Kapitel 15
D er Fahrer wartete in der abendlichen Dunkelheit, bis seine Chefin ihm vom Eingang des kleinen Hauses aus mit einer Handbewegung bedeutete, er könne nun weiterfahren. Zum Gruß tippte er an seine Mütze und lenkte den sanft schnurrenden Dienstwagen aus der Parklücke heraus. Es war wieder ziemlich spät geworden bei den Außendienstterminen der Dezernentin. Aber auch dieses Mal hatte kein Licht gebrannt in dem gemütlich aussehenden Einfamilienhaus am Rotkehlchenweg, einer ruhigen und guten Wohngegend in Langen. Wie lange noch würde seine Chefin allen etwas vormachen? Hier jedenfalls warteten weder Mann noch Kind auf die Dezernentin. Aber das Haus war hübsch. Naturstein, grüne Fensterläden und ein üppiger, eingewachsener Garten. Hätte er der Maibaum gar nicht zugetraut. Sie machte immer einen sehr unsentimentalen, kühlen Eindruck. Auch an Abenden wie diesem, wenn sie mal wieder von einer Sitzung zur nächsten gehechelt war und zum Abschluss noch eine Rede bei der IHK zum Thema Jugendarbeitslosigkeit hielt, verlor sie ihm und anderen Untergebenen gegenüber nie die Fassung, zeigte kein bisschen Schwäche. Wenn man einmal von der ihr eigenen Ungeduld absah, die sie recht häufig an den Tag legte. Auf jeden Fall passte das Haus nicht dazu. Vielleicht verriet es ja eine geheime Sehnsucht nach Romantik und Geborgenheit, die man der Maibaum sonst nicht anmerken konnte? Er lächelte leise vor sich hin. Politiker, das wusste er aus langjähriger Erfahrung, steckten manchmal doch noch voller Überraschungen.
Er drehte das Radio auf seinen bevorzugten Sender. Schlagermusik erklang, Helene Fischer sang von Sehnsucht und Liebe, den wirklich wichtigen Dingen im Leben, wie er fand. Der Fahrer lächelte und fuhr gemächlich davon.
***
Es war wieder viel zu kalt im Haus. Marianne Maibaum fluchte lautlos vor sich hin. Sie würde nie kapieren, wie das mit den Einstellungen der Heizung hier funktionierte. Es war Hartmuts Idee gewesen, dieses kleine, fast etwas bescheiden wirkende Haus zu kaufen. Sie hätte nicht auf ihn hören sollen. Aber er war ihr immerhin klaglos hierher gefolgt und hatte mit dem Umzug auch ihren politischen Ehrgeiz unterstützt. Nicht zum ersten Mal, und sie hatte geglaubt, ihm etwas schuldig zu sein.
„Pah!“, stieß sie nach einem Blick in das leere Schlafzimmer hervor. Wenn nicht nächstes Jahr die Landratswahl anstünde! Eine Scheidung so kurz vor dem Ziel, auf das sie viele Jahre lang zugesteuert war, käme sicher nicht gut an. Man durfte die Bevölkerung nicht unterschätzen. Selbst die Nähe zu einer Großstadt wie Frankfurt änderte nichts daran, dass in vielen ländlich geprägten Gemeinden des Landkreises die Menschen noch konservativ waren. Überhaupt, eine Frau saß hier noch nie auf dem Landratssessel. Da waren selbst die Bayern weiter!
Die Dezernentin schaltete im Badezimmer das Licht an und schaute prüfend in den Spiegel. Im November wurde sie fünfzig, ein Alter, das man ihr nicht ansah. Kein einziges graues Haar zeigte sich in ihrem schwedenblonden Bob, ein paar Fältchen um die Augen und den Mund verlangten große Nähe, um bemerkt zu werden. Etwas, das sie schon immer nur ganz wenigen Menschen zugestand. Auf Wahlplakaten machte sie sich jedenfalls sehr gut. Das strahlende Lächeln war geübt. Damals, als sie ihre ersten politischen Schritte in die Öffentlichkeit tat, war es ein Personal Coach gewesen, der ihr die wesentlichen Dinge beigebracht hatte. Wie man für Pressefotos lächelte, ohne zu viele Falten zu schlagen, welche Mimik und Gestik überzeugend wirkte, Souveränität und gleichzeitig Herzlichkeit ausstrahlte. Ihr Bild in der Öffentlichkeit, das war Marianne Maibaum wohl bewusst, entsprach einer ausgeklügelten PR-Strategie. Die Kratzer im Lack entstanden im Tagesgeschehen. Hier der Leiter einer Wohltätigkeitsorganisation, der ihr unter vier Augen völlige Ignoranz der Belange seines Vereins vorgeworfen hatte, dort einige Mitarbeiter der Verwaltung, die sie in letzter Zeit häufiger auflaufen ließen. Und dann der Landrat – der dickste Brocken. In der Öffentlichkeit immer freundlich, höflich, zuvorkommend. Dabei hielt er das aufgeklappte Messer stets in der Hand.
