Kapitel 11
J ürgen hatte offenbar gründlich gelüftet, die Wohnung wirkte nicht mehr so stickig wie beim ersten Mal, als sie hier gewesen war. Tamae, die auf der gesamten Fahrt kaum drei Worte gesagt hatte, schaute sich misstrauisch um.
„Der Computer ist dort drüben“, wies ihr Lena den Weg ins Schlafzimmer. Während die Japanerin den Rechner hochfuhr, schlenderte Lena durch die Wohnung. Kaum etwas hatte sich seit ihrem ersten Besuch verändert. Ein kleiner Stapel Post lag im Flur auf einem Schränkchen, vermutlich hatte Jürgen ihn dort abgelegt. Lena sah die Umschläge durch, ging anschließend ins Schlafzimmer, wo Tamae grübelnd vor dem Computer saß. Zwei gleich aussehende Kleiderschränke standen dem Bett gegenüber. Lena öffnete den Ersten. So akkurat und ordentlich wie alles in der Wohnung hingen und lagen auch hier Kleidungsstücke, die sie zum größten Teil ohne Weiteres als Businessklamotten identifizieren konnte: graue, beige und dunkelblaue Hosenanzüge und Kostüme mit dazu passenden, teils hellen, teils intensiv farbigen T-Shirts und Blusen. Wäsche und Strümpfe lagen in Schubladen. Alles in allem nicht viel, aber jedes Stück picobello. Lena schloss die Schranktür und öffnete den Schrank daneben.
„Wow“, entfuhr es ihr leise. Alles in diesem Schrank war schwarz. Sie fuhr mit der Hand hinein, zog ein paar Sachen heraus. Kurze, knappe Röcke, einige aus Leder, ebensolche Hosen, schmal und körpernah geschnitten. Sämtliche Pullover und T-Shirts waren von gehobener Qualität, ebenso die Wäsche. Jedes einzelne Stück sah sündhaft teuer aus! Ob Jürgen das nicht aufgefallen war? Vermutlich nicht, Männer hatten dafür doch nicht so den Blick. Auf jeden Fall schien Sabrina Marx in ihrem Privatleben einen völlig anderen Kleidungsstil bevorzugt zu haben als im Beruf.
Lenas Blick fiel auf den großen schwarzen Koffer, der auf dem Schrank mit den Privatklamotten lag. Während Tamae konzentriert das Passwort für den Computer suchte, griff sich Lena einen neben dem Schrank stehenden Tritthocker und zog den Koffer herunter. Ein paar Staubflocken rieselten dabei mit hinab. Also, den hatte Jürgen sich offensichtlich nicht angesehen. Schnaufend stellte sie das Ungetüm auf dem Boden ab. Merkwürdig, einen voll bepackten Koffer auf dem Kleiderschrank zu lagern! Als sie die Schlösser aufspringen ließ und einen Blick hineinwarf, schnappte Lena nach Luft.
„Das ist ja der Hammer!“, murmelte sie, als Tamae gerade mit einem lauten „Ja!“ den Zugang zu Sabrinas Computer geknackt hatte.
***
Fassungslos schaute Lena auf den Inhalt des großen Koffers. Einige der Dinge konnte sie gar nicht auf den ersten Blick identifizieren. Erst bei näherer Betrachtung erkannte sie neben Dildos, einigen Latexkleidern und Augenbinden auch Kopfmasken, Harnesse und extreme High Heels – Schuhe, in denen kein normaler Mensch laufen konnte! Der ganze Koffer war voller SM-Utensilien! Das wies nicht auf einen einmaligen Ausflug hin und auch nicht auf ein rein theoretisches Interesse. Sabrina Marx, das wurde Lena jetzt endgültig klar, war in dieser Szene zu Hause.
Im selben Moment, in dem sie den Deckel wieder zurückfallen ließ, rief Tamae sie zu sich.
„Schau dir das an! Das war in ihren Favoriten gespeichert, eine Seite, auf der sie täglich war. Manchmal mehrfach.“
Ihr schmaler Finger wies auf den Bildschirm, auf dem jetzt gerade der Zugang zu einer Internetpräsenz zu sehen war.
„Tauchen Sie ein in die Welt des lustvollen Schmerzes, der sinnlichen Qual. Egal ob dominant/devot oder sadistisch/masochistisch. Hier finden Sie Ihr Gegenstück, den Menschen, der genau Ihre Wünsche und Sehnsüchte erfüllt.“
Darauf folgte ein Hinweis, dass die folgenden Seiten „explizit erotisches Material“ enthielten und nur von Menschen über 18 besucht werden durften.
