeren, Stachelbeeren und Johannisbeeren, soweit sie erkennen konnte. Lena stieg die wenigen flachen Eingangsstufen hoch und betrachtete das Klingelschild, auf dem drei Namen standen. Hier schien sie richtig zu sein. Sekunden nach dem ersten Klingeln riss eine junge Frau schwungvoll die Tür auf. Sie mochte Mitte zwanzig sein und schien jemanden erwartet zu haben. Überrascht aber nicht unfreundlich blickte sie die ihr fremde Besucherin an.
„Lena Borowski. Ich suche die WG, in der Sabrina Marx gewohnt hat. Ist das hier?“
Die junge Frau nickte. Dunkelrotes Haar fiel ihr in unzähligen kleinen Locken bis zur Taille, sie war barfuß und trug eine weiche, etwas ausgeleierte dunkelblaue Sporthose und zwei übereinander gezogene Shirts in Pink und Mintgrün.
„Sabrina ist vor ein paar Monaten ausgezogen.“
„Ihr Bruder sucht sie und hat mich gebeten, mal bei euch nachzufragen, ob ihr etwas von ihr gehört habt.“
Die Rothaarige wirkte erstaunt, winkte Lena dennoch ins Haus. „Gehört nicht, aber ich selbst hatte nicht so viel zu tun mit ihr. Ich heiße übrigens Nadja.“
Sie führte Lena in eine große, gemütliche Küche. Auf einer Arbeitsplatte stand eine gurgelnde Kaffeemaschine und verbreitete aromatischen Duft. Nadja nahm ein bereits halb geleertes Joghurtglas von dem großen, runden Holztisch und löffelte stehend weiter, während sie Lena einen Kaffee anbot.
„Du kannst gerne warten bis Mechthild kommt. Sie kennt Sabrina wesentlich besser als ich. Man könnte fast sagen, die beiden waren befreundet.“
Nachdem sie die letzten Reste aus dem Glas gekratzt hatte, stellte
Nadja es in einem der beiden Spülbecken ab, holte zwei Tassen aus einer altmodischen Kredenz, füllte sie mit Kaffee und schob eine davon Lena zu. Mit der anderen verzog sie sich an das große Fenster neben der Glastür, die zur Terrasse hinausführte, und setzte sich auf die breite gemauerte Fensterbank, die Füße auf einen niedrigen Hocker gestellt.
„Wie lange war Sabrina denn bei euch?“
Lena goss etwas von der Milch, die in einer offenen Tüte auf dem Tisch stand, in ihren Kaffee.
„Weiß nicht so genau. Ich bin nach ihr gekommen, aber ich schätze, sie hat mindestens drei Jahre hier gewohnt.“
„Ich kenne sie gar nicht persönlich, habe keine Ahnung, was sie für eine Person ist“, meinte Lena entschuldigend.
„Oh!“ Nadja zog die Augenbrauen nach oben und schlürfte etwas Kaffee aus der Tasse. Dann stülpte sie die Lippen nach innen und rutschte ein wenig tiefer auf die Fensterbank.
„Sie war ganz okay. Also, am Anfang. Hat nur genervt mit ihrem ewigen Sauberkeitsfimmel!“ Nadja verdrehte die Augen als könne sie das nicht nachvollziehen. Lena dachte an Sabrinas fast schon sterile Wohnung und fragte sich, wie sie sich wohl hier, in diesem eher gemütlichen Chaos gefühlt haben mochte.
„Das wurde im Laufe der Zeit zunehmend schlimmer. Erst ging es nur um ihr eigenes Zimmer, irgendwann aber auch ums Bad und die Küche. War echt stressig für uns.“
„Und das gab den Ausschlag für ihren Auszug?“
„Nee. Da war noch etwas anderes.“
Nadja beugte sich jetzt nach vorne, legte die Arme auf ihren Oberschenkeln ab und kräuselte nachdenklich die Lippen.
„Sie hat irgendwann angefangen, sich zu verändern. Hockte erst stundenlang nur in ihrem Zimmer, fing nach einer Zeit an, abends wegzugehen. Immer öfter, immer länger. Und eines Tages – peng! – kündigt sie ihre Stelle und erzählt gleichzeitig, sie ziehe um. In der Zeit haben wir schon kaum noch miteinander geredet. Sie war freundlich, wie gewohnt, aber irgendwie schien sie mit ihren Gedanken häufig woanders. Wie auf einem anderen Stern.“
Lena trank von dem heißen Kaffee und versuchte, sich eine Vorstellung von Sabrina zu machen.
