Kapitel 20
D a kommt ja die Kollegin!“ In Norbert Müllers Stimme schwang so etwas wie Genugtuung über ihre Verspätung mit, als Lena ziemlich abgehetzt um viertel nach acht das Büro betrat. Vor ihrem Schreibtisch saß Gisela Krohn, auf dem Schoß ein Kleinkind und neben ihr stand Samantha, die an diesem Tag keine Mütze trug und noch ziemlich verschlafen aussah. So wie die Mutter auch, die im Gegensatz zum Vortag eher schlampig zurechtgemacht war. Norbert schaute ostentativ auf seine Armbanduhr, bevor er mit einem übertrieben kollegialen Grundton fortfuhr: „Ich habe der Dame schon einen Kaffee gebracht, um ihr die Wartezeit zu verkürzen.“
Andrea Geissler verdrehte an ihrem Schreibtisch im Hintergrund die Augen und tippte sich dezent an die Stirn. Lena unterdrückte ein Grinsen.
„Danke, Norbert. Sehr nett von dir. Stell ihn doch bitte in das Beratungszimmer eins.“ Dann fuhr sie, Norberts empörte Miene ignorierend, zu ihrer Besucherin gewandt fort: „Dann wollten wir mal, Frau Krohn!“ Lena schnappte sich die Akte von ihrem Schreibtisch und forderte die Frau mit einer Handbewegung auf, ihr in einen der verglasten Beratungsräume im hinteren Teil des Containers zu folgen.
Als Norbert das Besprechungszimmer verlassen hatte, schloss sie die Tür mit Nachdruck hinter ihm. Einen Moment lang blieb der Teamleiter vor dem Raum noch stehen und sah durch die Glasscheibe zu ihr herein, seine empörte Miene sprach Bände, doch Lena ignorierte ihn mit stoischer Gelassenheit. Seine Unverschämtheit im Beisein einer Klientin konnte sie ihm einfach so nicht durchgehen lassen! Teamleiter hin oder her.
„Magst du einen Orangensaft?“, fragte sie Samantha.
Die blickte zunächst unsicher zu ihrer Mutter und, als diese ihre Tochter ignorierte und ungerührt von ihrem Kaffee trank, nickte das Kind vorsichtig. Während Lena eine Packung Saft von einem Beistelltischchen nahm und Samantha ein Glas davon einschenkte, blickte deren Mutter mit düsterem Gesicht um sich.
„Was soll ich jetzt hier? Ich habe Besseres zu tun“, maulte Gisela Krohn, kaum, dass Lena sich wieder gesetzt hatte.
„Frau Krohn, lassen Sie uns Klartext reden. Ihre Tochter Samantha“, Lena nickte zu dem verschüchterten Mädchen hinüber, das gerade durstig trank, „war bereits einmal in einer Pflegefamilie, aus Gründen, die Ihnen bekannt sein dürften!“ Die Frau schwieg und blickte böse auf ihr Gegenüber.
„Nun finde ich Ihre Tochter bei meinem gestrigen Hausbesuch mutterseelenalleine vor. Wie mir scheint, waren Sie längere Zeit abwesend.“
Lenas Blick wanderte zu den kunstvoll gestalteten Nägeln der Frau. Gisela Krohn zog es vor zu schweigen. Das Kind auf ihrem Arm bewegte sich leise, was bei ihr jedoch keine Reaktion auslöste. Etwas begann Lena zu irritieren, doch sie konnte es nicht greifen.
„Unseren Fallmanagern gegenüber gaben Sie an, aufgrund der Betreuung Ihrer Kinder nicht arbeiten zu können. Nun frage ich mich, wo gestern Ihre Tochter Jennifer war?“
„Geht Sie das etwas an?“, giftete die Frau plötzlich.
„Ja, das tut es. Jedenfalls wenn sich herausstellt, dass Sie uns falsche Angaben gemacht haben.“
Samantha hatte ihr Glas leer getrunken und stellte es vorsichtig auf den Tisch, den Blick konzentriert auf Lena gerichtet. Die überkam eine seltsame Rührung beim Anblick des kleinen Mädchens, das so bemüht war, alles richtig zu machen.
„Falsche Angaben? Was soll das heißen?“ Die Stimmung lud sich immer mehr auf.
