Kapitel 24
D
as durchdringende Klingeln des Weckers riss Lena aus einem unruhigen und wenig entspannten Schlaf. Es war neun Uhr morgens, und sie realisierte erst nach einigen Minuten im Dämmerschlaf, dass sie kurzfristig für diesen Freitag freigenommen hatte. Um einige Dinge zu erledigen, die ihrer Meinung nach wichtiger waren als Schreibtischarbeit oder Klientenbesuche. Schwankend stolperte sie ins Bad, um eine halbe Stunde später frisch geduscht und einigermaßen wach in der Küche einen Kaffee zu brauen, bevor sie sich auf den Weg zu Samantha machte.
„Darf ich zu ihr?“
Lena überreichte einer gestresst aussehenden jungen Ärztin ihre Karte. Wie gut, dass es sich noch um die alte Visitenkarte handelte, mit der Bezeichnung Jugendamt darauf. Darunter konnten sich die Leute – im Gegensatz zu einem Querschnittsteam – wenigstens etwas vorstellen.
„Sie haben die Kleine einliefern lassen?“ Die Ärztin fuhr sich mit einer müden Handbewegung über die Stirn. Lena nickte.
„Wie geht es ihr denn?“
„Sie ist unterernährt, dehydriert, hat eine schwere Mittelohrentzündung, aber die Antibiotika schlagen gut an. Das Fieber ist schon wieder runter. Ihr Gesamtzustand und die Krankheit alleine können aber nicht die alleinigen Auslöser für den Zusammenbruch sein.“
„Ich weiß, sie hat gestern zudem einen Schock erlitten, da kam wohl eines zum anderen.“
„Mir ist dennoch schleierhaft, wie man ein Kind in diesem Zustand in die Kälte hinausschicken kann. Das Mädchen hätte ins Bett gehört“, murmelte die Ärztin und nickte Lena zu.
„Gehen Sie ruhig zu ihr, sie wird sich freuen. Von der Familie war noch niemand da.“
Lena biss sich auf die Lippen. Von den Geschehnissen in Dietzenbach würde sie der Ärztin besser nichts erzählen.
Samantha Krohn lag in einem schlecht riechenden Zimmer mit drei anderen kleinen Patientinnen zusammen und lächelte schwach, als sie Lena erkannte. Die hatte auf dem Weg ins Krankenhaus Orangensaft, Bananen und Schokokekse gekauft, die sie nun auf Samanthas Nachtschränkchen deponierte.
„Wie geht es dir?“, wollte sie wissen.
„Wo ist meine Mama?“, fragte Samantha stattdessen ängstlich, ohne auf die Frage einzugehen. Lena fühlte sich nicht wohl bei dem Gedanken, dem Mädchen womöglich bald die Wahrheit sagen zu müssen. Wie erklärt man einem Kind, dass die eigene Mutter unter dem Verdacht der Kindstötung verhaftet wurde? Lena hatte keine Ahnung, ob auch Samanthas Stiefvater in die Sache verwickelt war. Wenn ja, würde auch er nicht so bald am Krankenbett seiner Stieftochter erscheinen. Sie entschloss sich zu einer Notlüge.
„Sie kommen bald, aber vorher müssen sie noch ganz viele Fragen beim Sozialamt beantworten.“
Das Mädchen verstummte und blickte auf seine ruhig auf der Bettdecke liegenden Hände. Kleine, ein wenig schrumpelige Hände mit abgekauten Nägeln. Lena musste aufstehen und ein paar Schritte vom Bett weggehen, weil allein der Anblick dieses geduldigen kleinen Mädchens in ihr heftige Regungen auslöste. Am liebsten hätte sie Samantha mitgenommen und ihr einen Tag lang all das Glück und die
Freude geschenkt, die dieses Mädchen vermutlich bisher nicht kennengelernt hatte.
Sie atmete tief durch, ging dann zurück und setzte sich wieder neben das Bett.
„Samantha, du hast gestern von drei Jungs mit Handys gesprochen. Kannst du mir sagen, wie die aussehen?“ Ihre Stimme klang betont sachlich um das Mädchen nicht schon wieder aufzuregen. Dennoch schimmerten sofort Tränen in deren Augen. Stockend berichtete die Kleine, wer die Drei waren, und wo sie wohnten. Lena holte ihren Notizblock heraus und schrieb alles mit.