„Politik wird nicht im Schönheitssalon gemacht“, hatte er neulich ganz beiläufig in einer Dienstversammlung von sich gegeben. Maibaum, neben einer eher herb aussehenden Bürgermeisterin aus einer kleinen Gemeinde die einzige Frau im Raum, hatte die Spitze wohl verstanden. Ihre Zuträger aus den verschiedenen Ämtern bestätigten die Befürchtungen: Er nahm sie nicht ernst, zweifelte im kleinen Kreis sogar manchmal laut an ihrer Kernkompetenz. Wenigstens konnte sie sich auf die Bergmann verlassen. Ihre Referentin, diese kühl und unnahbar wirkende Person, besaß ein beachtliches Talent, Projekte zu entwickeln und auf den Weg zu bringen. Alice Tumb-Grimmler, diese ewige Nervensäge, maulte nun natürlich wieder.
„Lass mich das Projekt übernehmen. Carola Bergmann hat kein Parteibuch, also wird es auch nicht als Parteisache gewertet, was sie tut“, argumentierte sie ziemlich lahm. Es war unübersehbar, wie gerne sie selbst das Projekt bekommen hätte.
„Das geht nicht, Alice. Sie hat es angeregt und konzipiert. Wie sähe das aus, wenn ich es nun dir geben würde? Aller parteilichen Verbundenheit zum Trotz, das wäre ein Eigentor.“
Sie hatte es sich aber verkniffen, die Tumb-Grimmler darauf hinzuweisen, sie könne doch selbst einmal etwas Tragfähiges auf die Beine stellen, anstatt ihr immer wieder die alten Kamellen anzutragen, die schon vor Jahren ihr Vorgänger abgeschmettert hatte, wie sie neulich gerade noch rechtzeitig von ihrer Referentin erfahren hatte. Gottlob, bevor sie Alices Vorschläge in einer großen Runde diskutierte. Inzwischen wusste sie, wie lächerlich sie sich damit gemacht hätte, nachdem diese lediglich kosmetisch überarbeiteten Vorschläge bereits mehrfach abgelehnt worden waren.
„Wir haben genügend Handlungsbedarf im sozialen Bereich. Solange die Sachen zusätzlich noch kostenneutral sind …“, lautete ihre Devise nun. Sie konnte nur hoffen, dass Alice das auch verstand. Immerhin war sie Vorsitzende einer kleinen aber wichtigen Fraktion in einer dieser winzigen Gemeinden des Landkreises. Dort galt ihr Wort etwas, und die Dezernentin wollte sie deshalb auch nicht vergrätzen. Politik war eben immer noch gegenseitiges Händewaschen.
Kostenorientiertes Denken. Noch etwas, das die Bergmann vielen anderen voraushatte. Sie arbeitete absolut effiziente Konzepte aus. Eine Seltenheit bei Leuten, die in der Verwaltung groß geworden waren. Dabei hatte sie diese Mitarbeiterin zunächst gar nicht in ihrem Dezernat haben wollen, hätte lieber jemand aus ihrem politischen Dunstkreis eingesetzt. Wie gut, dass sie sich das noch einmal anders überlegt hatte. Kein Parteibuch war ja auch besser, als das falsche. Neulich hatte sie sich mal die Akte ihrer Referentin aus der Personalabteilung kommen lassen. Mit einem Hauptschulabschluss so weit zu kommen, das war schon bemerkenswert. Natürlich hatte sie selbst mit Anfang Dreißig schon weiter oben auf der Karriereleiter gestanden. Mit einem entsprechenden Elternhaus, dem Jurastudium im Rücken und der langjährigen Parteizugehörigkeit ihres Vaters keine Seltenheit auf der politischen Bühne. Erstaunlicherweise fand sie in Carola Bergmanns Akte Hinweise auf verschiedene Fortbildungen. Ihre Referentin hatte neben ihrer Verwaltungsarbeit auf dem zweiten Bildungsweg einen höheren Schulabschluss gemacht, danach bei der IHK einen Lehrgang in Betriebswirtschaft belegt und mit Auszeichnung abgeschlossen.