Lena öffnete die Akte und las ein Dokument, als sähe sie es zum ersten Mal. „Uns liegt eine anonyme Anzeige gegen Sie vor.“
In der folgenden Stille hätte man die sprichwörtliche Stecknadel fallen hören können. Gisela Krohn fand erst nach einigen Sekunden ihre Sprache wieder.
„Was für eine Anzeige? Was soll der Scheiß? Wollen Sie mich hier verar…“
„Frau Krohn, bitte, ich rede ja gerade mit Ihnen darüber, um die Sache zu klären. Kein Grund, sich aufzuregen.“
Lena unterstrich ihre eigenen Worte mit einer beschwichtigenden Geste. „Gehen Sie irgendeiner Tätigkeit nach, von der wir nichts wissen?“
„Nein!“ Die Antwort kam zu schnell und klang zu trotzig, um überzeugend zu wirken.
„Haben Sie denn eine Erklärung, warum sie jemand bei uns anschwärzen will?“
Gisela Krohns Augen wurden schmal, dann sprang die Frau auf und schleuderte Lena eine Flut von Beschimpfungen an den Kopf. Die blieb äußerlich gelassen sitzen und bat die Frau ruhig, wieder Platz zu nehmen. Gerade, als es schien, Gisela Krohn würde dieser Aufforderung folgen, stürmte Norbert Müller in den Besprechungsraum. Es schien fast so, als habe er die ganze Zeit vor der verschlossenen Tür gelauert!
„Was ist passiert?“, fragte er mit eindeutig scheinheilig betroffener Miene. Interessanterweise stellte er nicht Lena diese Frage, sondern Frau Krohn.
„Diese … diese Person hat mich beleidigt. Nur weil ich Geld vom Staat bekomme, muss ich mir noch lange nicht alles bieten lassen!“
„Nun, das lässt sich doch sicher regeln. Ich bin der Teamleiter hier …“, weiter kam Norbert mit seiner Salbaderei nicht.
„Ich gehe zum Anwalt. Sie hören von mir!“ Mit diesen Worten stürmte Gisela Krohn auf den Gang hinaus und an den offenstehenden Bürotüren der Teammitglieder vorbei, die ihr verdutzt nachsahen. Lena lehnte sich mit verschränkten Armen zurück und beobachtete die Tür, während Norbert hilflos mitten im Raum stand. Gisela Krohn hatte ihn seines Konzepts beraubt, indem sie ihn durch ihren Abgang um seine geplante Beschwichtigungsaktion gebracht hatte.
„Warum bleibst du so ruhig sitzen, willst du sie nicht zurückholen?“, fragte er mit offener Anschuldigung in der Stimme. Lena hob die Brauen bei dieser unprofessionellen Wichtigtuerei, blieb aber gelassen. „Die kommt schon von alleine wieder.“
„Woher willst du das wissen?“
„Deswegen!“ Ihr Blick lenkte seine Aufmerksamkeit auf einen Punkt hinter seinem Rücken. Als er sich umdrehte, sah er ein Mädchen, das erschrocken und verunsichert zu der Tür sah, durch die seine Mutter gerade verschwunden war. Gisela Krohn hatte bei ihrem eiligen Abgang einfach ihre Tochter Samantha vergessen!
***
„Was für eine Anzeige war das denn?“
Andrea Geissler biss mit großem Appetit in ihren Apfel. Es war zehn Uhr und Gisela Krohn war nach dem ersten, verunglückten Gespräch tatsächlich wieder aufgetaucht. Wenngleich sich die Frau immer noch relativ verstockt und widerwillig verhielt, gelang es Lena dieses Mal, ein etwas ergiebigeres Gespräch mit ihr zu führen, das sie nun protokollierte und mit ihren Randnotizen versah.
