Kapitel 19
A
ls Lena das zweite Mal in den „Kinky-Club“ kam, war es später Abend. Der Club war wesentlich voller als bei ihrem ersten Besuch. Die Bedienung hinter der Theke schien sich trotz des heutigen Andrangs an sie zu erinnern.
„Ihre Freundin ist in den letzten Tagen nicht hier gewesen“, sagte sie, als sie Lena den bestellten Wein brachte.
„Schade“, meinte die und nippte an ihrem Glas. Die Barfrau stellte noch eine kleine Schale mit Nüssen daneben. „Ist Gerd Rohloff da?“
Die Frau zog erstaunt die Augenbrauen hoch. „Kennen Sie den Chef etwa?“
„Er ist mit einer Freundin von mir gut bekannt.“
Die Schwarzhaarige blickte skeptisch.
Erst als Lena auf die Nachricht hinwies, die „eine gute Bekannte von Herrn Rohloff“ ihr mitgegeben hatte, änderte sich der Gesichtsausdruck der Frau und sie sprach daraufhin ein paar Worte in ein an der Wand befestigtes Telefon. Lena wartete und sah sich um. Der Zuschauerraum war fast voll, und auch an der Bar gab es inzwischen keinen freien Platz mehr. Als ein Gong ertönte, erstarb jedes Gespräch im Raum und das Licht wurde noch einen Tick dunkler. Das Fuß-Getrappel, Hüsteln und Flüstern erstarb schlagartig, als der Vorhang der Bühne zurückgeschlagen wurde und eine sehr große, muskulöse und dabei auch sehr schlanke Frau heraustrat. Sie sah sich kurz im Raum um, und Lena verspürte ein Kribbeln, das sie nicht so ganz einordnen konnte. War sie neugierig, aufgeregt, abgestoßen? Die Frau auf der Bühne stellte sich vor.
„Ich bin Lady Linda und werde Ihnen heute Abend zusammen mit meinem Sklaven eine Show präsentieren.“
Nach diesen Worten öffnete sich der Vorhang ganz. Die Bühne war schwarz, Lena konnte lediglich einen großen Spiegel zwischen zwei hohen Säulen erkennen. Langsam schälte sich aus dem Dunkel die Gestalt eines Mannes, der komplett nackt war und lediglich eine der Gesichtsmasken trug, die sie am Nachmittag bereits bei Romina gesehen hatte. Das schwarze Latex bedeckte den gesamten Kopf, ließ lediglich Augen und Nase frei. Gerade als die Frau auf der Bühne ihren Sklaven mit ein paar gezielten Schlägen ihrer Peitsche in die gewünschte Position vor den Spiegel dirigierte, trat ein Mann neben Lena.
„Mögen Sie Bondage?“, fragte er leise.
Sie wandte den Kopf. Er war groß und ein kleines bisschen zu schwer gebaut, das weiße Hemd spannte leicht an den Hüften. Dunkles Haar, an den Schläfen grau meliert, war glatt nach hinten gekämmt und fiel weich in den Nacken. Schwere Lider gaben dem Blick seiner dunkelbraunen Augen etwas Melancholisches. Doch Lena ließ sich nicht täuschen, sein Blick war hellwach und zeugte von scharfer Intelligenz. Als sie ihm schweigend das Streichholzbriefchen reichte und ihn dabei leicht berührte, spürte sie ein heftiges Kribbeln. Es war, als ob ihre Fingerspitzen in eine unsichtbare Energiequelle eintauchten. Sie zog ihre Hand erschrocken zurück. Auch er schien etwas bemerkt zu haben, in seinen Augen mischte sich Interesse mit Erstaunen.
Er nickte, als er die Nachricht entziffert hatte, und bat sie mit einer Handbewegung, ihm zu folgen. Ein letzter Blick auf die Bühne offenbarte Lena, dass die Domina gerade begann, die Arme ihres Sklaven mit einem weißen Seil auf den Rücken zu binden.
„Die gute Sonja, wie geht es ihr?“
Das Büro, in das er sie geführt hatte, war geräumig und warm. Ein großer Schreibtisch aus dunklem Holz dominierte die Einrichtung. Darauf befanden sich neben den üblichen Utensilien wie Stiften, Locher und Ablagekörben stapelweise Unterlagen, eine kleine Geldkassette, eine Sportzeitschrift und zwei Bilderrahmen, von
denen Lena nur die Rückseite sah. Dahinter ein gut eingesessen wirkender Bürostuhl aus schwarzem Leder. Rundum, an drei Wänden, waren Schränke eingelassen, deren Schiebetüren allesamt geschlossen waren. An die rechte Wand gerückt befand sich eine lederne Couchgarnitur, dazwischen ein halbhoher Tisch mit einer massiven polierten Steinplatte. Darauf standen eine geöffnete Flasche Whisky und ein halb volles Glas. An der Wand dahinter hing ein künstlerisches Schwarz-Weiß-Foto in Postergröße, ein modernes Pin-up einer sehr hübsch aussehenden schwarzhaarigen Frau in einem engen, glänzenden Outfit, das wegen seiner Eleganz kurz Lenas Interesse fand.