„Also – die zwei Jungs vom Balkon gegenüber und ein dritter, den du nicht kennst?“
Samantha nickte, die Lippen krampfhaft geschlossen, doch die bebenden Mundwinkel verrieten ihren Schmerz.
„Und diese Drei haben den kleinen Hund totgemacht?“ Lena redete so leise wie möglich, um die anderen Kinder im Zimmer nicht zu beunruhigen.
Wieder nickte Samantha, die Mundwinkel bebten heftiger.
„Woher kannten sie dich denn eigentlich und wussten von dir und dem Hund?“
Samantha starrte sie nun voller Angst an. Lena lächelte beruhigend und nahm eine der kleinen Hände. Sie lag warm und vertrauensvoll in ihrer und in Lenas Innerem schien ein Band zu reißen. Etwas, das viel zu lange angespannt war. Sie schluckte heftig an einem Gefühl, das ihr nicht geheuer war.
„Ich will dir helfen, aber du musst mir auch alles sagen, ja?“, bat sie stattdessen.
Das Mädchen blickte an die Decke, so, als sähe sie dort oben etwas,
das anderen Menschen verborgen war. Erst nach einer ganzen Weile begann sie, stockend zu sprechen. Lena schrieb anfangs mit, doch ab einem bestimmten Punkt ließ sie ihren Block sinken und lauschte fassungslos den gemurmelten Worten. In ihren Gedanken fügten sich auf einmal alle Mosaiksteinchen aneinander und bildeten ein Szenario des wahren Grauens.
***
Sie hätte warten müssen auf die Polizei. Oder direkt dorthin gehen sollen. Sie wusste es. Aber Lena war wütend. So wütend wie selten in ihrem Leben. Auf einmal verstand sie es, wenn Leute davon sprachen, jemanden schlagen zu können! Selbstverständlich würde sie die Schuldigen ausliefern, aber zuerst wollte sie diese Ungeheuer vor sich sehen, zumindest einen kurzen Moment lang das Gefühl haben, einem von ihnen oder besser sogar noch allen, Schmerzen zufügen zu können. Die Art von Schmerzen, die sie anderen zufügten, ohne darüber nachzudenken. Die Art von Schmerzen, die sie der kleinen Samantha zugefügt hatten.
Als Lena aus dem Krankenhaus kam, war sie fast blind vor Wut. Und sie war es noch, als sie in der Ausbildungswerkstatt in Dietzenbach ankam. Dort wurden junge Menschen ohne Schulabschluss fit für eine Ausbildung gemacht. Ein freier Bildungsträger erhielt öffentliche Gelder und beschäftigte Dozenten und Sozialarbeiter, die mit Unterricht und Unterstützung bei Bewerbungen und Behördengängen fachliche und soziale Kompetenzen förderten. Das Ziel war ein Hauptschulabschluss und – wenn es gut lief – ein Praktikum oder ein Ausbildungsplatz. Die Chance nutzten leider nur circa fünfzig Prozent der Klienten, der Rest ging andere Wege, die sich nicht selten zu einem späteren Zeitpunkt wieder mit denen der betreuenden Behörden kreuzten.
Die Schüler befanden sich gerade in einer Pause. Eine Horde junger Menschen hielt sich im Innenhof des Gebäudes auf. Lena erkannte Yusuf Aygün sofort. Die charakteristische Frisur, das laute, machohafte Gehabe und eine Traube von Freunden, die sich gerade um ihn versammelt hatten, machten es ihr leicht. Mit schnellen Schritten eilte sie über den Hof und riss dem völlig überrumpelten jungen Mann das Handy aus der Hand, mit dem er gerade die Runde seiner Gefolgsleute amüsierte. Ein Blick genügte ihr, um zu wissen, dass das, was sich darauf befand, in jedem Falle die Konfiszierung des Mobiltelefons berechtigte. Was sie dann auch einem erschrocken herbeieilenden Sozialarbeiter nachdrücklich erklärte!