Marianne Maibaum war nach Lektüre dieses Lebenslaufs, der von außergewöhnlichem Ehrgeiz und großer Disziplin sprach, überzeugt davon, mit dieser Mitarbeiterin das große Los gezogen zu haben. Persönliche Gefühle oder Parteibuch hin oder her, solange die Referentin weiterhin so gute Arbeit leistete, würde sie die Frau nach allen Kräften unterstützen und halten. Und wenn es mit der Arbeit einmal nicht mehr so gut klappte – es gab ja genügend Methoden, in Ungnade gefallene Mitarbeiter loszuwerden! Alice würde ihr im Falle eines schlimmen Falles dabei sicher gerne helfen …
Die Dezernentin ging in die Küche, die wie alle Räume in dem Haus teuer und funktionell eingerichtet war. Durch all die Termine dieses Tages war sie noch nicht einmal zum Essen gekommen, und durch den vielen Kaffee, den sie stattdessen getrunken hatte, war ihr Magen übersäuert. Sie trank hastig zwei Gläser Wasser direkt aus dem Hahn und öffnete danach eine Flasche Chardonnay. Im Tiefkühler fand sie fertig portionierte kleine Gerichte, die ihre Haushälterin, die zwei Mal pro Woche kam, ihr immer dort hineinlegte. Sie entschied sich für ein leichtes asiatisches Hühnchencurry mit Reis, das sie in der Mikrowelle erhitzte. Danach wechselte sie ins Wohnzimmer, stellte ihr Weinglas und den Teller mit dem Essen auf einem niedrigen Couchtisch ab und drückte den Knopf der Fernbedienung. Sie achtete nicht auf das reguläre Programm, ging gleich zum Teletext über, um die neuesten Nachrichten zu lesen und dabei ihr Gericht zu verspeisen. Der Teller war schon halb leer, als sie die Meldung sah:
Dietzenbach/Kreis Offenbach: In der Gemarkung Dietzenbach wurde die verstümmelte Leiche einer jungen Frau gefunden. Ein Rentner machte die grausige Entdeckung beim Abendspaziergang mit seinem Hund. Wer die Tote ist und was genau die Todesursachen sind, ist nach Polizeiangaben noch ungeklärt.
„Ach du Scheiße, schon wieder Dietzenbach“, murmelte Marianne Maibaum und stellte hastig ihren Teller ab, um einen großen Schluck Wein zu nehmen. Als wären sie nicht schon genug in den negativen Schlagzeilen mit einem abscheulichen Babymord, dem kürzlich aufgedeckten, groß angelegten Sozialhilfebetrug und der immer aggressiver werdenden Bandenkriminalität. Wer das las, musste ja denken, ihr schöner Landkreis ist ein Hort des Verbrechens.
Der Appetit war ihr vergangen, und sie schmiss den Rest ihres späten Abendessens in den Müll. Zum ersten Mal seit langer Zeit sehnte sie sich wieder nach ihrem Mann. Oder wenigstens nach ihrer Tochter, die es aber vorzog, nach dem Abitur um die Welt zu reisen. Jetzt gerade war Melanie in Neuseeland und verdingte sich dort auf einer Farm. Weiß der Henker, was in dieses Kind gefahren war. Obwohl – so schwierig zu verstehen war das nicht. Sie hatte eben die Gene ihres Vaters. Der hielt es auch nicht lange an einem Ort aus. Anfangs hatte ihr das ja gefallen. Dieser starke, selbstbewusste Mann, der auch noch erfolgreich war.