Gerd Rohloff bemerkte es. „Dita von Teese. Mögen Sie sie?“
„Ich kenne sie nicht, aber das Foto ist gut, sie ist sehr fotogen.“
„Sie hat ihre Karriere auch als Fetischmodell begonnen. Heute ist sie ein Star.“
„Sonja lässt Sie grüßen.“ Lena nahm, auf seine Handbewegung hin, auf der Besucherseite des Schreibtischs Platz, während er sich in seinen Sessel dahinter fallen ließ. Hinter ihnen öffnete sich fast lautlos die Tür und ein junger Mann kam herein, um vor Lena ein Glas Wein abzustellen. Mit einem kurzen Lächeln bedankte sie sich für diese Aufmerksamkeit, und dabei trafen sich ihre und Gerd Rohloffs Blicke für einen Moment.
„Wie kann ich Ihnen helfen?“ Er schob ein paar Unterlagen zur Seite und stützte sich mit den Unterarmen auf den frei gewordenen Platz. Dabei beugte er sich weit nach vorne, und Lena nahm überrascht den schweren männlichen Duft seines Körpers war, der sich mit „Fahrenheit“ von Dior mischte, einem Parfüm, das sie mochte.
„Ich suche diese Frau.“
Er betrachtete das Bild, das sie ihm zuschob.
„Sie nannte sich Bambi. War ab und zu hier. Die letzten Wochen
nicht.“ Er lehnte sich wieder zurück, verschränkte die Hände vor dem Bauch und schaute sie abwartend an.
„Haben Sie eine Ahnung, wo sie sein könnte?“
Amüsiert zog er die Augenbrauen hoch. „Sie war Gast hier, hat manchmal bei Sessions performed. Aber näher kenne ich sie nicht, und das übliche Verhältnis zu meinen Gästen schließt nicht ein, mich um ihr Privatleben zu kümmern.“
Einen Moment lang maßen sie sich stumm. Lena fühlte sich unsicher und nervös.
„Sie sind doch kein Bulle? Das würde mir Sonja doch nicht antun?“
Lena lachte kurz auf. „Ganz und gar nicht. Ich bin eine alte Freundin von Sonja und suche die junge Frau nur, weil ihre Familie sich Sorgen macht.
„Warum genau suchen Sie sie?“
Sie erklärte es ihm so gestrafft wie möglich und er nickte bei einigen ihrer Ausführungen.
„Gut. Sie haben ja vorhin gesehen, was für ein Repertoire wir haben. Die junge Frau, nach der Sie fragen, war gelegentlich hier. Meistens kam sie in Begleitung, und ich nehme an, das waren Kunden einer Agentur.“
Als Lena nachfragen wollte, unterbrach er sie sofort.
„Wenn Sie jetzt wissen wollen, woher ich das weiß – Instinkt. Paare, die sich kennen, verhalten sich anders.“
Lena nickte und er fuhr fort.
„Manchmal kamen sie, um hier ein Spiel zu spielen. Also das, was Leute aus der BDSM-Szene miteinander machen, nennt man so. Spiel oder Session. Ein paar Mal kam sie auch alleine. Bei den letzten
Besuchen war anscheinend ihr Partner an ihrer Seite. Jemand, zu dem sie offensichtlich eine nähere Beziehung hatte.“
Das war die Frage gewesen, die Lena noch im Kopf herumspukte. Es gab also jemanden!
„Sie hat hier mit ihm auf der Bühne gestanden?“
„Nein. Das nicht.“ Rohloff sah sie prüfend an, und sie fühlte sich an eine seltene Echsenart erinnert, deren Augen völlig unbeweglich sind.