„Yusuf Aygün hat, zusammen mit zwei seiner Kumpels, einen kleinen Hund zu Tode gequält und das Ganze mit seinem Handy gefilmt. Diesen Film hat er dann einer Fünfjährigen, die verzweifelt genau diesen Hund, ihren Spielgefährten, suchte, vorgeführt. Dieses Kind ließen er und seine zwei Spießgesellen einfach in der Kälte auf einem Spielplatz liegen, als sie durch diese brutale Vorführung einen Schock erlitt und zusammenbrach.“
Lena legte eine Pause ein, um ihre Worte wirken zu lassen. Die Dozenten und Sozialarbeiter der Ausbildungswerkstatt schauten sie teils unangenehm berührt, teils entsetzt an. Sie befanden sich in einem engen, völlig vollgestopften Raum, der den Mitarbeitern des Projekts als Büro diente. Durch die großen Glasscheiben konnten sie Yusuf im Kreise einiger seiner Kumpanen sitzen sehen. Er hatte sein großspuriges Gehabe noch nicht abgelegt, blickte jedoch häufig nervös zu ihnen herüber.
„Aber – das Schlimmste kommt erst noch. Dieses Handy“, sie hielt das von Yusuf konfiszierte Mobiltelefon hoch, „zeigt noch weitaus abscheulichere Dinge. Wir haben hier nach dem Film mit dem Hund eine Massenvergewaltigung, gefilmt in einem Keller, vermutlich irgendwo hier in der Siedlung und begangen an einer jungen Frau, die es zu identifizieren gilt. Und vorher eine Sequenz aus einem
Snuff-Film. Mehr habe ich mir nicht angesehen! Wer weiß, auf wie vielen Mobiltelefonen sich diese Filmchen inzwischen schon befinden.“
Es war kein Geheimnis, dass mit solchen Sachen ein reger Handel betrieben wurde. Je ekliger, desto teurer.
Sie knallte das Handy auf den Tisch vor ihr und fast im selben Moment öffnete sich die Tür und die beiden Polizeibeamten, die sie bereits in den Büros des Querschnittsteams kennengelernt hatte, traten ein.
„Gut, dass Sie da sind“, sagte Lena leise zu der Polizistin. „Das hier ist starker Tobak. Aber das kleine Mädchen im Krankenhaus wird Ihnen noch ein paar Dinge erzählen, die es Ihnen erleichtern werden, die unbekannte Leiche zu identifizieren! Wo Sie mich finden, wissen Sie ja.“
Mit diesen Worten drehte sie sich um und ging hinaus, mit dem dringenden Bedürfnis nach frischer Luft!
***
„Es ist so unglaublich!“
Lena sprach ins Telefon, Karin hörte zu. „Samantha hat vor ein paar Wochen eine tote Frau in dem ganzen Unrat gefunden, der nach dem Abriss der illegalen Hütten dort herumlag. Genauer gesagt, hat sie lediglich eine Hand herausragen sehen. Weil ihre Mutter ihr ständig eingeschärft hat, mit der Polizei rede man unter keinen Umständen, wendet sich die Kleine an die einzigen Leute, die sie außer ihren Eltern noch kennt, weil sie sie häufig auf dem Balkon im Wohnblock gegenüber sieht. Die Gebrüder Aygün, einer davon ist in einem unserer Programme in der Ausbildungswerkstatt, der andere noch
keine dreizehn. Die wiederum bringen ihren Freund Benjamin mit, und diese drei Teenager eignen sich die Leiche der jungen Frau an.“
„Das ist ja entsetzlich, warum haben die das gemacht?“ Karins Stimme war es deutlich anzumerken, wie ekelhaft sie das Szenario fand.
„Wenn ich dir das erzähle, flippst du aus!“
Es war schon für Lena schwer zu verstehen gewesen. Tatsächlich hatten die drei Jugendlichen die Leiche ausgebuddelt, in einen alten Teppich gewickelt und dann in einen unbenutzten Kellerraum in einem der Häuser gebracht. Die Erklärung für all das habe sich auf den Handys der Jugendlichen gefunden. Neben den schon bekannten Filmchen gab es auch noch ein paar, die sehr deutlich die Abtrennung verschiedener Gliedmaßen sowie noch einige andere unappetitliche Dinge zeigten. So stolz waren die Drei auf ihre vermeintlichen Heldentaten, dass sie die Fotos und Videos auch rege an andere Smartphonenutzer geschickt und dafür sogar kassiert hatten. Alle drei Jugendlichen waren gut darauf zu erkennen.