„Das ist ja wohl ein Witz“, meinte Lena. „Wer kontrolliert das denn?“
„Wirst du gleich sehen.“ Die schlechte Laune war von Tamae abgefallen wie ein welkes Blatt im Herbst von einem Baum. Sie schien auf einmal voll in ihrem Element und öffnete gleich darauf eine Seite, die ein großes Schlüsselloch zeigte. Darin wurden Zugangsname und ein Passwort abgefragt.
„Das bekommt nur, wer sich mit einer Kopie des Personalausweises dort angemeldet hat. So kontrollieren die das“, informierte sie Lena, die an Sabrinas geheimnisvolle Post dachte. Es schien, als ob die junge Frau sich noch auf einer weiteren Seite dieser Art hatte anmelden wollen. Tamae setzte ihre Arbeit indessen konzentriert fort. Schon klackerten ihre Finger wieder auf der Tastatur. Gleich darauf betraten die beiden Frauen einen virtuellen Raum. Wenn es noch den geringsten Zweifel gegeben hätte, welche Vorlieben die verschwundene junge Frau hatte, spätestens in diesem Moment war er zerstreut. Denn Lena und Tamae betraten die geheime Welt der Sabrina Marx.
„Ihr Name in dieser Community ist Katinka.“
Tamae klickte ein paar Links an. Es gab eine Seite für Kontaktanzeigen, einen Chat, allgemeine Informationen, Sicherheitshinweise, Kurzgeschichten, eine Bildergalerie und noch einiges mehr.
„Himmel, da brauchen wir ja Tage, um uns da durchzufinden“, stöhnte Lena.
„Wir fangen am besten damit an, ihre E-Mails in dieser Runde zu checken“, murmelte Tamae. Schnell stellte sich heraus, dass dieser Bereich sehr viel stärker geschützt war als die übrigen.
„Da komm ich nicht rein“, musste sie nach einiger Zeit gestehen.
„Aber ich habe etwas anderes entdeckt. Sie hatte einige Kontaktanzeigen in diesem Forum geschaltet. Die meisten so im Abstand von sechs bis acht Wochen. Die Letzte liegt allerdings schon über sechs Monate zurück. Danach kam nichts mehr.“
„Vielleicht hat sie es aufgegeben?“
„Oder die Person gefunden, die sie suchte.“
„Kannst du die Anzeige mal aufrufen?“
„Bin schon dabei.“
Kurz darauf erschien der Text auf dem Bildschirm.
„Alles klar“, murmelte Tamae, nachdem sie ihn gelesen hatten.
***
Sie saß, in einen weichen weißen Frotteebademantel eingehüllt, auf der Couch. Der Mann war in die Küche gegangen, sie hörte Geschirr klappern. Nach dem nächtlichen Ausflug im Regen hatte das heiße Bad gutgetan. Er hatte sie genau beobachtet, während sie sich wusch, abtrocknete und danach mit dem duftenden Öl einrieb, das er ihr gereicht hatte. Stumm war er mit seinen Blicken an ihrem Körper auf- und abgewandert. Wie sie sehr wohl wusste, ohne die üblichen Begehrlichkeiten. Seine Wünsche waren anders als die der meisten Männer, die sie vor ihm gekannt hatte. Die ganze Zeit über wurde kein Wort zwischen ihnen gewechselt, und sie fragte sich, was er in der Küche machte. Dann rief er sie.
„Komm, Essen ist fertig!“
Langsam stand sie auf und ging zu ihm hinüber. Das Licht in der Küche war gedämmt. Er hatte den Tisch dort liebevoll gedeckt. Eine rote Rose stand in einer schmalen, hohen Vase und zwei Kerzen brannten links und rechts davon. Sie konnte jedoch nur ein Gedeck entdecken. In einem großen, tiefen Teller lagen Spaghetti angerichtet, darauf eine dampfende und appetitlich nach Kräutern riechende Tomatensoße. In einem Kristallglas funkelte roter Wein. Der Mann setzte sich an den Tisch und streute scheinbar gedankenverloren aus einer Porzellanschale etwas geriebenen Parmesan über sein Essen. Sie blieb abwartend stehen, sie wusste nicht, was sie tun sollte.
„Dein Platz ist da unten“, teilte er ihr mit einer knappen Kopfbewegung mit, ohne sie auch nur anzusehen. Ihr Blick folgte der Bewegung und entdeckte einen Hundenapf, der neben der Küchentür auf dem Boden stand.
„Und zieh den Bademantel aus!“
Sie ließ sich nackt auf alle viere nieder. Das heiße, duftende Essen brachte ihren Magen dazu zu reagieren. Sie hatte seit dem Frühstück nichts zu sich genommen und spürte das in diesem Moment sehr deutlich. Als sie ihr Gesicht dem Napf näherte, bemerkte sie eine Besonderheit. Die Spaghetti gehörten zu der extralangen Sorte. Sie würde es kaum schaffen, sie ohne Besteck problemlos zu essen.