„Was dann? Ich verstehe es nicht.“
„Sie hätte natürlich auf die Bühne hier gekonnt. Denn wir bieten ausdrücklich auch erfahrenen Amateuren die Möglichkeit, sich hier zu einer Show anzumelden. Auch wenn Sie vielleicht noch nicht den Zugang zu dieser Welt haben – es gibt mehr Menschen, die es wollen, als solche, die es können. Für die Show oben, im allgemeinen Raum, müssen die Protagonisten bestimmte Voraussetzungen erfüllen, die ich in jedem Einzelfall prüfe. Und Kunden von Escort-Agenturen, die nur einmalige abendliche Ausflüge buchen, bringen diese Voraussetzungen nicht mit.“
„Haben Sie nicht gerade gesagt, auch Sabrina – so heißt die Frau, die sich hier Bambi nannte – habe bei diesen Shows mitgemacht?“
Wieder schaute er sie lange an. „Es gibt hier noch eine zweite Möglichkeit, allerlei unartige Dinge zu tun. Möchten Sie sie sehen?“
Lena schüttelte beklommen den Kopf. Irgendetwas sagte ihr, es sei besser, bald zu gehen. Doch eine fast genauso laute innere Stimme behauptete genau das Gegenteil. Und etwas befahl ihr, sitzen zu bleiben.
„Dann werde ich es Ihnen erklären. Im Keller dieses Clubs befinden sich sogenannte Spielräume. Die Zugangsvoraussetzungen sind reglementierter als oben. Nach unten gelangt zum Beispiel auch nur,
wer in Begleitung kommt. Ein großer Raum ist, so ähnlich wie hier, öffentlichen Sessions vorbehalten. Weitere kleinere Räume können mit einem Vorhang geschlossen werden. Oder auch nicht. Wer den Vorhang offen lässt, signalisiert, dass Zuschauer erlaubt sind. Ist der Vorhang geschlossen, gilt unser Ehrenkodex. Keiner wird auch nur einen Blick hineinwerfen, egal, was sich dahinter abspielt.“
Lenas Kehle war trocken geworden. Sie nahm schnell einen tiefen Schluck von ihrem Wein und versuchte, das Gehörte zu verstehen.
„Wenn jemand Zuschauer möchte, dann ist doch die Bühne da. Warum in den Keller gehen?“
Er nickte, als könne er ihren Einwand gut verstehen. „Auf die Bühne hier oben kommen nur Leute, die ich persönlich gecheckt habe. Die machen Sachen, die geil sind, aber nicht wirklich hart. Eher etwas für SM-Touristen oder Gäste, die einfach ein Bier mit ein bisschen Quälerei dabei trinken wollen.“
Ein schwaches Lächeln huschte über seine Lippen.
„Und im Keller?“ Lena drehte das Weinglas zwischen ihren Fingern hin und her.
„Im Keller macht jeder, was er will. Es gibt keine Auflagen von unserer Seite. Und das bedeutet, da geht es wesentlich härter zu als hier oben.“
„Sabrina war also im Keller mit ihrem Begleiter?“
„Yepp! Unter ihrem Tarnnamen hat sie sich anfangs auch mit wechselnden Begleitern im Keller vergnügt. Wenn Sie mich fragen, nichts wirklich Hartes. Vielleicht ein bisschen Streckbank oder Spanking, also auspeitschen. Sie war nicht schmerzgeil, sondern wollte sich unterwerfen. Auf eine so intensive Art und Weise, wie es bei einem One-Night-Stand nicht geht. Die Kleine ist richtig aufgeblüht, als sie ihren Traummann gefunden hatte! Konnte die Augen nicht von ihm lassen und ist vor Devotion fast zerflossen.“ Er
lächelte fast liebevoll bei diesen Worten.
„Der hat nur mit dem Finger geschnippt, und sie hat vor ihm auf den Knien gelegen. Mit strahlenden Augen, ein echtes Erlebnis, selbst für mich.“
„Wie sah der Mann aus?“
„Gut. Selten, dass ich das von einem anderen Mann sage. Markantes Gesicht, schlank, extrem dominantes Verhalten. Kam auch nicht mehr wieder.“
Lena versuchte, das Gehörte erst einmal zu verdauen und zu sortieren. Es dauerte eine Weile, bis sie merkte, dass Gerhard Rohloffs Nähe sie daran hinderte. Irritiert blickte sie auf und sah sich erneut seinem intensiven Blick ausgesetzt.
„Danke für Ihre Unterstützung.“ Mit diesen Worten stand sie auf, auch er erhob sich, den Blick unverwandt auf sie gerichtet. Langsam kam er um den Schreibtisch herum. Lena, die vermutete, er würde sie nun aus dem Büro geleiten, wartete, und als er plötzlich direkt vor ihr stand, trat sie hastig zwei Schritte zurück, stolperte über eines der Stuhlbeine und wäre beinahe gefallen, wenn Gerhard Rohloff nicht nach ihrem Arm gegriffen hätte.