„Die haben die Leiche als ein gutes Geschäft betrachtet. Ohne die geringste Pietät oder ein wie auch immer geartetes Unrechtsbewusstsein. Das, was von der Frau danach noch übrig war, haben sie im Wald vergraben, wo die Leiche kürzlich gefunden wurde.“
„Hat die Kleine davon gewusst?“
„Samantha hat lediglich beobachtet, wie sie die Leiche aus dem Gerümpel gezogen haben. Aber das Mädchen hätte nicht einmal gewusst, wem sie es hätte anvertrauen sollen. Und nachdem sie auf dem Video die Qualen ihres einzigen Spielkameraden mit ansehen musste, war ihre kleine Kinderseele derart überfordert, dass sie zusammengebrochen ist und mir schließlich alles erzählt hat.“
Karin schwieg eine lange Weile. „Ich würde dich jetzt gerne in den Arm nehmen“, murmelte sie dann. Lena spürte ihre Zuneigung zu
der Freundin wie eine warme Flamme im Bauch. Karin war so einfühlsam, und gerade jetzt, nach einem solchen Tag, tat ihr das mehr als gut.
„Kannst du ja. Heute Abend!“
„Du willst trotzdem ausgehen?“ Karins Stimme klang ungläubig.
„Glaub mir, das ist die beste Therapie. Ich bin so fertig, ich brauche etwas, das mich total raushaut aus dieser Stimmung, zumindest eine Zeit lang. Laute Musik, die in den Ohren dröhnt und dazu richtig abhotten!“
„Gut, dann um neun. Früher ist ja eh nichts los und später kriegt man keinen Barhocker mehr!“
Lena legte auf und dehnte ihren schmerzenden Rücken. Auch dem täte mehr Bewegung gut. Oder eine Sonderschicht Yoga! Doch dafür fühlte Lena sich zu unruhig. Alles, was sie heute gesehen hatte, hätte alleine schon ausgereicht, dass sich einem der Magen umdrehte. Die Jugendlichen befanden sich nun in sicherem Gewahrsam der Polizei. Die Ermittlungen liefen auf Hochtouren, um den Verbleib von Kopf und Fingern der unbekannten Toten zu klären, damit die Leiche endlich identifiziert werden konnte. Der Gedanke, dass es sich bei der Unbekannten um Sabrina handeln könnte, ließ Lena erschaudern.
***
Das „Nachtleben“ in der Frankfurter Innenstadt war mal wieder gut besucht. In der Nähe des Lokals hatten sich verschiedene Gruppen von Leuten gebildet, wobei einige dieser Ansammlungen dem regen Austausch betäubender oder anregender Substanzen dienten. Nicht ganz ungefährlich in Anbetracht der hohen Dichte von
Gesetzeshütern, die sich abends gerne in der direkten Umgebung der nahe gelegenen Konstablerwache aufhielten.
„Hey!“, rief jemand, als Lena sich dem Eingang des Lokals näherte. Zuerst erkannte sie die Ruferin nicht. Es war Oksana. Heute trug sie ihr Haar offen – lange und beeindruckend dichte Dreadlocks ergossen sich über den schmalen Rücken der jungen Frau bis fast zum Po. Die dünnen Beine umspannte dieses Mal eine schmale schwarze Lederhose. Darüber hatte sie zwei in undefinierbaren dunklen Farben schimmernde Pullover übereinander gezogen. Ihr schmales Gesicht wirkte harmlos und freundlich, auch als Karin, die gerade aus der nahen U-Bahn-Station herbeieilte, nun zu Lena trat. Lena erwiderte den Gruß der jungen Frau mit einer Handbewegung und nickte in Richtung des Eingangs.
„Willst du auch hinein?“
Oksana grinste. „Nö, ich verkaufe nur ein bisschen was an die Nachtschwärmer. Braucht ihr was?“
Lena dachte an den eindeutigen Geruch, der damals aus der Wohnung der jungen Frau gedrungen war, und verneinte.
„Schade, aber wenn ihr es euch anders überlegt …“, ihr auffordernder Blick schloss Karin mit ein.