„Achte darauf, keine Flecken zu machen“, teilte er ihr in diesem Moment mit emotionsloser Stimme mit.
„Sonst werde ich dich bestrafen. Und dieses Mal richtig!“
Die Worte hallten noch durch den Raum, als sie spürte, wie sich die feinen Härchen auf ihren Armen aufrichteten. Dann beugte sie sich hinunter und versuchte, nur mit den Lippen und der Zunge die Nudeln aufzunehmen.
***
Weder Lena noch Tamae kannten sich in der gängigen Terminologie der SM-Szene gut genug aus, um den Text in seiner vollen Bedeutung verstehen zu können. Dennoch jagte er zumindest Lena einen kalten Schauer über den Rücken.
„Was bedeutet das denn – extrem devot … sucht absolut dominanten Mann, der sie unterwirft und über ihre Grenzen führt … 24/7 angestrebt?“
Tamae verzog angeekelt den Mund. „Das hier ist … krank!“, stieß sie hervor.
Lena legte ihrer Freundin beruhigend die Hand auf den Arm.
„Wir wissen jetzt zumindest, dass Sabrina auf so was steht. So wie es aussieht, nicht nur gelegentlich oder um irgendeine Neugier zu befriedigen, sondern wahrhaftig. Fragt sich nur, ob sie diesen absolut dominanten Mann gefunden hat.“
„Vermutlich schon. Und er hält sie in irgendeinem Kellerverlies gefangen.“
Lena lachte unwillkürlich auf. „Wie kommst du denn darauf?“
„Lies das mal.“ Tamaes Finger zeigte auf eine der Kontaktanzeigen des Forums.
„Ich unterwerfe dich meinen Fantasien und meiner absoluten Macht“, stand da.
„So ein Quatsch“, kommentierte Tamae schmallippig.
Lena las weiter und richtete sich Augenblicke später empört auf.
„Der Kerl will, dass sich eine wildfremde Frau ihm mit verbundenen Augen auf einem Parkplatz ausliefert? Um sie dann in seinen Kerker zu bringen? Mannomann, das ist starker Tobak!“
„Nun rate mal, was diese Sabrina sich für Annoncen gebookmarkt hat? Diese ist dabei. Und noch ein paar andere, die ähnlich dämlich klingen. Was sind das für Männer?“
Jetzt erst fiel Lena auf, wie wütend Tamae war.
„Sag mal, hattest du selbst mal mit jemandem aus dieser Szene zu tun? Du wirkst im Moment irgendwie – sehr aggressiv.“
Tamaes dunkle und unergründliche Augen schauten sie an und Lena verspürte den Impuls, ihre Geliebte an den Schultern zu packen und zu rütteln damit diese ihr endlich sagte, was sie an der ganzen Sache so aufregte. Sie kämpfte ihn nieder.
„Sag mir, was du denkst“, forderte sie die Freundin stattdessen mit ruhiger Stimme auf.
Einen Moment lang sah es so aus, als wollte Tamae nicht antworten, dann tat sie es doch. „Ich denke, dass sich hier in diesem Forum ein paar Arschlöcher herumtreiben, die den Frauen, die auf so etwas stehen, ganz schön gefährlich werden können.“
Damit stieß sie den Stuhl zurück, stand auf und schaute eine Weile schweigend aus dem Fenster. Lena machte sich genervt daran, den Drucker einzuschalten. Sie würde die Kontaktanzeige ausdrucken und Sonja zeigen. Wer sonst könnte ihr diese kryptischen Begriffe erklären?
„Was hat sie sonst noch für Seiten gespeichert?“, wollte sie dann von Tamae wissen.
Tamae kam zurück und ließ sich wieder auf dem Stuhl nieder.
„Hier, alles ähnliche Seiten. Sieht so aus, als hätte diese Frau nichts anderes mehr im Kopf gehabt.“
„Hast du dir ihre persönlichen Dateien angesehen? Ist da etwas dabei?“
„Nein.“ Tamaes Antwort kam überraschend schnell.
Dann schob sie Lena das rote Notizbuch zu, das neben dem Computer lag.