„Danach hat sie sich nie wieder gemeldet?“
Nadja verneinte. „Ich habe sie nie mehr gesehen nach ihrem Auszug. Es kam hin und wieder noch Post für sie an, aber nichts Persönliches, nur Reklame und so. Die Sachen müssen hier irgendwo liegen.“
Sie machte eine vage Kopfbewegung zur Diele hin. Im selben Moment hörte man, wie sich ein Schlüssel im Schloss der Haustür drehte, und kurz darauf betrat eine weitere Frau die Küche.
War Nadja mit ihrem roten Haar, den blitzenden blauen Augen und ihren bunten Klamotten ein echter Hingucker, so verkörperte diese Frau das genaue Gegenteil. Haare, Haut und Augen schienen von undefinierbarer blasser Farbe, ebenso die Kleidung. Sie war klein, vermutlich kaum ein Meter fünfundfünfzig groß und so zierlich, dass sie hinter der mit Einkäufen gefüllten Papiertüte, die sie mit beiden Händen vor sich hertrug, fast verschwand. Lena war einen Moment lang versucht, aufzuspringen und ihr ihre Last abzunehmen.
„Ah, da kommt Mechthild“, bestätigte Nadja Lenas unausgesprochene Vermutung. Sie glitt von der Fensterbank und öffnete den Kühlschrank. Dabei stellte sie die beiden Frauen kurz einander vor. Mechthilds Augen blickten freundlich und distanziert gleichzeitig. Während sie und Nadja die Einkäufe verstauten, erzählte Mechthild Lena noch einmal in anderen Worten, was diese bereits von ihrer Mitbewohnerin erfahren hatte. Danach legte die kleine Frau den Kassenzettel in eine Schale auf der Kredenz, zog ihre graue
Jacke aus, hängte sie ordentlich über einen Stuhl und bediente sich danach selbst am Kaffee. Es klingelte, und Nadja huschte eilig hinaus, man hörte Stimmen aus der Diele.
„Tja, mehr kann ich dir auch nicht sagen!“ Mechthild nippte nachdenklich an ihrer Tasse, ihre Augen ruhten weiterhin freundlich aber auch forschend auf Lena.
„Jemand von ihrer Familie hat dich angerufen, sagtest du?“
„Wir kommen aus demselben kleinen Ort. Sabrina kannte ich allerdings nur als kleines Mädchen, ich bin schon mit achtzehn von zu Hause weggezogen, da dürfte sie vermutlich gerade zehn gewesen sein. Ihre Schwägerin und ich sind lange Zeit in dieselbe Klasse gegangen, und sie hat sich an mich gewandt, weil ich in der Nähe von Frankfurt wohne.“
Mechthilds Blick war nachdenklich geworden, so, als suche sie in ihrer Erinnerung nach etwas, was Lena helfen könnte. Aus dem oberen Stockwerk erklang Musik.
„Du warst mit ihr doch ein bisschen enger befreundet als Nadja. Kennst du andere Bekannte, bei denen ich mal nachfragen könnte?“
„Sabrina hatte keine Freunde. Zumindest keine, die ich kenne. Daher war ich auch ein bisschen enttäuscht, dass sie sich überhaupt nicht mehr gemeldet hat nach ihrem Auszug. Aber“, sie zögerte und fixierte Lena sehr direkt und mit ernstem Blick, bevor sie fortfuhr, „es gibt schon etwas, wo du vielleicht ansetzen könntest.“
„Okay. Und was wäre das?“
„Dazu muss ich zuerst etwas erklären. Sabrina hat irgendwann angefangen, sich zu verändern. Sie wurde stiller und zurückhaltender. Das war wenige Wochen, nachdem sie sich einen Computer zugelegt hatte. Zuerst dachte ich, sie sei auf der Suche nach einem Partner, denn kurz danach fing sie an, sich mit jemandem zu treffen. Oder vielleicht auch mit unterschiedlichen
Leuten, das weiß ich nicht, weil sie nie darüber sprach. Als sie anfing, über Nacht wegzubleiben, und ich sie danach fragte, lachte sie und meinte, eine Partnerschaft sei nicht gerade das, wonach sie sich sehne. Tatsächlich hat sie auch nie jemanden mit hierhergebracht.“
Bei diesen Worten stellte Mechthild ihre Tasse ab und erhob sich.