Oksana wandte sich bereits zum Gehen, als sie sich noch einmal zu Lena umdrehte.
„Ach – da war übrigens jemand in Sabrinas Wohnung!“
Lena, die auf dem Weg in das Kellerlokal war, blickte überrascht auf.
„Mann oder Frau?“
„Eine Frau, eindeutig. So eine große, mit langen schwarzen Haaren. Asiatin.“ Oksana nickte, wie zur Bestätigung ihrer eigenen Worte.
„Ach so, ja, die war mit mir zusammen dort.“ Lena hob dankend die
Hand, schon wieder halb abgewandt.
„Nee, die, die ich meine, war alleine da. Ich habe sie nämlich zufällig kommen sehen. Am Sonntag, nachmittags. Sie kam und hat die Tür aufgeschlossen. Mit einem eigenen Schlüssel.“
„Was?“ Während Karin ihr bedeutete, sie ginge schon vor, trat Lena nun mit verdutztem Gesichtsausdruck näher an Oksana heran.
„Sie hatte einen Schlüssel. Hat aufgeschlossen, ist hineingegangen. Und erst ungefähr zwei Stunden später wieder gegangen!“
„Und du hast wohl zufällig die ganze Zeit hinter der Tür gestanden?“ Lenas Mund war trocken und ihre Worte klangen dumpf.
„Natürlich nicht. Es kam jemand zu Besuch. Und als ich dem die Tür öffnete, muss sie gerade gegangen sein. Er fragte mich nämlich, ob bei uns eine Asiatin neu eingezogen sei, weil er ihr auf dem Gang begegnet ist.“
Lena griff sich in einer etwas hilflosen Geste an den Kopf.
„Du bist sicher, dass sie alleine kam?“
Oksana nickte, mit großen, wachen Augen. „Absolut!“
Lena wollte sie schon fragen, ob sie womöglich an diesem Nachmittag ein bisschen zu viel ihrer eigenen Waren oder vielleicht wieder etwas Hochprozentiges oder womöglich beides zusammen intus gehabt hatte. Doch das wäre wohl unverschämt gewesen. Immerhin war Oksana wirklich freundlich und hatte sich daran erinnert, Lena Bescheid zu sagen. Dann gab es ja auch noch die Sache mit dem Schlüssel. Auf einmal wusste sie, dass Oksana die Wahrheit sagte. Tamae hatte am vergangenen Sonntag den Schlüssel zu Sabrina Marx’ Wohnung an sich genommen, um noch einmal alleine dorthin fahren zu können. Bei ihrem darauffolgenden Besuch bei Lena hatte sie den Schlüssel klammheimlich wieder zurückgebracht. Um ein Haar wäre das alles auch gar nicht aufgefallen. Die große
Frage war, warum hatte Tamae das getan?
***
In dem Kellerlokal war es wie üblich ziemlich voll und warm. Die Musik so laut, dass man kaum sein eigenes Wort verstehen konnte. Karin hatte es sich bereits an der Bar gemütlich gemacht, es war ihr Lieblingsplatz in dieser Disco. Ihr fragender Blick blieb an Lena hängen, die ihr bedeutete, sie würde ihr später erzählen, woher sie Oksana kannte. Eigentlich war sie heute hergekommen, um sich den Frust über alles, was mit Samantha zusammenhing, von der Seele zu tanzen, doch als sie kurz darauf auf der Tanzfläche stand, die gerade unter den satten, groovigen Bässen von Massive Attack vibrierte, stellte sie verärgert fest, wie wenig das Abschalten an diesem Abend funktionierte. Trotzig versuchte sie es weiter, schloss die Augen, nur um wieder ein kleines Mädchen vor sich zu sehen, die Dingen ausgesetzt war, die kein Mensch und schon gar kein Kind erleben sollte. Es war nicht das erste Mal, dass Lena mit erschütternden Verhältnissen konfrontiert war. Wer als Sozialarbeiterin in einem Ballungsgebiet wie Rhein-Main arbeitete, musste hart im Nehmen sein, egal wo man eingesetzt wurde. Das Jugendamt war da keine Ausnahme, vielmehr bedeutete es, immer auch Fürsprecher der Schwächsten dieser Gesellschaft zu sein. Und in Anbetracht der Dinge, die sie bereits gesehen hatte, war die Geschichte mit Samantha eigentlich harmlos. Wenn man so ein Wort im Zusammenhang mit Lieblosigkeit und Vernachlässigung überhaupt gebrauchen durfte. Doch Samantha war einfach mehr als ein Fall für sie geworden. Sie hatte heute schon wiederholt darüber nachgedacht, warum gerade bei diesem Kind ihr eigener Schutzschild so durchlässig war. Professionelle Distanz in ihrem Beruf bedeutete normalerweise auch, solche Gefühle nie zu nahe an sich heranzulassen.