„Hier hat sie einige Sachen notiert. Namen, Adressen, Telefonnummern. Unverfängliche Sachen, Friseur, Zahnarzt und so. Sieht alles ganz normal aus. Ganz hinten habe ich noch mehr verschlüsselte Passwörter und Zugangscodes gefunden. Vielleicht war sie noch bei anderen Foren angemeldet. Um die alle zu knacken, bräuchte ich ein bisschen mehr Zeit.“
Lena warf einen Blick hinein, konnte aber auf den vorderen Seiten nichts Auffälliges feststellen. In dem roten Buch befand sich keine einzige der Internetadressen, die die junge Frau ständig angewählt hatte. Selbst wenn jemand die ominöse letzte Seite aufschlug, einen Hinweis auf Sabrina Marx’ Passion konnte man dort nicht finden. Und selbst wenn der gesuchte Mann, so sie ihn denn gefunden hatte, unter denen war, deren Kontaktdaten in Sabrinas Buch standen, wie sollte sie ihn herausfinden? Sie konnte schlecht jemanden anrufen und fragen, ob er wohl ein „absolut dominanter Mann“ sei, und eine SM-Beziehung mit Sabrina Marx hatte. Einer Eingebung folgend ging Lena ins Wohnzimmer zurück. Dort standen in einem der Schränke hinter einer Glasscheibe Bücher, von denen sie einige herausnahm. Ein paar Krimibestseller und Liebesromane, romantischer Kitsch. Dann fiel ihr Blick auf die Reihe dahinter.
„Die Geschichte der O.“ fand sich dort. Weitere Bücher hießen „Jezebels Traum“, „Schmerzen der Lust“ und Ähnliches. Keine wirkliche Überraschung mehr. Aus einer Intuition heraus griff Lena nach einem Buch, das stärker zerlesen aussah, als die anderen.
„Es spricht der Meister“, lautete der Titel, und als sie es aufschlug, überschwemmte ein kleiner Adrenalinflash ihren Körper. Das Buch trug eine handschriftliche Widmung.
„Für meine Sklavin und ihre gehorsame Demut. Ich werde deine Grenzen neu definieren und dich zu meinem Eigentum machen. Dein Meister.“
***
Er saß mit übereinandergeschlagenen Beinen auf einem der Küchenstühle und rauchte langsam eine Zigarette. Dabei ließ er die Augen nicht von ihr, die es inzwischen geschafft hatte, den Hundenapf leer zu essen. Mund, Nase und Wangen waren sicherlich völlig verschmiert. Rote Soßenspritzer verteilten sich auf ihren nackten Brüsten und dem weiß gekachelten Boden.
Ungerührt rauchte er zu Ende und drückte den Stummel sorgfältig aus.
„Schau, was du am Boden angerichtet hast.“ Seine Stimme war leise, ließ die Worte fast beiläufig klingen. Beschämt schaute sie sich um. Er stand auf, bewegte sich langsam um sie herum und blieb hinter ihr stehen. Sie hörte an seinem tiefen Atem, wie gut ihm die Situation gefiel. Von hinten schob er einen Fuß zwischen ihre Knie und drückte ihren rechten Schenkel zur Seite.
„Weiter auseinander“, murmelte er dabei, und als sie die Schenkel so weit gespreizt hatte, wie es ihr nur eben möglich war, drückte sein harter Lederschuh noch ein wenig nach, bis sie leise aufstöhnte. Mit einem schnellen Griff fasste er ihr in genau diesem Moment zwischen die Beine und zog seine Hand zwischen ihren Schamlippen durch. Sie war so nass, wie er es wohl erwartet hatte, denn er schnalzte anerkennend mit der Zunge, während sie es nicht verhindern konnte, erneut zu stöhnen. Ihr Unterleib brannte wie Feuer. Dieses Spiel mit seinen klaren Regeln erlaubte es ihr, jeden eigenen Gedanken auszuschalten und sich ganz auf ihre Fantasien und das zu konzentrieren, was er von ihr verlangte und was er mit ihr machte. Sehr schnell war sie auch dieses Mal wieder in diesen schmerzvoll peinigenden Zustand geraten, in dem sie sich fallen lassen konnte und der sie mit großer Zuverlässigkeit mehr erregte, als das Zusammensein mit irgendeinem anderen Menschen.
„Leck den Boden sauber“, befahl er ihr. Seine schwarzen, glänzend polierten Schuhe schritten an ihr vorbei. Während sie noch immer auf den Boden unter sich sah und dabei auch ihre dunklen Brustwarzen betrachtete, die sich bei seiner Berührung schon fast schmerzhaft hart zusammengezogen hatte, zündete er sich erneut eine Zigarette an. Der aromatische Duft des Rauches zog an ihrer Nase vorbei, und obwohl sie selbst nie geraucht hatte, fand sie diesen Duft äußerst erregend. Vielleicht, weil er für sie direkt mit dem Mann verbunden war. Langsam senkte sie ihr Gesicht tiefer auf den Boden hinunter und begann, mit der Zunge die Soßenkleckse von den Fliesen aufzulecken.