Einen Moment lang verharrten sie stumm in dieser Position, bis Rohloff sich abrupt umdrehte, um ihr die Tür zu öffnen.
„Falls der Mann noch einmal kommt oder Sabrina oder beide – würden Sie mich dann bitte anrufen?“ Lena spürte, wie sie bei diesen Worten rot wurde.
„Ich würde Sie auch so anrufen, wenn ich das Gefühl hätte, Sie würden einer Einladung zum Abendessen folgen.“ Lächelnd nahm er die Karte aus ihrer Hand, sorgfältig darauf bedacht, sie dieses Mal nicht zu berühren. Danach öffnete er die Tür ein Stück weiter und sie stakste hinaus. Es war ziemlich genau fünfzehn Jahre her, als sie sich das letzte Mal so verunsichert gefühlt hatte. Bevor sie das Lokal
verließ, drehte sie sich noch einmal um. Gerd Rohloff stand noch in der offenen Tür zu seinem Büro und sah ihr nach. Es war zu dunkel, um es genau zu sehen. Aber Lena hätte schwören können, dass sein Blick sehr ernst und ein wenig traurig war.
***
„Gerd ist einfach ein Schatz. Ich wusste, er würde mit dir reden. Normalerweise schweigt er eisern, was seine Gäste betrifft.“ Sonjas Stimme klang trotz der späten Stunde sehr wach und konzentriert. Kein Wunder, denn sie arbeitete ja stets weit in die Nacht hinein. Die beiden Frauen hatten bereits den Besuch bei Romina rekapituliert und waren nun bei Lenas Besuch im Club angelangt.
„Dabei hat deine Notiz mir sehr genutzt“, meinte Lena, die beim Gedanken an den Clubbesitzer noch immer eine irritierend anregende Gänsehaut verspürte.
„Wenn du ihm nicht sympathisch gewesen wärst, hätte er trotzdem nichts gesagt. Glaub mir, der Mann ist daran gewöhnt, Dinge für sich zu behalten!“ Sie lachte leise auf bei diesen Worten.
„Wart ihr … ein Paar?“
Am anderen Ende herrschte eine kurze Weile Schweigen und Lena fürchtete schon, etwas Dummes gefragt zu haben.
Sonja seufzte lang und tief. „Ja und nein. Sagen wir mal so, wir haben es vor zwei Jahren mal kurzzeitig versucht, dabei sind wir bessere Freunde als Lover. Aber frag mich mal, ob ich es in diesem Fall nicht bedauert habe! Wenn mir einer hätte gefährlich werden können, dann er. Wenn er jemanden liebt, tut er alles für diese Frau. Ich jedenfalls kenne keinen Mann, der ehrlicher und loyaler ist als er.“
„Hat er … ist er …“, Lena geriet schon wieder ins Stottern und verfluchte ihre Unsicherheit. Wie konnte es denn sein, dass ein Wildfremder sie so verunsicherte? Dazu noch ein Mann?
„Liiert? Glaube ich nicht. Vielleicht hat er eine kleine Liebschaft laufen – so nennt er Affären –, wirklich gebunden ist er sicher nicht. Seit dem Tod seiner Frau vor ein paar Jahren trauert er. Würde mich wundern, wenn er sich neu verliebt hätte.“ Sonja stutzte nach diesen Worten. „Lena, wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich denken, du bist an ihm interessiert!“
„Er hat mich mehr beeindruckt als jeder andere Mann, den ich kenne.“
Einige Sekunden lang schwiegen beide Frauen.
„Was heißt das denn?“ Sonjas Neugier war geweckt.
„Sicher nicht, dass ich mich Hals über Kopf verliebt habe. Dennoch – er ist anziehend.“
„Da hast du allerdings recht.“
Lena fuhr schnell fort, ihr zu versichern, es gebe gar keinen Grund, sich Gedanken zu machen.
„Lena, falls du irgendwann auf heterosexuellen Pfaden wandeln willst, könntest du an keinen Besseren geraten. In jeder Beziehung! Und noch eines – meinetwegen mach dir keine Gedanken. Die Sache mit Gerd ist lange vorbei. Wir beide sind uns noch immer freundschaftlich verbunden, auch wenn wir uns höchstens einmal im Jahr über den Weg laufen. Also – falls du dich verknallst und er sich auch, dann tue einfach, wonach dir ist!“
Lena spürte ein Zucken in der Magengegend bei diesen Worten. Schon allein die Tatsache, darüber zu reden war schier unglaublich. Die Vorstellung, einen Mann auf diese Art anziehend zu finden, beunruhigte sie aufs Heftigste!