Es kotzt mich an, immer so distanziert zu sein, dachte sie in einer
plötzlichen Gefühlsaufwallung. Maja schoss ihr durch den Kopf. Die Konfrontation mit ihren immer noch heftigen Gefühlen der ersten Geliebten ihres Lebens gegenüber hätte sie ebenfalls fast aus der Bahn geworfen.
Es kommt alles zusammen, dachte sie. Und jetzt auch noch Tamae, die irgendetwas vor ihr verbarg. Lenas Augen suchten Karin, die keine Lust zum Tanzen verspürte und noch immer an der Bar saß, völlig zufrieden damit, Lena und die anderen Leute um sie herum zu beobachten. Auch an ihr war Lena eine Veränderung aufgefallen. Es lag in ihrem Blick, der etwas Vorsichtiges bekommen hatte. Es musste mit dem Abend zu tun haben, als sie ihr von ihrem Besuch im „Kinky-Club“ und den verstörenden Gefühlen in der Nähe von Gerd Rohloff erzählt hatte. Dennoch würde sie für Karin jederzeit die Hand ins Feuer legen. Sollte sie verunsichert sein über Lenas ungewöhnliche Gefühle einem Mann gegenüber, so ließ sie es sich zumindest nicht bewusst anmerken.
Auf einmal schoss Lena ein Gedanke durch den Kopf. Jeder Mensch lebt in seiner eigenen Hölle, hatte sie irgendwann einmal gelesen. Sie wusste nicht genau, von wem dieser Spruch stammte. Doch dass er ihr ausgerechnet jetzt einfiel, war sicherlich kein Zufall. Was wusste sie eigentlich von den Menschen, die ihr nahestanden? Tamae war ihr in vielerlei Hinsicht schon immer ein Rätsel, dennoch schmerzte Lena der offensichtliche Betrug, den die Freundin mit dem Entwenden des Wohnungsschlüssels an ihr begangen hatte. Karin hörte ihr zu, doch was ging in ihr vor, wenn Lena von Dingen aus dunklen Parallelwelten erzählte, die sie nicht mehr nachvollziehen konnte? Sonja kannte sie am längsten von allen Freundinnen in Frankfurt. Dennoch war das, was die ehemalige Studienkollegin ihr über sich und ihre Profession und auch ihre eigenen sexuellen Vorlieben erzählt hatte, unbekannt und neu gewesen. Erschrocken erkannte Lena in diesem Moment, auf einer dunklen, überfüllten Tanzfläche, dicht an dicht im Gedränge mit fremden, zum Rhythmus der Musik tanzenden Leibern, wie weit entfernt sie im Grunde ihres Herzens von den Menschen war, die ihr nahestanden. Mit diesem Gedanken wurde ihr schlagartig auch klar, dass sie jedoch genau das
immer gewollt hatte. Seit der verunglückten Liebe zu Maja hatte sie nie mehr jemanden wirklich an sich herangelassen. War zufrieden mit Beziehungen, die ein bestimmtes Stadium nicht verlassen würden. Denn weder Tamae noch Karin würden Lena je in die Situation bringen, über eine feste Beziehung nachdenken zu müssen!
***
Es war kurz nach Mitternacht, als Karin und Lena aufbrachen. Der Laden war inzwischen mehr als rappelvoll, und vor dem Eingang hatte sich eine lange Schlange gebildet. Jeder Abgang wurde mit freudigem Gejohle begrüßt, weil dann endlich wieder Leute eingelassen wurden. Lena dröhnten die Ohren, sie presste beide Hände fest dagegen um den Druck zu lindern.
„Kommst du noch mit zu mir?“, bat sie Karin, die schwach lächelnd zusagte.