„Sie gehe auf den Strich, sei so gut wie nie zu Hause anzutreffen, vernachlässige ihre Kinder.“
„Was sich bei deinem ersten Besuch ja auch prompt zu bestätigen schien.“
„Das Seltsame daran ist aber, dass Frau Krohn nicht einmal gefragt hat, was in der Anzeige steht. Würdest du das nicht wissen wollen?“
Andrea schaute nachdenklich zum Fenster hinaus. „Wenn man mich zu Unrecht beschuldigt, wäre ich ahnungslos und würde es schon wissen wollen. Aber wenn nicht, ginge ich wohl davon aus, es steht genau das in der Anzeige, was ich auch mache.“
„Eben! Das wirkt, als ob sie genau wisse, was man ihr anhängt, und deshalb gar nicht auf die Idee kommt, zu fragen.“
„Was ist denn mit dem Mann?“ Andrea betrachtete interessiert ihren Apfelbutzen und entschied, noch ein paar kleine Bissen davon abzunagen, bevor sie den kläglichen Rest im Papierkorb versenkte.
„Macht Gelegenheitsjobs. Mal einen Tag, mal eine Woche. Ist einer von den Klienten, die tatsächlich etwas tun, um aus ihrer Misere herauszukommen. Hat nichts gelernt und immer irgendwo gejobbt, ist sich für nichts zu schade. Passt eigentlich gar nicht zu seiner Frau, was das betrifft.“
„Das haben wir ja öfter. Vermutlich wurde sie schwanger, er hat Verantwortungsgefühl bewiesen und hat sich, im Gegensatz zu vielen anderen seiner Geschlechtsgenossen, nicht aus dem Staub gemacht, sondern die Frau geheiratet.“
„Könnte sein, das jüngste Kind ist ein Jahr alt.“
„Dann ist sie diejenige, die bei uns bereits viele Jahre aktenkundig ist?“
„Ja. Ein hartes Kaliber. Hat mich gestern als Beamtenschnalle beschimpft.“
„Hey, hast du ihr nicht gesagt, dass du lediglich Angestellte im öffentlichen Dienst bist?“
Beide lachten amüsiert auf, aber Lena ließ der Gedanke an Samantha nicht los. „Stürmt hier raus und vergisst ihr eigenes Kind!“
„Tja, aber das Fremde nimmt sie mit!“, erwiderte Andrea.
Lena dachte im ersten Moment, sie habe sich verhört. „Was meinst du damit? Welches fremde Kind?“
„Na, die Kleine auf ihrem Arm. Das ist Veronica, die Tochter der Klawuns. Die hat doch ein kleines Feuermal neben dem rechten Ohr. Die Familie habe ich früher in meinem Sachgebiet bearbeitet. Mit denen hatte ich viel zu tun. Hat mich eh gewundert, warum diese Frau Krohn die Kleine dabeihatte. Vielleicht ist sie ja mit der Kindsmutter befreundet. Obwohl das auch nicht so ganz passt. Die Klawun ist ganz in Ordnung, ein bisschen einfach gestrickt, aber sie bemüht sich, ist keine von der renitenten Sorte.“
In diesem Moment wurde Lena klar, was sie vorher so irritiert hatte. Der Umgang Gisela Krohns mit dem Kind! Sie hatte sich überhaupt nicht mit der Kleinen abgegeben. Das zeugte weder von mütterlichen Gefühlen noch von großer Vertrautheit.
„Moment. Die Frau kommt hierher, lässt mich in dem Glauben, das Kind sei ihr eigenes, und dabei gehört es zu einer ganz anderen Familie?“
„Scheint so. Aber hat sie dir denn gesagt, es sei ihre eigene Tochter?“
Lena überlegte. „Wenn ich es mir recht überlege, hat sie gar nichts gesagt. Aber was würdest du glauben, wenn eine zweifache Mutter gebeten wird, ihre Kinder mitzubringen. Sie hier auch mit zwei Kindern aufkreuzt. Natürlich nahm ich an, es ist Jennifer, Samanthas Schwester.“
Die beiden Kolleginnen schwiegen. Andrea schaute stirnrunzelnd vor sich hin, Lena hatte sich in ihrem Stuhl weit zurückgelehnt und spielte nervös mit einem Bleistift.
„Warum macht sie das? Und vor allem, wer kümmert sich denn heute um Jennifer?“
„Tja, wie es aussieht, musst du baldigst wieder dorthin. Oder zu den Klawuns, obwohl die nicht zu unseren Kunden im Querschnittsteam gehören. Die sind alle ganz pflegeleicht.“
„Ja, das habe ich gemerkt, die Kleine hat nicht einmal gemuckt.“