„Aber unter den Sachen, die von ihr herumlagen, war etwas, das dir womöglich weiterhilft.“ Sie ging hinaus, und als sie zurückkam, legte sie ein Streichholzbriefchen vor Lena auf den Tisch. Die nahm es in die Hand, etwas verwirrt, denn die Sache schien doch zeitintensiver zu werden, als sie vermutet hatte.
„Kinky-Club“ stand in schwarzen Lettern auf dunkelrotem Grund. Daneben die stilisierte Zeichnung einer Frau in schenkelhohen Stiefeln und ellbogenlangen Handschuhen. Am Zeigefinger ihrer ausgestreckten Linken baumelten ein paar Handschellen. Die Adresse des Etablissements lag mitten im Frankfurter Bahnhofsviertel.
Lena pfiff unwillkürlich leise durch die Zähne.
„Du meinst, dort ist Sabrina ein- und ausgegangen?“
Mechthild wusste es nicht. Ihr unscheinbares Gesicht war grau vor Sorge geworden. Lena begriff schlagartig, dass die junge Frau die ganze Zeit versucht hatte, ihre Befürchtungen und die Enttäuschung über den sang- und klanglosen Abgang von Sabrina zu verdrängen. Jetzt war sie hier aufgetaucht und hatte diese Wunde wieder aufgerissen. Unwillkürlich legte sie der anderen eine Hand auf den Arm.
„Das will ja nichts heißen. Auch brave Bürger machen hin und wieder einen Ausflug ins Rotlichtmilieu, sonst gäbe es das ja gar nicht mehr.“ Tatsächlich ging auch Lena mit Tamae hin und wieder zum Tanzen ins „Orange Peel“ in der Kaiserstraße, in dem gelegentlich eine reine Frauendisco stattfand. Mechthild schien sich ihre eigenen Gedanken dazu gemacht zu haben, sagte jedoch nichts dazu.
Lena steckte das Streichholzbriefchen ein und fand, dass es an der Zeit war zu gehen, denn sie glaubte, die Hilfsbereitschaft der beiden Frauen schon genug strapaziert zu haben. Sie bedankte sich bei Mechthild und schrieb ihr für alle Fälle ihre Telefonnummer auf.
Bevor sie an der Tür waren, fiel ihr noch etwas ein.
„Wie sah sie überhaupt aus?“
„Ach so, du kennst sie ja gar nicht.“
Mechthild verschwand ein weiteres Mal in einem der Zimmer und kam mit einer Fotografie zurück. Darauf saß sie zusammen mit einer jungen Frau auf der Terrasse vor dem Haus. Die beiden umfassten sich an den Schultern und lächelten in die Kamera. Das Bild musste im Sommer aufgenommen worden sein. Sie erkannte bei Sabrina die gleichen bernsteinfarbenen Augen, die auch Jürgen hatte. Ihr weiches Gesicht war leicht gebräunt und stand in reizvollem Kontrast zu ihrem blonden Haar, das ihr glatt und glänzend über die Schultern fiel. Man sah nicht viel von ihrer Figur, aber sie wirkte wie eine Frau, die ständig auf ihre Ernährung achten musste.
„Ist das nicht die Frisur, die Jennifer Aniston trägt?“
„Kann sein, mit so etwas kenne ich mich nicht aus.“
Unwillkürlich musste Lena schmunzeln. In der Tat waren Mechthilds glatte Haare ganz gerade geschnitten, in einer Art unkomplizierter – und leider auch unattraktiver – Prinz-Eisenherz-Frisur. Es würde sie nicht wundern, wenn dieser Schnitt alle paar Wochen hier in der WG-Küche von einer ihrer Mitbewohnerinnen aufgefrischt würde.
„Kann ich das Foto eine Weile behalten?“
Mechthild nickte zögerlich. „Es ist das einzige Bild, das ich von ihr habe.“
„Ich bringe es zurück, versprochen.“
Die beiden ungleichen Frauen nickten sich zu, bevor Lena erneut nach ihrer Tasche griff.
„Willst du ihre Post auch mitnehmen? Scheint nichts Wichtiges zu sein, aber wenn du sie triffst …“ Damit drückte Mechthild ihr eine Handvoll Umschläge in die Hand, der Rest des Satzes blieb in der Luft hängen.
Erst später, im Auto, als sie an einer roten Ampel das Bild hervorholte, konnte Lena benennen, was ihr daran aufgefallen war. Es war Mechthild. Die kleine, unscheinbare Frau strahlte auf dem Foto. Sie sah aus, wie Menschen aussehen, die gerade unglaublich glücklich sind. Nachdenklich legte Lena das Foto zurück.