„Muss dann aber irgendwann heim.“
Lena drückte ihr fest die Hand, bevor sie in die S-Bahn-Station hinunterstiegen.
„Wer war jetzt eigentlich die junge Frau?“, brachte Karin das Gespräch wieder auf die Begegnung mit Oksana, und Lena erklärte es ihr so kurz wie möglich.
„Die Frau, die sie beschrieben hat, kann nur Tamae gewesen sein.“
Karin wirkte grüblerisch, als Lena die Geschichte mit dem Schlüssel erzählte. „Wenn Tamae noch einmal in der Wohnung war, kann das ja nur bedeuten, dass sie und Sabrina sich kannten. Oder dass sie dort etwas gesehen hat, was sie in Ruhe noch einmal ansehen wollte. Was anderes fällt mir dazu nicht ein.“
Die Bahn fuhr ein und die beiden Frauen suchten sich in einem weitgehend leeren Waggon zwei Plätze, die so weit wie möglich von den anderen Fahrgästen entfernt waren.
Ruckelnd fuhr der Zug an. Lena rekapitulierte die letzten Tage. „Auffällig war auf jeden Fall ihr Interesse an dem Foto von Sabrina. Allerdings erwähnte sie mit keinem Wort, ob sie sie kannte oder nicht. Natürlich habe ich Letzteres angenommen. Auf jeden Fall muss ich Tamae direkt fragen. Das geht gar nicht, dass sie mich beschwindelt und ich merke es und sage nichts!“
„Da gebe ich dir recht. Nach allem, was du mir über sie erzählt hast, wird sie vermutlich zuklappen wie eine Auster, aber ansprechen musst du es.“
Lena lachte unfroh auf. Karins Vergleich mit einer Auster war sicherlich nicht verkehrt. Viel schlimmer war die Erkenntnis, wie wenig sie tun konnte, sollte es wirklich so sein.
***
Wenn Karin in Lenas Armen lag, konnte sie die Augen schließen und die ganze Welt blieb draußen. Es gab nichts und niemanden, der sie aus dieser ekstatischen Versenkung herausholen konnte. Manchmal, wenn sie zusammen geschlafen hatten, erlebte Karin eine Art Katzenjammer, verbunden mit schlechtem Gewissen Albrecht gegenüber. Oder auch Lena gegenüber, wenn sie dachte, sie gebe auch ihr nicht genug. In dieser Nacht war Lena ganz besonders weich und hingebungsvoll, ging zärtlich auf ihre Geliebte ein und Karins Gefühle schwappten über. Während die beiden Frauen einander mit sanften Bewegungen liebkosten, ihre erhitzte Haut spürten und sich gegenseitig mal zärtliche, mal anzügliche Dinge ins Ohr flüsterten, überkam Karin ein immenser Drang, Lena zu verzeihen. Das Wort jedenfalls spukte in ihrem Kopf herum, ohne Verbindung zu
irgendwelchen konkreten Dingen aufzunehmen, die es zu verzeihen galt! Lena war ihr gegenüber jederzeit aufrichtig, davon war Karin überzeugt. Irgendwann begriff Karin in ihrer sich steigernden Erregung, dass es ihr selbst auch gar nicht um etwas Konkretes ging, sie sich vielmehr an dem Gefühl einer immer stärker werdenden Durchlässigkeit und Hingabe labte. Die auch einschloss, alles, was Lena eventuell tun könnte, als gegeben hinzunehmen, auch wenn es für sie selbst nicht nachvollziehbar sein sollte. Ein Gefühl, das dem Gefühl des bedingungslosen Verzeihens ziemlich nahekam und das sie daher auch nicht anders benennen konnte. Sie wollte Lena glücklich machen, denn Lena machte sie glücklich. Bedingungslos. Kurz, bevor sie den gefühlsmäßigen Gipfel der Lust erreichte, der körperliche würde in kurzem Abstand folgen, wie sie sehr wohl wusste, beschloss Karin also, Lena alles zu gönnen. Auch, wenn es die Affäre mit einem Mann sein sollte.
„Ich liebe dich“, flüsterte sie heiser in Lenas Ohr. Und noch nie zuvor hatte sie es derartig ernst gemeint.