„Ein Bildhauer? Gibt es diesen Beruf denn wirklich?“, hatte ihre Mutter damals spitzlippig gefragt. Marianne Maibaum erinnerte sich gegen ihren Willen an die ersten beiden Jahre ihrer Beziehung. Sie waren so wild aufeinander gewesen, dass sie kaum aus dem Bett herauskamen. Und wenn, dann setzten sie ihr Liebesspiel eben woanders fort. Noch heute errötete sie bei dem Gedanken, wie oft sie sich hemmungslos im Garten geliebt hatten, nur wenige Meter, hinter hohen Hecken, von grillenden oder lesenden Nachbarn entfernt. Hartmut hatte ihr damals immer mit der Hand den Mund verschlossen, damit ihr wollüstiges Stöhnen nicht zu hören war. Aus dieser sexuellen Spannung, die ständig zwischen ihnen in der Luft lag, profitierten sie damals beide. Er schuf riesige Plastiken, die inzwischen zu schwindelerregenden Preisen gehandelt wurden, sie startete ihre Karriere in der Partei, arbeitete anfangs sogar noch in Teilzeit in einer Anwaltssozietät mit. Erst mit ihrer Schwangerschaft, sie war fast Dreißig und dachte, ein Kind komme jetzt besser gelegen als später, kamen Veränderungen. Vielmehr, Hartmut veränderte sich. Seine nachlassende Lust hatte sie zunächst mit ihrem Schwangerschaftsbauch und seiner Rücksichtnahme auf sie in Verbindung gebracht. Bis sie bemerkte, dass schlicht sein Interesse an ihr nachgelassen hatte, er sich nicht mehr um sie kümmerte. Warum sie sich nicht schon damals getrennt hatten, konnte sie sich auch im Nachhinein nicht erklären. Hartmut hing sehr an seiner kleinen Tochter, das war vielleicht der eine Grund. Der andere mochte ihre beginnende politische Laufbahn gewesen sein. Es war ja auch so einfach, der Öffentlichkeit das coole Paar vorzuspielen. Seht her, wir haben alles! Ein Künstler und eine Politikerin mit einer kleinen Tochter, die der wahre Sonnenschein ist. Alle sind erfolgreich, alle sind glücklich. Und die Kleine sitzt in der Werkstatt und schaut ihrem Vater zu, während die viel beschäftigte Mama unterwegs ist. Sex blieb von dem Moment an eine schnelle Nummer zur Entspannung oder eheliche Pflichterfüllung.
Bitter schmeckte ihr heute dieses darauffolgende, jahrelange Vorspielen falscher Tatsachen, das ihr in Fleisch und Blut übergegangen war. Auch das Wegsehen, als Hartmut immer öfter und immer ungenierter seiner eigenen Wege ging. Als sie vor drei Jahren hierhergezogen waren, sah es wieder eine kurze Weile so aus, als stelle sich das alte Glück wieder ein. Es war ja nicht so, dass sie sich permanent stritten. Auf eine fleischlose Art waren sie sogar glücklich. Er hatte sie unterstützt, ihr zugeredet, dem Ruf ihrer Partei zu folgen und damit den nächsten großen Karriereschritt einzuleiten. Auch das Haus hatte er ausgesucht und eingerichtet. Kein großes, kühles Anwesen wie das vorherige in einer ebenso kühlen Kleinstadt in Norddeutschland. Überschaubarer, natürlicher wollte er es haben und vermittelte großen Spaß dabei, sich um alles zu kümmern, was mit dem Ausbau und dem Umzug zusammenhing.
Manchmal, wenn er es nicht sah, beobachtete sie ihn damals bei seiner Arbeit in einem abgeteilten, lichtdurchfluteten Bereich des Hauses, für das er Wände einreißen und stattdessen riesige Fenster einsetzen ließ. Ein großer, muskulöser Mann, das schwarze Haar sparsam mit Grau durchsetzt und noch so voll wie vor zwanzig Jahren. Die dunkelblauen Augen in seinem glatt rasierten Gesicht blickten stets kritisch auf die eigene Arbeit, erst wenn er fertig war, das Objekt genau so aussah, wie er es sich vorgestellt hatte, ging ein erleichtertes Lächeln über sein Gesicht. Ihr Herz zog sich bei diesem Anblick immer schmerzhaft zusammen. Was war nur passiert? Doch inzwischen war es egal, sie brauchte der Frage nicht mehr nachzugehen, denn Hartmut hatte sie wieder einmal verlassen. Als sie nach seinem überraschenden Abgang seine persönlichen Dinge durchgesehen hatte, fiel ihr auch der Schriftwechsel mit einem spanischen Anwalt in die Finger. Hartmut hatte vor ihrer gemeinsamen Zeit lange in Südamerika gelebt, er sprach fließend Spanisch. Und sie verstand zumindest so viel, um zu begreifen, dass ihr Mann sich in Málaga ein Appartement gekauft hatte. Wutentbrannt wollte sie sofort hinfliegen, um ihn zur Rede zu stellen. Doch nach dem ersten Zorn legte sich eine Art Lähmung über ihre Gefühle. Seither funktionierte sie wie bisher. Sie ging morgens früh aus dem Haus und kam abends spät zurück. Allen, die danach fragten, erklärte sie, ihre Tochter und ihr Mann hielten sich im Ausland auf. Alle nickten verstehend, und was sie wirklich dachten, war Marianne Maibaum auch egal.
Langsam ging sie ins Schlafzimmer, betrachtete ihr großes, einsames Bett. Dann ließ sie sich bäuchlings darauf fallen und fing an, hemmungslos zu weinen.